Nach langem Warten kommt jetzt der Specialized S-Works Power Sattel mit Mirror-Technologie. Die Satteldecke macht ein 3D-Drucker. Der kann in Zukunft theoretisch sogar genau auf den Besitzer maßfertigen. Aber das scheint gar nicht nötig. Nach unserem ersten Test 2019, konnten wir den S-Works Power Mirror jetzt ausführlich Probefahren und fanden – individuell – den ersten Eindruck eines Gamechangers bestätigt.
Der Specialized S-Works Power Mirror ist der erste Sattel mit einer Satteldecke aus dem 3D-Drucker. Das sieht anders aus. Und fährt sich auch anders, wie Rennrad-News bei einer ersten Testfahrt am Rande der WM 2019 und jetzt auf weiteren 500 Testkilometern erfahren konnte. Zunächst die Eckdaten:
Specialized S-Works Power Mirror Infos
- EPU Satteldecke aus dem 3D Drucker mit 14.000 Zellen
- Vielfach genauere Definition der Entlastungszonen
- Dämpfung in Satteldecke hinein konstruiert
- Carbon-Sattelschale- und Streben des S-Works Power Sattels
- Unisex
- Breite 143 und 155 mm
- Gewicht 192 g (gewogen)
- Vielfach genauere Definition der Entlastungszonen
- Verfügbar ab sofort
- Preis 399,90 € (UVP)
- Info https://www.specialized.com/de/de/power-saddle-mirror
Auf dem Kurs
Man kann Abhandlungen über die Technik schreiben, die hinter den neuen Specialized Power Sattel mit Mirror Technologie steckt. Dass sie mit Gewohntem bricht, ist offensichtlich. Und die auffällige Erscheinung war auch gewollt. Aber hier soll es zuerst um das Fahrgefühl gehen. Denn der Sattel fühlt sich überraschend anders an. Stark verkürzt: Richtig straff, aber viel komfortabler als fast alle eher harten Competition-Rennsättel, die ich schon gefahren bin. Das Sitzgefühl ist auch nicht vergleichbar mit einem straffen Sattel, der mit einer stark flexenden Carbon-Sattelstütze kombiniert ist. Es ist eine feinere Dämpfung. Eher wie man sie erhält, wenn man den Reifendruck absenkt. Gleichzeitig fühlt man sich förmlich in die Satteldecke aufgenommen. Man sitzt nicht auf, man sitzt im Sattel. Nichts rutscht oder reibt: perfekt platziert.
Nun ist das Fahrgefühl auf einem Sattel immer eine stark individuelle Frage. Aber der bestimmende Eindruck von Dämpfungskomfort trotz straffem Sitz wird sich auch bei anderen Testpersonen einstellen – ich lehne mich weit aus dem Fenster: zu 98 %. Es ist schwer in Worte zu übersetzen, man muss es gemacht haben, sonst landet man schnell bei Formulierungen nach Art von Weinverkostungen. Specialized hat natürlich bereits eigene Testfahrer mit dem Sattel ausgestattet. Von ihnen kam überwiegend die Rückmeldung, dass sich der Sattel deutlich besser und eben anders fährt. Häufig sei das Wort „locked in“ gehören zu wesen. Weil Gefühle nicht alles sagen, arbeitet man in der Body Geometry-Abteilung an Testverfahren, die neue Eindrücke messbar machen sollen.
Fest stand aber zunächst auch: Nach der gut zweistündigen Testfahrt auf einem Specialized Creo E-Roadbike mit nur einer Art Hosenpolster ließ sich über die Qualitäten für typische Rennradfahrten nur eingeschränkt urteilen, zumal die Sitzposition nicht mehrschrittig feinabgestimmt wurde. Für mein Empfinden hätte ich gerne zum Beispiel in der Dammgegend etwas mehr Freiraum gehabt, was über die Sattelneigung zu variieren ist. Über das Sitzklima ließ sich nach der Fahrt durch das kühle Yorkshire ebenfalls wenig sagen. Die offenporige Wabenstruktur lässt jedoch eine deutlich bessere Klimatisierung als üblich erwarten.
Dabei ist klar, dass das neue Fahrgefühl vor allem auf das Konto der neuen Carbon 3D-Satteldecke geht. Denn das Sattelgestell ebenso wie die Sattelschale übernimmt der Power mit Mirror Technologie eins-zu-eins vom bekannten S-Works Power-Sattel. Heißt: Er besitzt Streben und eine Sattelschale aus Carbon. Er wiegt mit 192 g gewogen in etwa so viel wie das Modell ohne Mirror-Technik. Verfügbar sind zum Start zwei Breiten: 143 und 155 mm. Bei beiden ist die Struktur der Satteldecke genau an die Breite angepasst. Die Wölbung der Satteldecke liegt in der Mitte zwischen den beiden bekannten Modellen Power und Power Arc.
Fahrgefühl Update vom 2. Juni 2020
Inzwischen lässt sich deutlich mehr sagen! Einerseits hat Specialized noch mehr eigene Testreihen durchgeführt, andererseits habe ich mehr Kilometer auf dem Sattel gemacht. Sowohl bei zwei rund 60 km langen Gravelrides im warmen Girona zum Test des neuen Specialized Diverge 2021 als auch im Bergischen Land. Zuletzt stand ein 160 km Gravelride bei bis zu 28 Grad Celsius im Rahmen von Laurens ten Dams Initiative Dirtykanzelled auf dem Plan. Dabei ersetzte ich mehrere andere Wohlfühlsättel am eigenen Rad durch den Specialized S-Works mit Mirror-Technologie.
=> Hier findet ihr die 160 km Dirty Kanzelled Testfahrt auf Komoot
Es folgen große Worte, deshalb nochmal der Hinweis: Das Ergebnis ist immer vor dem Hintergrund zu lesen, dass ein passender Sattel eine stark individuelle Komponente des Rades ist. Unbestreitbar ist jedoch jenseits aller Passform: Der Specialized S-Works mir Mirror-Technologie dämpft viel besser, ohne wegen zu viel „Weichheit“ zu drücken. Zwei andere Sättel gehobener Preisklasse (1x Carbonstreben, 1x Titanstreben), die auch schon überzeugenden persönlichen Komfort boten, löste er ab. Die gefühlte Stoßdämpfung erhöhte sich jeweils sehr merklich. Bei Sätteln sind sonst eher feine Unterschiede kennzeichnend. Hier dagegen gibt es einen echten Sprung. Auf den langen Gravelpassagen im Bergischen und in Girona war der S-Works Mirror geradezu eine Idealbesetzung. Dass das am Rad, dem Reifen oder der Carbonstütze lag, konnten wir nun endgültig ausschließen.
Nicht individuell ist auch das Sitzklima. Das konnte ich inzwischen auch bei Hitze mit verschiedenen Chamois testen. Und die anfänglich erwarteten Vorteile bestätigten sich. Kein Hitzestau und kein schwitziges Gefühl, auch nach 8 Stunden bei sommerlichen Temperaturen im Sattel nicht. Das Sitzgefühl an sich ist allerdings etwas anders als man es von mehr oder weniger glatten Decken gewohnt ist. Es stellt sich eine stärkere Verbindung zwischen Bib und Satteldecke ein, man ist etwas stärker „eingelogged“. Der anfängliche Wunsch nach mehr Freiraum in der Dammgegend löst sich nach exakter Anpassung der Position in Luft auf.
Bleibt nur noch die nun wirklich individuelle Passform. Ich sitze auf einem Specialized Power-Sattel mit kurzer Nase meist sehr gut (143 mm) bei ausgewogener Sitzposition und 75 kg – und zwar auf Modellen verschiedener Preis- und Ausstattungsniveaus. Bedeutet: Wer mit dem „normalen“ Power Sattel gut bedient ist, wird mit dem S-Works Power Mirror höchstwahrscheinlich besser bedient. Zur Orientierung noch ein paar Sättel, auf denen ich ebenfalls sehr gut sitze: Fabric Scoop Shallow und Ergon SM Pro, früher auch Selle Italia Flite.
Mirror-Technik
Wie schafft also die Satteldecke den Effekt? Die Antwort liefert die Fertigungstechnik. Der 3D Druck erlaubt die vollkommen freie Gestaltung des Materials. In dem Fall kommt elastisches Polyurethan zum Einsatz, kurz EPU. Der „Druck“, genauer gesagt die „Digitale Lichtsynthese“, kann aber auch mit anderen Materialien erfolgen.
Hier zur Erklärung der Carbon3D Technik für die Satteldecke auf MTB-News
Die Verdienste von Carbon 3D, dem Lieferant der Technik, sind dabei zweierlei: erstens die Massenfertigung. Die Produktionsweise kommt bereits seit einem Jahr für den Adidas Sneaker Futurecraft 4D zum Einsatz. Laut Ananda Day, Projektmanagerin bei Carbon, wird in diesem Jahr die Millionengrenze mit dem Laufschuh überschritten. Für den Specialized Mirror Sattel können je 3 Decken in 35 Minuten aus dem Drucker gezogen werden (anschließend muss das Material nur noch im Ofen auf seine finalen Eigenschaften getrimmt werden).
Noch entscheidender ist aber der zweite Faktor: Carbon 3D steuert das Software Know-how bei, das Daten in Materialstrukturen übersetzt. Und Specialized besitzt durch das eigene Body Fitting System Retül Daten in Hülle und Fülle. Zehntausende detaillierte Sitzpositions- und „Satteldruck“-Daten liegen dort vor. Welcher Druck bei welcher Beckenform und Schuh-Einstellung und Sitzposition entsteht – das Body Geometry Team weiß es. Erst die Kombi aus Ergonomie-Daten und ihrer „Übersetzung“ in Material und Struktur macht die verblüffende Wirkung der Satteldecke aus.
Die Struktur, das sind im Fall des S-Works Power mit Mirror-Technik 14.000 Verstrebungen, die sich an 6.000 Knoten treffen. Dabei verändern sich sowohl die Längen als auch die Dicken der Verstrebungen. Es ergeben sich verschiedene Zellgrößen mit verschiedenen Eigenschaften. Weiter oben liegende Waben können zur besseren Druckableitung und Verteilung geformt werden, weiter unten liegende können federnd wirken. „Das ist mit Schaumstoff einfach nicht möglich. Man müsste tausende kleine Schaumstoffteilchen in der Satteldecke haben. Wir haben in den aktuellen S-Works Power Mimic-Sätteln bereits eine komplexe Schaumstoff-Anordnung für den Komfort, und das macht einen Gutteil des hohen Preises aus“, erklärt Ben Edwards, Global Marketing-Manager Road bei Specialized.
Ein 3D-Drucker allein macht keinen guten Sattel
Ein 3D-Drucker allein macht keinen guten Sattel. Die richtigen Formen zu finden, die genau das leisten, was man will, ist die eigentliche Herausforderung. Der 3D Druck erleichtert das. Prototypen können viel schneller gefertigt werden. Laut Ananda Day von Carbon dauert es nur einen Tag, um aus den Vorgaben für Be- und Entlastungszonen und für die Form eine neue Satteldecke zu errechnen und zu produzieren. So kann schnell getestet werden, ob eine Satteldecke die Erwartungen erfüllt. Und danach können die Eingaben der Tester wiederum schnell in neue Berechnungsmodelle einfließen.
Die Zukunft
Das Ende der Entwicklung ist deshalb eigentlich nicht der Sattel, der jetzt erstmals zum Probefahren bereit stand. Auch wenn er erfreulicherweise so wie gefahren zunächst 2020 in den Handel kommen soll. Am Ende steht eine Software, die genau weiß, welche Eingaben aus dem Retül System in welcher optimalen Sattelform resultieren. Und „genau“, das meint in diesem Fall genau bis hin zu den einzelnen Waben – die Technik ist nicht die Grenze. Theoretisch könnte so die vollkommen individuelle Satteldecke direkt aus einem 3D Drucker kommen, der beim Bikefitter steht. „Individueller Sattel to go“ sozusagen. „Wir sind ganz nah dran“, sagt Ananda Day. Aber dazwischen steht unter anderem, dass Satteldecke und Sattelschale noch miteinander verbunden werden müssen. Momentan erfolgt der Druck in Kalifornien, der „Verheiratung“ in Taiwan. Schon bald soll die Produktion regional sein.
Und der Sattel ist bei Weitem nicht die einzige Komponente am Fahrrad, die mit 3D Druck verbessert werden kann. „Wir haben seit 3 Jahren einen Carbon 3D-Drucker im Unternehmen, es öffnete uns die Augen für die Möglichkeiten der Technik“, sagt Ben Edwards. Es läge auf der Hand, dass an den Punkten, an denen jetzt EVA-Schaum zum Einsatz kommt, der 3D Druck zum Wohle des Fahrers einsetzbar ist. Konkret nennt er die Kontaktpunkte zum Rad, etwa Griffe. Aber es gibt ja noch andere Teile am Bike, die dämpfen, federn oder sich vorgegebenen Konturen anpassen müssen…
Fazit von Rennrad-News.de
Von einer Satteltestfahrt erwartet man keine Wunder. Insofern konnte die Überraschung über das neue Sitzgefühl auf dem S-Works Power Mirror Sattel kaum größer sein. Daran hat sich auch nach der nun ausgiebigen Testphase nichts geändert. Es verwundert sofort, wieviel besser sich ein Sattel anfühlen kann – vor allem in Sachen Dämpfung. Nach 500 Testkilometern über zwei Monate steht für uns fest, dass die Carbon 3D-Technik, wie sie Specialized anwendet, ein Gamechanger ist. Dabei scheint die Kombination mit der Erfahrung aus dem Body Geometry-Programm der Kalifornier erst das wahre Potential der Technik auszuschöpfen. Wir bleiben gespannt, was sich aus der Technik herausholen lässt. Vor allem für FahrerInnen außerhalb der Norm könnte sie ein noch größerer Segen sein. Der Preis für den Sitzkomfort aus dem 3D-Drucker ist freilich (noch) hoch.
Pro / Contra
Pro
- Neue Maßstäbe in Sachen Sitzkomfort
- Sehr gute Platzierung und Halt im Sattel
- Sitzklima vielversprechend
- Leicht
- Zukünftig individuell gestaltbar
Contra
- Preis und anfängliche Verfügbarkeit
- Nicht mit Sattelstützen für seitliche Klemmung runder Schienen kompatibel
Was versprecht ihr euch vom 3D Druck fürs Rennrad?
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