Einen Rekordversuch über die meisten Höhenmeter in 24 Stunden unternahm Kai Saaler im Sommer 2019 – verbunden mit dem Ziel, damit auf die Krankheit Multiple Sklerose aufmerksam zu machen. Hier berichtet er selbst über das Unternehmen, das er zwar auf einem MTB ausführte, aber damit zeitweise auch auf Kurs für den Rennrad-Höhenmeter-Rekord lag.
„Such mal einen Bike-Rekord raus und dann werd ich den schon brechen!“ Wie ich es hasse, wenn ich in meinen Bierlaunen mal wieder den Mund zu voll nehme. Zusammen mit meinem Freund Andi hatte ich mich aber im Laufe des Abends immer weiter in das Thema verrannt. Andi war stocknüchtern, während ich (so wie immer) das 12h-Rennen am kommenden Tag nicht so ernst nahm und ordentlich weiter pichelte.
Die Idee
Naja, es war eigentlich kein Rennen, sondern eine Benefizaktion für an Multipler Sklerose-Erkrankte. Andi ist selbst an MS erkrankt und zusammen überlegten wir, wie man Multiple Sklerose besser in die Öffentlichkeit bringen könnte. Mit dem Rad einfach nur 24 Stunden, ist dabei aber natürlich nicht zielführend. Interessiert doch dann sowieso keinen. „Kai, es muss ein Guinnessbuchrekord sein!“, schlug Andi vor. Einige Wochen nach der Benefizaktion rief Andi aus München an und teilte mir aufgeregt mit, dass es einen 24h-Höhenmeterrekord von 18.304 m gab. „Das packst du!“, schrie Andi pausenlos in den Hörer. Langsam dämmerte mir, was ich mir da eingebrockt hatte. Nach einem Wortgefecht willigte ich schließlich ein und das Projekt Guinness nahm seinen Lauf.
Die Vorgeschichte spielte sich im Sommer 2018 ab. Man sollte nun denken, dass noch genügend Zeit war, um den Rekord für 2019 in Angriff zu nehmen. Aber so einfach, wie ich mir solche Sachen immer vorstelle, war es leider nicht. An dieser Stelle muss ich das ganze Prozedere wirklich abkürzen, da es jeden Rahmen sprengen würde. Es war ein Mega-Aufwand!
Die Vorbereitung
Zunächst nahm ich Kontakt mit dem aktuellen Rekordhalter Slim Gam-Drid auf, traf mich mit ihm, warnte ihn darüber vor, was ich vorhatte, erklärte ihm alle Hintergründe. Das Ziel war nicht, seinen Rekord zu brechen, sondern einzig und allein Aufmerksamkeit für MS zu generieren, um Spenden zu sammeln. Er teilte mir mit, dass er auch versucht hatte, seinen Rekord beim Guinnessbuch anzumelden, der aber als Mountainbike-Rekord nicht zugelassen wurde. Ich habe es dann mit allerlei Mühen dennoch geschafft, mein Vorhaben anzumelden. Doch dann fing der große Aufwand erst so richtig an. Ich habe zunächst einen eigenen Verein gründet, um die späteren Spenden besser verwalten zu können. Nach der Gründung von KS-Endurance e. V. machte ich mich daran, Sponsoren zu suchen, da ich aus der Sache ein richtiges Event machen wollte. Mein Bike (Bj. 2014) wurde das nächste Projekt. Zusammen mit meinen Ausrüstern habe ich eine echte Bergziege zusammengestellt.
Für das Event konnte ich zwei örtliche Vereine gewinnen, welche die Bewirtung übernahmen. Als die Sache in die Presse gelangte, überschlugen sich die Ereignisse. Bands meldeten sich, welche für den guten Zweck auftreten wollten. Ich organisierte ein Zelt für 1000 Personen, eine Bühne und einen Container mit Küchenzeile. Das Event fand mitten im Wald statt, da ich eine Strecke mit moderater Steigung, aber ohne Kurven benötigte. Denn bergab konnte ich die meiste Zeit sparen. Das Event sollte aber natürlich nicht nur Spenden generieren, sondern MS-Erkrankte sollten es ebenfalls besuchen können. Wir organisierten also einen Fahrdienst und Dixiklos für Rollstuhlfahrer. Die Sache wurde immer größer und größer und es war klar, dass das vereinbarte Stromaggregat der Feuerwehr nicht ausreichen würde. Zum Glück gab auch noch das THW ?. Das ganze Event musste dann natürlich nur noch beim Förster, der Stadt, dem Landratsamt und dem Landesforstamt Baden-Württemberg angemeldet werden. Dazu Beschilderungsgenehmigungen, Ausschankgenehmigungen, GEMA und die Genehmigung für Drohnenflug. Würste, Steaks, Brot, Kuchen, Bier, Wein, Schnaps, einfach ALLES haben wir gespendet bekommen, um die gesamten Einnahmen für MS-Erkrankte spenden zu können. Naja, außer der GEMA-Gebühren natürlich.
Neben dem ganzen Organisieren musste ich mich allerdings auch auf den Rekordversuch vorbereiten. Bei 24h-Rennen ist es aber leider mit einer Tour zur Eisdiele nicht getan. Meinen Trainingsplan der letzten Jahre habe ich grundlegend überarbeitet und alles zielgerichtet auf dieses Projekt ausgelegt. Dazu Leistungstests im Labor, Bikefitting und je näher der Tag X kam, natürlich auch einen Ernährungsplan. Ich habe sogar meine eigenen Sprossenkeimlinge gezüchtet. Zusammen mit ultraSPORTS haben wir die Wettkampfernährung auf mich abgestimmt und zwei Monate vor dem Event am der 24h-Rennen am Alfsee getestet. Ich habe jede Kleinigkeit in Frage gestellt und gemäß meiner Erfahrungen der letzten Jahre optimiert. Ich bin kein Profi, sondern mache das wirklich nur als Hobby, aber der Aufwand war enorm und der Stoff würde locker für ein Buch reichen. Soweit die Vorgeschichte in „Kürze“.
Das Rennen
Dann war es irgendwann soweit. Der Abend vor dem Rennen. Nachdem ich bis spätabends immer noch voll in den Vorbereitungen gesteckt hatte, musste ich versuchen, von dem Stresslevel runterzukommen, um für das große Vorhaben bereit zu sein. Seit Monaten hatte ich keinen Alkohol mehr getrunken, aber nun genoss ich eine halbe Flasche Rotwein. Wenn man länger nicht getrunken hat, knallt es natürlich sofort. Der Vorteil war dann aber, dass ich schlafen konnte wie ein Baby. Der Tag X war Mittwoch, der 19.6.2019, 15:00 Uhr. Der Donnerstag danach war Feiertag und der längste Tag des Jahres. Trotz eines normalen Arbeitstages hatten wir am Renntag sehr viele Helfer und ich konnte mich auf meine eigenen Vorbereitungen konzentrieren. Um 13 Uhr klingelte allerdings mein Handy und André, unser Pressekoordinator, teilte mir mit, dass die ersten Pressevertreter schon nach mir verlangten. Als ich 20 Minuten später beim Event-Ort eintraf, gab ich bis 10 Minuten vor dem Start Interviews und es wimmelte schon mittags von Zuschauern. Erst jetzt realisierte ich, was ich mir da eingebrockt hatte. Ich bin nur ein normaler Typ, der gerne Rad fährt; der Trubel um mich war mir dann doch etwas zu viel. Die letzten Minuten vor dem Start verflogen und ich wollte einfach nur aufs Bike. Nichts mehr organisieren und keine Interviews. Einfach nur mein Bike und ich!
Ich stellte mein Vorderrad auf den unteren Messpunkt der Strecke und versuchte, alles um mich herum zu vergessen. Der laute Countdown der Zuschauer riss mich allerdings aus meinem Tagtraum.
Die Zuschauer begannen rhythmisch zu klatschen und ich musste eigentlich dringend Pipi. Ich versuchte cool zu wirken, aber das klappte nicht wirklich.
„… Drei, zwei, eins, looooooos!“
Das Startsignal zu meinem Martyrium! Mit dem rechten Fuß stieß ich mich vom Boden ab und das sollte dann auch der letzte Bodenkontakt für die nächsten Stunden gewesen sein. In die Rennradpedale einklicken, Wiegetritt und ordentlich Druck auf das Pedal. Ich nahm richtig Fahrt auf und blickte hinunter auf den Wattmesser: 600 Watt! Das war kein XC-Rennen, also triggerte ich zwei Gänge zurück und setzte mich in den Stuhl. Ok, das war schon gediegener, aber die Anzeige stand immer noch auf 350 Watt. Ich wollte eigentlich weiter Gewicht vom Pedal nehmen, aber irgendwie funktionierte das nicht. Der Weg schlängelte sich in leichten Kurven den Anstieg hinauf bis zum Zuschauerpunkt 1. Dann wurde der Weg steiler und führte am Zuschauerpunkt 2 vorbei in eine engere Kurvenkombination.
Ich bog links in einen weiteren Waldweg ab, der mit 12 % Steigung und 3 mm Schotter etwas schwieriger zu fahren war. Nach weiteren ca. 100 m hatten wir das Pavillon zur Verpflegung aufgestellt, da ich in der anschließenden Abfahrt besser verdauen konnte. Große Teile der Strecke waren ohne Schatten und ich wurde bei 32 °C absolut gegrillt. Der Vater meiner Freundin positionierte sich am heißesten Abschnitt, um mir in jeder Runde eine Flasche Wasser zum Kühlen zu reichen. Jedes Mal, wenn ich am oberen Wendepunkt angelangt war, war ich allerdings wieder trocken. Nach zwei gefahrenen Stunden strampelte ich immer noch mit 330 Watt den 122,87-Höhenmeter-Anstieg hinauf. Die Kommandobrücke im Kopf gab unermüdlich den Befehl in den Maschinenraum, das Tempo zu drosseln, aber es schien, als wäre die Verbindung zu den Beinen abgebrochen. Langsam hatte ich bergab eine Ideallinie und der Tacho zeigte Geschwindigkeiten von über 70 km/h an. Ich hatte eine Prototypenbremse aus dem Hause Trickstuff an meiner Maschine montiert und nahm meine Aufgabe, das Teil einem echten Härtetest zu unterziehen, wirklich ernst.
In jeder Runde warf ich den Anker und wurde von 70 km/h innerhalb weniger Meter auf fast Stillstand runtergebremst. Durch die mittlerweile ausgefahrene Ideallinie war nun der Bremseinsatz in den langgezogenen Kurven im unteren Teil nicht mehr nötig und ich konnte mit Topspeed heizen. Aber wehe, man trifft die Ideallinie nicht! Dann wird es wirklich brenzlig. Ich konnte mir nie vorstellen, dass in der Formel 1 nach Verlassen der Ideallinie die Boliden aus der Kurve rutschen. Aber es war tatsächlich so, man hatte einfach keinen Grip mehr! Mein Dad war nach 3 Stunden an der Strecke und rief mir bei einer Bergauffahrt zu, dass ich es im Downhill nicht übertreiben solle. In der darauffolgenden Abfahrt drosselte ich das Tempo etwas, war deshalb aber nicht mehr im Flow und traf die Ideallinie nicht richtig. Ich kam ordentlich ins Schlingern und konnte nur mit viel Glück das Bike noch abfangen, um nicht ungebremst in der Botanik zu verschwinden. Hinter mir hörte ich ein Raunen der Zuschauer und das Adrenalin kribbelte im ganzen Körper. Nach 4 Stunden hatte ich auch bergauf meinen Rhythmus gefunden und kurbelte mit etwas mehr als 300 Watt den Anstieg hoch. Naja, das hatte zwar immer noch nichts mit einer lockeren Eisdielen-Tour zu tun, aber es war wenigstens ein Schritt in die richtige Richtung.
Es wurde Abend, so langsam sanken auch die Temperaturen und das Kühlwasser war nun nicht mehr nötig. „Du siehst gut aus,“ hörte ich eine Zuschauerin bei einer meiner Auffahrten schreien. Es war nun 19:00 Uhr, eine Band spielte Livemusik auf der Bühne, am Bierstand war gut was los, im Zelt aßen viele Leute und die Zuschauer an der Strecke selbst wurden auch immer mehr. Toll, dass wirklich viele Leute gekommen waren und uns unterstützten! Was ich zu diesem Zeitpunkt allerdings nicht wusste war, dass wir nach ca. zwei Stunden schon kein Bier mehr hatten – wir wurden regelrecht überrannt. Es wurden daraufhin alle umliegenden Supermärkte angefahren, um weiteres Bier zu kaufen. Die Würstchen, Steaks und die Kuchen, welche wir für beide Tage eingeplant hatten, waren schon nach vier Stunden aufgebraucht. Mit solch einem Ansturm hatten wir wirklich nicht gerechnet.
Immerhin war ich die einzige Person, die auf der Strecke fuhr … Aber was hinter den Kulissen abging, war einfach phänomenal. Über die Nacht hatte eine Metzgerei Würste organisiert und extra für uns Steaks zubereitet. Eine örtliche Bäckerei backte extra für uns Brot und Brötchen. Zuschauer haben die Nacht über Kuchen gebacken und uns diese am nächsten Tag gespendet, so dass wir wieder 60 Kuchen verkaufen konnten. Das Event hatte eine mega Wirkung auf die Leute, der Zusammenhalt war einfach unglaublich und es entstand innerhalb dieser 24 Stunden eine wahre Euphorie. Da soll mal einer sagen, dass sich in der heutigen Zeit jeder nur noch auf sich selbst konzentriert. Hier war genau das Gegenteil der Fall. Diese Magie spürte natürlich auch ich am ganzen Leib. Allerdings war meine Essensauswahl relativ überschaubar. Unseren Berechnungen zu Folge verbrannte ich 1 g Kohlenhydrate pro Kilogramm Körpergewicht in der Stunde. Bei meinen 63kg Körpergewicht sollte ich also 63 g Kohlenhydrate in einer Stunde konsumieren. Anders als viele andere Ultraspezialisten kann ich mich nicht ausschließlich flüssig ernähren, sondern brauche ab und an etwas Festes zwischen den Zähnen. Wir rechneten also für jede Stunde ein Gel oder einen Riegel mit ein. Aus den letzten Jahren wussten wir, dass ich ca. 18.000 kcal verbrenne, das sind immerhin mehr als 36 Big Macs. Da der Platz mitten im Wald etwas begrenzt war, bin ich dieses mal sogar durch unser Verpflegungszelt hindurchgefahren. Unnötige Stopps wurden so vermieden und ich konnte mich voll aufs Fahren konzentrieren.
Nach sechs gefahrenen Stunden war ein Viertel der Zeit geschafft, aber viel früher als sonst üblich waren meine Füße schon eingeschlafen. Da bergauf permanent Druck auf dem Pedal war und auch im Downhill während der rasanten Kurvenfahrten keine Möglichkeit zur Entspannung war, trat dieses Phänomen wohl deutlich früher auf als zunächst erwartet. Mittlerweile war mein Betreuerteam schon perfekt abgestimmt, so dass jeder genau wusste, was wann zu tun war. Pünktlich um 21 Uhr hielt ich also an und übergab mein Bike an den Dad meiner Freundin. Das Bike wurde gecheckt, die Kette „gesquirtet“ und alle drehbaren Teile kurzerhand mit Nähmaschinenöl benetzt. Ich setzte mich in einen bereitgestellten Stuhl, bekam sofort eine Schüssel mit Milchreis gereicht und ein Red Bull wurde mir in die Hand gedrückt. Zuvor zog ich Helm und Brille aus, da diese durch die Nachtausstattung ausgetauscht wurde.
Brille ohne Tönung und der Nachthelm mit vormontierter Lupine Piko. Ich saß noch nicht mal richtig, da wurden mir schon die Schuhe geöffnet und von meinen beiden Physiotherapeutinnen Kristin und Tabea ausgezogen. Schwups waren auch schon die Socken aus und meine Füße wurden massiert. Gelächter und Getuschel machte sich hinter mir bei den Zuschauern breit. Ich schaufelte einen großen Löffel Milchreis in die Futterluke, fing an zu kauen und spülte die Pampe mit einem Schluck Red Bull runter. Derweil versorgten mich meine Schwester Eva und meine Freundin Tamy mit den nötigen Infos wie Rundenzeiten, aktueller Höhenmeterstand, dann wurde die weitere Strategie besprochen. Alles Dinge, für die ich während des Fahrens keine Zeit hatte. Durch die schnellen Anfangsstunden waren wir gut vor dem Target und auf 24h-Rennrad-Guinnessbuchrekord-Kurs. Nach drei Minuten wurden mir die Socken angezogen, ich schnürte die Carbon-Treter wieder an die Hufen, schwang mich auf mein Carbon-Ross und ritt Richtung Sonnenuntergang.
Meine Wattwerte pendelten sich mittlerweile zwischen 280-290 Watt ein, aber ich merkte doch, dass das immer noch kein richtiges Wohlfühltempo war. Es warteten auf mich noch ca. 17 Stunden Belastung und es dämmerte mir, dass es wohl schmerzhaft werden würde. Dann: Schockschwerenot! Kurz bevor ich die Stirnlampe anknipsen wollte, lief, während ich auf der Abfahrt hinunterdonnerte, ein Dachs aus dem Gebüsch. Sofort war er neben mir auf der Höhe zwischen meinem Vorder- und Hinterrad. Das Adrenalin strömte augenblicklich wie ein Ruck durch meinen Körper und ließ die Situation wie in Zeitlupe erscheinen. Ich sah den Pelz aus dem Dickicht schießen, versuchte noch zu bremsen, aber es half einfach nichts. Das Hinterrad schlingerte einfach nur über den staubigen Boden und ich machte mich innerlich auf einen Impact und große Schmerzen gefasst. Dem Tier erging es aber wohl ähnlich und es leitete eine sofortige Vollbremsung ein. Im Gegensatz zu mir schaffte der Dachs allerdings das fast Unmögliche. Ähnlich wie ein Leopard-II-Panzer bremste das Fellbündel auf wenigen Metern und legte augenblicklich den Rückwärtsgang ein. So schnell das Tier neben mir auftauchte, war es auch schon wieder im Gebüsch verschwunden. Das war knapp, dachte ich noch, bis ich keine 100 Meter weiter seinen Kollegen auf der Waldautobahn entdeckte. Von weitem rief ich schon und der mächtige Räuber verschwand im Wald. Das war wirklich ein spannender Auftakt für die Nacht, wobei so ein Dachs noch nicht mal das größte Tier im Südschwarzwald ist. Bei jeder Abfahrt begann ich also, wie ein Hund zu bellen, um schon von weitem auf mich aufmerksam zu machen. Ich kam mir zwar wie der letzte Depp vor, aber die Maßnahme zeigte Wirkung, denn weitere Begegnungen blieben aus.
Mittlerweile waren 10 Stunden vergangen und es war weit nach Mitternacht. Die Zuschauer an der Strecke wurden zwar weniger, aber es war immer noch eine große Party im Gange. Für mich waren die Abläufe allerdings immer gleich. Alle 8 Minuten fuhr ich den Anstieg hinauf und ich durfte höchstens 1,5 Minuten für die Abfahrt brauchen. In der Dunkelheit war dies aber wirklich ein Himmelfahrtskommando. Während eines 24h-Rennens durchlebt man immer wieder Höhen und Tiefen. Ich hatte bis zu diesem Zeitpunkt aber kein nennenswertes Tief erlebt und fühlte mich noch super. Doch das sollte sich augenblicklich ändern. Das letzte Blinzeln war komisch hell?! „Blinzeln oder Blitz?“, war nun die Frage. Aber ein Donner war nicht zu hören. Laut Wetterbericht sollte es erst Donnerstagabend gewittern. Nach kurzer Zeit war es eindeutig hell am Himmel, nur der Donner fehlte weiterhin. Es war also nur halb so schlimm, da das Gewitter wohl weit weg gewesen war. Dachte ich. Kurze Zeit später sollte sich allerdings herausstellen, dass es sich nicht nur um eines, sondern um zwei Gewitter handelte. Die beiden Gewitterzellen türmten sich wie zwei Atompilze aneinander auf. Der auffrischende Wind ließ nichts Gutes erahnen.
Bergfest
Um kurz vor 3 Uhr nachts begann ich meine letzte Auffahrt, bevor der 12h-Guinnessbuchrekord erreicht war. Ich hatte vorsichtshalber 3 Rekorde angemeldet, da ich nur einmal den Aufwand betreiben wollte. Doch genau in diesem letzten Uphill begann es zunächst leicht zu tröpfeln und dann, nach tatsächlich genau 12 Stunden auf dem Rad, richtig zu regnen. Für den 12h-Rekord stoppte ich meine Fahrt, wir markierten die genaue Position, machten den Vermerk im Protokoll und unser Bürgermeister Helmut Kima unterschrieb die Beglaubigung. Normalerweise sollte das ganze Prozedere eine Zeremonie sein, aber dafür war keine Zeit. Flux noch etwas massiert, ein paar Löffel Milchreis und nen großen Schluck Red Bull.
Weiter ging’s. Nach wenigen Metern auf dem Bike merkte ich, dass nicht nur ich komplett nass, sondern auch die Strecke in miserablem Zustand war. Vor lauter Rekord, Verpflegung und der kurzen Unterhaltung mit dem Bürgermeister hatte ich ganz vergessen, auf die beiden Gewitter zu achten. Sie waren merklich nähergekommen und ich hatte nun wirklich Angst, doch noch abbrechen zu müssen. Ich war auf dem Weg zum oberen Wendepunkt, als ein gewaltiger Blitz den Himmel aufleuchten ließ. Fünf Sekunden später folgte ein gewaltiger Donnerschlag. Bääääm, es wurde ungemütlich! Als hätte jemand während des Donners einen Schalter umgelegt, switchte das Wetter von Regen schlagartig auf Wolkenbruch. Ich war gerade am Verpflegungszelt des oberen Wendepunktes angekommen und entschloss mich, etwas Langes drüberzuziehen.
Auf der Abfahrt spritzte mir das Wasser nur so ins Gesicht. Ich war glücklich, heil am unteren Wendepunkt angekommen zu sein und bemerkte das Rinnsal, welches mir schon auf dem Weg entgegen lief. Mein Körper war bereits bis aufs Mark durchnässt, aber es war wenigstens nur etwas frisch, nicht kalt. Das Wasser prasselte auf mich nieder, während ich in der Dunkelheit wieder nach oben strampelte. Bis auf vier Zuschauer waren nun alle geflüchtet. Die Strecke hatte vor dem Gewitter sehr wenig Rollwiderstand, aber nun fühlte es sich an, als würde ich auf klebrigem Teer fahren. Der Regengott hatte sich wohl gegen mich verschworen und schickte unermüdlich Blitze gen Boden. Er wollte mich wirklich herausfordern. Ich redete mir immer wieder ein, dass er mich wohl testen wolle und ich diesem Test standhalten müsse. Da hat er sich mit dem Falschen angelegt! Nein, im Ernst. Ich hatte wirklich Schiss, da Blitz und Donner zeitweise nur 3 Sekunden auseinander lagen, aber Aufgeben gehört nicht unbedingt zu meinen Stärken. Nach einer Stunde besserte sich das Wetter und es regnete wieder normal. Zwischenzeitlich waren richtige Bäche auf der Strecke. Die Sicht war durch den Schlamm auf der Brille stark eingeschränkt und ich entschied mich dafür, ohne Brille weiterzufahren. Nun flog mir der Schmodder allerdings direkt in die Augen.
Es regnete noch eine Stunde weiter und mir wurde klar, dass es schwer werden würde, die Bestmarke von Slim Gham-Drid zu überbieten. Durch die beiden Unwetterstunden konnte ich meine Rundenzeiten nicht mehr halten, obwohl ich bergauf mit Wut im Bauch gefahren war, aber ich hatte im Downhill ordentlich bremsen müssen. Zusammengefasst habe ich einfach zu viel Energie verbraten, die ich aber nicht effektiv umsetzen konnte. Vor meinem Rekordversuch hatte ich mich natürlich über die Abläufe der Mountainbike- und Rennradbestmarken informiert. Bei allen gab es Personen, die auf der Strecke mitfuhren und zumindest mentale Unterstützung geleistet hatten. Ich wollte das aber alleine schaffen und ohne Begleitung auf der Strecke auskommen. Bei Tagesanbruch war ich dann eigentlich schon vernichtet und wir entschieden, um 6 Uhr einen zusätzlichen Stopp einzulegen, um die Beleuchtung zu demontieren, etwas Festes zu essen, aber vor allem hatte ich mir erhofft, aus dem Motivationstief herauszukommen. Leider half das alles nichts. Die Beine waren einfach nicht mehr frisch und es warteten immer noch 9 Stunden auf mich. Ein kompletter Arbeitstag.
Stunde um Stunde fanden sich wieder immer mehr Menschen an der Strecke ein, um mich anzufeuern. Die Idylle des Morgens wich also wieder einem ernsthaftem Race-Feeling. Krampfhaft versuchte ich, meinen Pace beizubehalten. Normalerweise kommen mit den ersten Sonnenstrahlen die Kräfte wieder zurück, aber aus irgendeinem Grund war genau das Gegenteil der Fall. Ich versuchte, die Situation zu analysieren, aber mit jeder weiteren Runde verschlechterte sich mein Zustand. Während eines 24h-Rennens ist man immer gezwungen zu improvisieren und ich war der festen Meinung, dass ich einfach zu viel Federn während der nassen Nacht gelassen hatte und konsumierte vermehrt Gels. Es half aber alles nichts und ich musste gezwungenermaßen das Tempo drosseln.
Bei jeder einzelnen Auffahrt war ich im Zwiespalt. Entweder wieder mehr Druck auf das Pedal legen und riskieren, dass ich mich komplett verblase oder weiter mit gedrosseltem Tempo fahren, damit ich durchhalte. Nach 18 Stunden stand dann endlich der letzte Boxenstopp an. Ich erinnerte mich wieder daran, warum ich das machte. Hier ging es nicht um mich oder den Rekord. Mir ging es darum, auf eine unheilbare Krankheit aufmerksam zu machen. Ich wollte ein Zeichen setzen! „Never give up“ soll nicht nur ein dummer Spruch sein, den jeder Honk auf Instagram oder Facebook postet. „NEVER GIVE UP!“ sollte ein echtes Statement sein.
Ich stieg also wieder auf mein Bike und machte weiter im Programm. Und tatsächlich lief es nach der Selbstmotivation wieder etwas besser, nur wirklich schnell war ich immer noch nicht. Die Werte sprachen einfach eine deutliche Sprache. Bei 270 Watt hatte ich einen Puls von 138 Schlägen pro Minute. Der Körper schaltete in den Sparmodus, um sich zu schützen. Mittlerweile waren die Wolken verflogen und die Sonne brannte wieder vom Himmel. Bis um 12 Uhr hielt ich noch halbwegs durch und konnte meine Schmerzen verbergen. Aber nun begannen richtige Krämpfe. Bei mir hat das immer was mit einem zu großen Flüssigkeitsverlust zu tun, weshalb ich bei jedem Krampfgefühl einen großen Schluck trank. Am Anfang hatte das auch noch geholfen, aber irgendwann fuhr ich vermehrt im Wiegetritt, da ich so am wenigsten Schmerzen hatte. 1,5 h vor Schluss, ca. 50 m vor dem größten Zuschauerpunkt, schoss mir dann ein sehr heftiger Krampf ins rechte Bein und lähmte es schlagartig. Ich konnte gerade noch ausklicken und einen Sturz vermeiden. Ich stieg unter Schmerzen vom Bike und dehnte mich. Als sich der Krampf gelöst hatte, nahm ich einen großen Schluck aus der Flasche und merkte, dass alle Zuschauer wie versteinert dastanden.
Es hatten natürlich alle gesehen und es war mir anzusehen, dass ich die Bestmarke von 18.304 Hm in dem Zustand nicht mehr erreichen konnte. Aber ich wollte unbedingt weitermachen und die gesamten 24h durchhalten. Ich stieg also wieder auf meinen Boliden. Sachte trat ich nach dem heftigen Krampf wieder in die Pedale und kurbelte an den Zuschauern vorbei, welche mittlerweile die Absperrung verlassen hatten. Sie feuerten mich an und eine Frau hatte sogar Tränen in den Augen. Als ich am Zuschauerspot vobeitrat, schrie die Menge so laut, dass ich fast einen Tinnitus bekam. Im weiteren Aufstieg blickte ich vom Waldweg hinunter zur Eventarea und sah, dass auch hier alles voll mit Menschen war. Der Drive dieser Veranstaltung war anscheinend nicht nur für mich emotional, sondern berührte auch das Publikum. Jede Runde bekam ich heftige Krämpfe, aber mit der Zeit hatte ich mich daran gewöhnt und versuchte, die Schmerzen zu ignorieren. Im Nachhinein kann ich nicht einmal sagen, wie ich es gemacht habe, aber ich fuhr einfach weiter. In der letzten Stunde wurde es fast unerträglich. Ich bekam Krämpfe beim Schalten in den Fingern und sogar in der Zunge beim Schlucken. Meine Füße waren taub und die Getränke bekam ich nur durch Nachschlucken runter. Noch nie in meinem Leben war ich so fertig. Der Körper wehrte sich mit aller Macht gegen jede Bewegung, aber die vielen Menschen an der Strecke halfen mir, das Ganze durchzustehen.
Das Krasse an der Sache war allerdings, dass ich im Grunde mein eigener Gegner war. Es gab keinen Fixpunkt, wie einen Berggipfel. Keinen Gegner wie in einem Rennen. Ich war allein auf der Strecke und hatte mein Schicksal selbst in der Hand. Dann plötzlich waren am unteren Wendepunkt nur noch zwei Menschen. Es war 14:58 Uhr und ich fuhr ein letztes Mal in den Anstieg. Als ich um die Kurve vor dem Zuschauerpunkt 1 bog, sah ich die Massen. Kaum hatten sie mich erblickt, flippte die Menge aus. Ich konnte es nicht glauben, was da los war und fuhr kopfschüttelnd dem Trubel entgegen. Überall waren Menschen, gelbe Westen der Reporter, mein Team, meine Familie. André, unser Pressekoordinator, versuchte, das Ganze etwas zu kontrollieren und sperrte ein 4×20 m großes Viereck um mich herum ab. Nur ein paar Kameraleute und Fotografen wuselten in meiner Nähe herum und eine Drohne kreiste über uns. Die vielen tollen Menschen um mich herum klatschten und riefen rhythmisch meinen Namen. Da stand ich nun und wusste nicht, was ich machen sollte. Wie ein Falke, der einen Schwarm Stare jagt und sich auf kein konkretes Ziel konzentrieren kann, blickte ich in die Massen. So viele Eindrücke konnte mein Gehirn nach den Strapazen einfach nicht verarbeiten.
Ich wusste mit der Situation nicht wirklich umzugehen und war einfach nur überwältigt und sprachlos. Das einzige, an das ich mich festklammerte, war mein Bike, aber das wurde mir abgenommen. Wenig später musste ich auf die Bühne, da alle hören wollten, wie es mir ginge. Ich war eigentlich platt wie ein Schnitzel, aber unerklärlicherweise waren die Schmerzen wie weggeblasen. Während ich auf der Bühne stand, maß eine Vermessungsfirma die genauen Höhenmeter nach. Kurz darauf konnten wir dann auch die Ergebnisse verkünden. In 12 Stunden waren es 9.774,19 Höhenmeter und 17.391,71 Höhenmeter innerhalb von 24 Stunden. Bis zur Hälfte war ich also noch im Soll und hätte sogar den offiziellen 24h Rennradhöhenmeter-Guinnessbuchrekord angreifen können. Kaum war ich von der Bühne gestiegen, kamen schon die ersten Kids und wollten Autogramme. Ich war also erst mal mit Unterschriften beschäftigt. Mittlerweile kann ich nachvollziehen, wie sich ein Nino Schurter nach dem Rennen fühlt, wenn man nicht entspannen kann. Aber es war natürlich auch cool zu sehen, dass die Aktion nicht nur den MS-Erkrankten Spenden in Höhe von 8.304,60 € gebracht hat. Nein, es gab auch viele Kids, die Begeisterung fürs Radfahren entwickelt haben. Ein Junge erzählte mir sogar, dass er mit Fußball aufhören wolle und stattdessen Biken will. Das war wohl das größte Kompliment, das ich für mein Event bekommen konnte!
An dieser Stelle möchte ich mich bei allen Menschen bedanken, die an mich geglaubt, mich unterstützt haben und das Event unvergesslich werden ließen. Die Rekord-Anerkennung des Guinnessbuches läuft gegenwärtig zwar noch, aber es war das größte Radevent in unserer Gegend und allein darauf bin jetzt schon stolz.
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