Puh - Jan Heine und seine Leidenschaft für breite Reifen und klassische Randonneur-artige Räder sind ja nicht unbekannt. Seine Erfahrung, die schließlich in der Übernahme der Marke René Herse mit einem Kompagnon gemündet haben und zuvor schon in der Fertigung der Compass- (jetzt halt auch René Herse) Reifen begründet ist, ist unbenommen. Alleine, solche Dinge fertigen zu lassen und auf den Markt zu bringen geht gar nicht ohne ein gerüttelt Maß an Beschäftigung mit und Wissen um die Materie.
Gerne nehme aber nicht nur ich ein gewisses Cherry Picking in Betreff auf herangezogene Zeitschriften-Artikel oder Bewertung seiner eigenen Tests wahr.
Viele Punkte in dem Artikel kann ich unterschreiben: keine flatternde Kleidung, eher schmale Lenker, Aerotucks etc. So weit bekannt, nichts ungewöhnliches und unabhängig vom Thema Gravel oder nicht.
Reifen - klar, wichtig ist zunächst einmal, dass das gewählte Modell, sein Profil, seine Dimension und der gefahrene Luftdruck auf den Untergrund bzw. das Event und die Art, wie der Fahrer es angehen will, abgestimmt sind. Erst dann kommt die Aerodynamik (die natürlich bei den vorgenannten Überlegungen mit hineinspielt). Darin inkludiert ist auch die Wahl der Karkasse - etwas, wo ja anscheinend erst die von Jan so gerne referenzierten Ted King und Co ihn die Notwendigkeit darlegen mussten, das halt René Herse Ultralight nicht immer (oder oft) die richtige Wahl ist, wenn man tatsächlich ins Ziel kommen will.
Wenn ich also zum Schluss komme, keinen 50 mm zu brauchen, sondern ein 40 mm fast schon Overkill wäre, dann kann ich alle Vorteile aus dem System, dass es zu bilden gilt, ziehen: Weniger Gummi, weniger Sealant, damit weniger Gewicht, schmalere frontal aera, Einsatzmöglichkeit eines anderen Rahmens vielleicht sogar, aerodynamischere Felgen.
Und mein größtes Problem mit dem Artikel sind die Aerofelgen. Klar, wenn ich 50 mm und größer als Non-Plus-Ultra bewerben möchte, dann muss ich mich des Themas Reifen- und Felgen-Aerodynamik irgendwie entledigen. ;-)
Wenn ich aber Gravelreifen von 35 - 45 mm fahren möchte, dann kann ich sehr wohl passende Aero-Laufräder wählen und das System funktioniert dann auch! Dazu braucht es auch nicht unbedingt 4:1. Wesentlicher - auch für die Fahrcharakteristik und geringe Steuermomente durch Seitenwind aufgrund zu leichtem Strömungsabriss - ist ein nahekommen oder gar einhalten der 105 % Daumenregel. Sprich: die Felgenweite sollte 105 % der effektiven Reifenbreite aufweisen.
Und solche Felgen gibt es. Noch sehr wenige, aber es wird besser. Und sie werden auch nicht zu schwer, wie gerne befürchtet wird. Nehmen wir eine 3T Discus 45/40, die 45 mm hoch und 40 mm weit außen ist. Eine geniale Felge nicht nur für Gravelreifen und Graveleinsatz, sondern auch für Rennräder oder Allroad-Bikes mit Reifenfreiheit für 34 bis 36 mm 700c Reifen. Ich habe auf die ziemlich baugleiche Nextie 45 AGX mit großen Erfolg die neuen 34 mm Schwalbe Pro One aufgezogen, die auf dieser Felge 36 mm WAM messen. Super geniales Fahrverhalten und höchstwahrscheinlich tolle (allerdings noch nicht getestete) aerodynamische Werte. Der Laufradsatz wiegt 1665 g und ist damit mitten drin in allen möglichen, viel schmaleren Aerolaufradsätzen.
Warum wir noch nicht so viele von solchen Laufradsätzen bzw. Felgen sehen? Moulds sind teuer. Bevor eine Firma in so etwas investiert, muss sie einen Markt sehen. Die Nachfrage muss für ihr individuelles Befinden groß genug sein. Nicht jede Firma kann und will da Vorreiter sein und diesen Markt bereiten. Da aber nicht nur das Gravelthema immer mehr Momentum erhält, sondern auch 08/15 Rennräder oft mittlerweile Reifenbreiten von 34 mm oder mehr bieten und standardmäßig mit mindestens 28 mm breiten Reifen ausgeliefert werden, muss sich da auch am "Straßen" Aerolaufrad-Markt langsam mal was tun. Vorreiter gibt es ja auch hier: Specialized z.B. mit ihrem Roval Rapide CLX 64, dessen Vorderrad 35 mm weit ist. Und seit kurzem gibt's ja die zweite Iteration dieses Laufradsatzes, jetzt endlich auch Tubeless ready.
Jans Riesen-Porteur-Tasche... schwierig. Ja, Frontfläche ist nicht alles, sondern der Formbeiwert ist genauso wichtig. Es heisst nicht ohne Grund cdA bzw. cwA. Formwiderstandsbeiwert mal Frontfläche. Bzw. Coefficient of Drag x Area. Deswegen kann ein fetter Tragflächenflügel genauso aerodynamisch sein, wie ein winziger Bleistift (oder ein Kabel einer Bremse am Rad), weil der Formbeiwert eines Zylinders so schlecht ist. Worauf will ich damit hinaus: Ja, wenn Jan hinter seiner Porteurtasche klebt, keine Strömungsabrisse oder Strömungstaschen zwischen ihm und der Tasche entstehen und hinter im eine schöne Abströmung entsteht... kann das funktionieren. Üblicherweise wird es aber so sein, dass er da das aerodynamische Äquivalent einer Schrankwand mit sich spazieren fährt.
Man muss zwar immer den Einzelfall betrachten, aber welcher aerodynamischer Nachteil allein durch eine sehr kleine Handlebar-Roll gegenüber einer aerodynamisch geformten Aerobar-Tasche hat, habe ich (neben anderen Taschen) mal hier im Detail untersucht und erläutert:
Aerodynamik von Bikepacking-Taschen. Diese Taschen machen dich schneller!
Das Thema Reifen und Felgen habe ich unter anderem hier angesprochen:
Breite ist Trumpf – Hochprofil-Felgen und Aero-Laufradsätze für Allroad- und Gravel