Bei den Rapha Women’s 100 sind am Wochenende weltweit Frauen zusammen auf dem Rennrad 100-Kilometer-Touren-gefahren. Warum eigentlich?
Es ist Samstagmorgen, und während ich meine Müslischale auskratze, sagt eine Stimme im Radio fürs ganze Land Sonne und um die 20 Grad voraus. Herrlich! Keine Ahnung, wie es in Kent, Rio de Janeiro oder Abu Dhabi werden soll – aber ich hoffe mal, dass die Wetterfee, so es sie denn gibt, was für Frauen übrig hat und auch dort für bestes Radsportwetter sorgt. Denn an 250 Orten weltweit haben sich für diesen Tag Frauen verabredet, um gemeinsam 100 Kilometer zu fahren. Insgesamt 10000, schätzt der in London ansässige Bekleidungshersteller Rapha, der seit nun fünf Jahren zum jährlichen „Women’s 100 Ride“ aufruft. Ein Tag, nur Frauen und Räder. Klingt gut. Aber warum haben wir das eigentlich nötig?
Die Räder sind noch nicht auf dem Dach, da bin ich schon mittendrin in der Diskussion. Mit meinem Mann. Erste Antwort, ganz simpel: Weil es Frauen Spaß macht, mal nur mit anderen Frauen Rad zu fahren. Aber dazu später mehr.
Jetzt kommt schon meine Begleiterin angerollt, zwei Baguettes für die spätere Verpflegungsstation unterm Arm: Sandra Sebelin, die mit fünf anderen die diesjährige Ausfahrt des Düsseldorfer Kultladens „Schicke Mütze“ organisiert hat. Fünf Minuten später sind wir en route, vor uns liegen eine halbe Stunde Autofahrt von Wuppertal Richtung Rhein und geschätzt vier Stunden auf dem Rennrad – Zeit genug, um sich ein paar Gedanken zu machen über Frauen, Radsport und die Sache mit den 100 Kilometern.
100 – wie niedlich
„Macht ihr Euch da nicht selbst direkt wieder klein, wenn ihr nur 100 Kilometer fahrt?“, meinte mein Mann am Vorabend. Klar, Männer werden aufgerufen zu 300 Kilometern. Oder 500. Oder zur Fünf-Pässe-Tour. Aber diese Zahlenklauberei – pardon, Monsieurs, das ist eine andere Denkweise. Uns geht es bei dieser Aktion weder um Ortsschildsprints noch um Höhenmeter. „Es geht darum, dass wir unser Ding machen“, meint Sandra. „Auf unsere Art.“ Angesagt ist ein „Social Ride“: zusammen fahren, zusammen bleiben, zusammen leiden – sich zurücknehmen, wenn man fitter ist. Ich muss dann doch grinsen, als die erste Frau an dem Morgen beim Treffpunkt ankommt. Sie trägt ein „Rapha Festive500“-Trikot. Niedlich? Niedlich waren nur diese unsäglichen Blümchen und Schmetterlinge, mit denen die Radindustrie eine Zeitlang alle Frauenprodukte zugekleistert hat.
Marktmacht
Diese Zeiten sind zum Glück vorbei. Oder? Die 20 Jahre alte Profi-Fahrerin Christa Riffel (Canyon Sram Racing Team), die – aus Spaß! – den von Canyon Bicycles in Koblenz organisierten Women’s Ride begleitet hat, erzählt mir später: „Wir haben im Team gesagt: Es ist alles ok außer Blümchen.“ Gruselig, die vermeintlich feminine Deko scheint doch noch ein Thema zu sein. Zumindest aber zeigt das Engagement von Rapha, Canyon, Liv und wie alle jene heißen, die Frauen mit Hosenpolstern, Sätteln und Geometrien umwerben, dass wir Frauen eine Marktmacht sind. Wir sind eine wichtige Zielgruppe. Und wir sind viele!
Sichtbarkeit
Wie viele wir sind, vergessen wir leider oft selbst, die anderen sowieso. Klar, bei so einem Rapha-Event mitfahren, heißt auch, sich for free zum Testimonial zu machen. Doch abgesehen davon, dass Männer genau das tagtäglich irgendwo tun, kriegen wir im Gegenzug etwas, was wir dringend nötig haben: Sichtbarkeit. „Für uns und für die anderen“, mein Kerstin Kortekamp von der Schicken Mütze. Ja, die anderen – ihre Gesichter sprechen Bände. Zu 18 sind wir an diesem Samstag unterwegs, und das, was wir erleben, dürfte typisch sein für alle „Damenrunden“: Wann immer wir eine Ortschaft passieren, wird ein langes „Oooh“ unser Echo. „Oh, Frauen auf Rennrädern“, oft gefolgt von: „Oh, nur Frauen.“ Kein Mensch würde bei einer rein männlichen Gruppe rufen: „Oh, Männer auf Rennrädern, wie exotisch!“ Männer halten Männerrunden für eine Selbstverständlichkeit, und wir Frauen sind da nicht besser. Wir haben jetzt die Wahl: Künftig auch immer „Oh, nur Männer!“ rufen, oder die Leute an den gelegentlichen Anblick von reinen Frauenrunden zu gewöhnen.
Spaßfaktor
Nein, das soll nicht heißen, dass es per se keinen Spaß macht, in gemischten Gruppen zu fahren. Fahrt so viel, wie ihr wollt, so oft ihr könnt, und wenn ihr die richtige Gruppe beisammen habt und sie mixed pickles ist – grandios! Aber oft haben Frauen in Männerrunden nicht so viel Spaß, gerade jene, die neu mit dem Sport anfangen. Stichworte: Leistungsdruck und das Sich-gegenseitig-vergleichen. „Beim Women’s Ride zeigen wir, dass wir nicht rasen müssen, um Spaß zu haben, dass Radsport nicht nur Druck und Qual ist“, meint Christa Riffel und erzählt von ihrer Mutter, die früher nie Rad gefahren sei. „Warum? Weil sie es nur so kannte, dass die Männer vorneweg sind. Und immer nur hinterherfahren – das macht eben keinen Spaß.“ Ganz ehrlich, Jungs? Es gibt wenige unter euch, die das können: entspannt hinter einer Frau herfahren.
Sexistische Kackscheiße #1
Oh, jetzt geht es los. Genau. Beim Women’s Ride dürfen ja keine Männer mit. „Ihr dürft doch bei uns immer mit“, hören wir sie motzen, „das ist doch sexistische Kackscheiße.“ Im Ernst? Weil frau mal unter sich sein will? Eine Mitfahrerin formuliert es so: „Ich bin es leid, ein Phänomen in einer Sportgruppe zu sein, begafft und mit Sprüchen begleitet zu werden, egal ob das an der engen Bekleidung liegt oder an meiner Leistung.“ Und auch, wenn Radfahrerinnen nicht explizit aus der Gruppe ausgeschlossen werden, das funktioniert subtiler: Tempo am Berg. Philosophieren über die „Homogenität von Gruppen“. Und immer wieder dieses sinnfreie Überholen, nur, um nicht hinter einer Frau herfahren zu müssen!
Sexistische Kackscheiße #2
Nur ein paar Stichwörter: Hostessen bei der Tour de France. Der „Preis der Eleganz“, der beim eingestampften Frauen-Pendant zur Tour, der „Grande Boucle Féminine“, verliehen wurde. (Stellt Euch mal Peter Sagan in der Wertung „Gentleman of the Tour“ vor. Eben.) Frauen, die eine Rundfahrt wie die Tour de France wollen, müssen das auch selbst auf die Beine stellen, man denke an das Projekt „Donnons des elles aux vélo“. (Wer jetzt nicht weiß, was das heißt, aber nicht als Ignorant oder gar Sexist dastehen mag: schweigen, googlen und nachlesen.)
Historische sexistische Kackscheiße
Natürlich würde heute kein Funktionär mehr Frauen die Eignung für den Radsport öffentlich absprechen. Aber Frauenbilder, Männerbilder, Sportlerbilder – da steckt sooo viel in unser aller Hinterköpfen. Es ist gerade mal 60 Jahre her, dass die UCI Frauenrennen eingeführt hat. Der westdeutsche BDR hat sich netterweise noch ein paar Jahre länger dagegen gewehrt – was zu dem absurden Spektakel führte, dass bei den 1966 in Frankfurt am Main ausgetragenen Straßen- und Bahnradweltmeisterschaften Frauen um Titel fuhren, aber das Gastgeberland keine Teilnehmerinnen an den Start geschickt hatte.
Role Modeling
Wir brauchen Vorbilder, wie überall im Leben, in allen Lebenslagen, auf allen Niveaus. Es ist fantastisch, wenn jemand wie Christa Riffel beim Ride in Koblenz Frauen, die sich das erste Mal in ihrem Leben an 100 Kilometer herantrauen, motiviert. Kleiner Exkurs für Radsportfans: Ihr könnt auf Anhieb die zehn größten Radsportlegenden benennen? Flandern-, Giro- und Tour-Sieger? Schön, der Radsport lebt, auch in Deutschland wieder! Und Frauen? Weibliche Idole? Es gäbe ja welche, um mal ein paar Namen zu nennen: Hanka Kupfernagel, die den Frauenradrennsport zwei Jahrzehnte lang geprägt hat. Trixi Worrack, fünffache Weltmeisterin, der nach einem Sturz 2016 in einer Not-Operation eine Niere entfernt wurde – und die trotzdem 2018 bei den EM im Einzelzeitfahren die Bronzemedaille gewann. Lisa Brandau, die mir mit zwei kleinen Kindern im Schlepptau bei der Cyclocross-Weltmeisterschaft erzählt, dass sie zwölf Stunden die Woche fürs Training hat – und dann aus der letzten Reihe auf Platz 5 fährt. Kristina Vogel. Die Französin Pauline Ferrand-Prévot (PFP) und die Amerikanerin Ellen Noble, die beim Querfeldein wie (manche!) Männer einen Bunny Hop über die Hürden machen und Frauen ermutigen, es ihnen gleichzutun – Inspiration gibt es in den Sozialen Medien unter #BunnyhopThePatriarchy.
Professionalität
Andersherum braucht der Frauenradsport eine breite Basis. Von siebenstelligen Gehältern und Luxus-Teambussen wie im Profibereich der Männer können Frauen auf ihren Feldbetten nur träumen. Es laufen keine Rennen im (deutschen) Fernsehen, es gibt kaum Frauen, die vom Sport leben können? Zumindest das ändert sich, langsam auch in Deutschland. „Die Leistungsdichte bei den Frauen hat in den letzten Jahren enorm zugenommen“, erzählt Christa Riffel. Die 20-Jährige steht noch am Anfang ihrer sportlichen Karriere, aber natürlich sind Gender Pay Gap und Verdienstmöglichkeiten Thema in ihrem Team, in dem auch Worrack und PFP fahren. Und wachsende Fanbase heißt auch: mehr Nachwuchs, mehr Rennen, mehr Sponsoren mit mehr Geld, mehr Chancen, vom Sport leben zu können. Mehr Nachahmerinnen.
Das Patriarchat
Yep, die Deutungshoheit beanspruchen die Männer für sich. Die Regale mit Radsportliteratur sind voll mit Geschichten von Männern für Männer. Ein aktuelles Beispiel: „Die Regeln – Kodex für Radsportfreunde“, ein humorvolles, anekdotenreiches Buch, Bibel der englischsprachigen Radsportszene. Es kommt leider völlig ohne Frauen und Geschichten von Frauen aus. Mein erstes Rennrad war ein geerbtes Eddy Merckx in Team-Telekom-Lackierung. Ich war damit im Urlaub in Italien, und ich werde nie dieses fiese Lachen vergessen, als ein paar italienische Halbgötter mit rasierten Beinen auf mich zufuhren. Erst nickten sie anerkennend, wegen des Eddys, dann lachten sie und riefen: „La Tripla!“ Ja, liebe Leute, ich hatte eine Dreifachkurbel am Rad – wie ich heute weiß, ein Verstoß gegen den von Männern erdachten Kodex. Was ich heute auch weiß: Da mir der Rahmen zu groß, die Kurbel zu lang, der Lenker zu breit war, kann ich auf meine Fahrten mit dem Rad extrastolz sein.
Ich werde nie dieses fiese Lachen vergessen, als ein paar italienische Halbgötter mit rasierten Beinen auf mich zufuhren.
Blick nach vorne
Daher am Ende ein Appell: Fahrt nicht die alten Rahmen Eurer Männer und Väter auf, sondern macht Euer eigenes Ding! Lasst Euch nicht von Gelaber über Wattwerte und Übersetzungen beeindrucken. Probiert selber aus, testet, was Euch Spaß macht, findet das Rad, was zu Euch passt. Ihr kennt Euch nicht aus und traut Euch nicht, die Jungs im Club zu fragen? Fahrt ab und zu mit anderen Frauen. Denn auch darüber lässt es sich während eines 100-Kilometer-Ritts hervorragend austauschen: über das richtige Sitzpolster, gutes Bikefitting, empfehlenswerte Läden, tolle Designs, schöne Routen. Lauter Frauenthemen.
Feedback, Widerspruch und Anregung gern via Twitter @corinnanohn
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