Unser Albanien-Projekt startete mit einer Hochzeitseinladung – nach Griechenland. Tatsächlich stand Albanien als Bikepacking-Ziel gar nicht auf unserer Liste. Es war zwar irgendwie klar, dass es auch 2022 wieder ein längerer Bikepacking-Trip werden sollte. Aber nach unserer phänomenalen Tour von Köln-Nippes nach Nizza („Nippes-Nizza“) waren wir eine Zeitlang ratlos, wie wir da noch einen draufsetzen könnten, ohne uns im Konzept zu wiederholen. Wie so häufig half uns der Zufall: Ein gemeinsamer Freund lud uns zu seiner Hochzeit Anfang Juni 2022 auf die griechische Insel Korfu ein. Meine Reaktion war zunächst verhalten: Mich nur für ein Hochzeitswochenende in den Flieger nach Korfu zu setzen, ließ sich nicht mit meinem Umweltgewissen vereinen – da musste mehr kommen.
Prolog: mit der „Nautilus“ nach Saranda
Die Lösung lag buchstäblich in Sichtweite: Korfu trennt nur eine Meerenge von Albanien, mit der Fähre dauert die Überfahrt eine gute halbe Stunde. Außerdem hatte ich Albanien 2011 schon einmal mit dem Rucksack bereist: Bereits damals war ich fasziniert von der Freundlichkeit der Menschen und der Schönheit und Ursprünglichkeit der Landschaft. Zunächst erntete meine Idee einer einwöchigen Bikepacking-Tour durch dieses weitgehend unbekannte Land eher ungläubiges Staunen. Aber je mehr wir uns mit der Idee auseinandersetzten, desto sicherer wurden wir uns: Wir fliegen nach Korfu, setzen nach Albanien über, fahren auf Schotter und Asphalt zunächst entlang der albanisch-griechischen Grenze bis zum Ohridsee im Südosten Albaniens und etwas weiter nördlich wieder zurück zum Ausgangspunkt. Anschließend wird Hochzeit auf Korfu gefeiert.
Die Wettervorhersage am Vorabend verhieß nichts Gutes: Gewitter und 30 Liter Niederschlag pro Quadratmeter im Laufe des Tages – wir rechneten mit dem Schlimmsten. Beim Aufstehen auf Korfu begrüßte uns aber weitgehend blauer Himmel – nochmal Glück gehabt, zumindest vorerst. Also ab zum Hafen, um nach Saranda auf die albanische Seite überzusetzen. Als wir unsere Tragflügel-Fähre aus wahrscheinlich noch sowjetischer Produktion sahen, staunten wir nicht schlecht: Mit ihren Stummelflügeln, dem Leitwerk hinten und ihrer vollständig geschlossenen, zigarrenartigen und vorne spitz zulaufenden Form wirkte sie eher wie die „Nautilus“ aus einer Jules Verne-Verfilmung der 1920er Jahre. Auch das ohrenbetäubende Brüllen des Schiffsdiesels trug zunächst nicht wirklich zu unserer Vertrauensbildung bei. Letztlich brachte uns die Fähre aber schnell und sicher auf die albanische Seite nach Saranda.
1. Etappe: Saranda – Përmet (113 km, 1.000 Hm)
Für die erste Etappe hatten wir uns ein eher gemütliches Programm vorgenommen: 113 Kilometer von Saranda über den Muzinës-Pass (Qafa e Muzinës, ca. 500 Meter) zunächst in nordwestlicher Richtung nach Gjirokastër und später das malerische Vjosa-Tal in südöstlicher Richtung zu unserem Zielort Përmet. Nach anfänglicher Sonne und Wärme zog sich der Himmel während unseres Anstiegs auf den Muzinës-Pass immer weiter zu. Wir hatten Glück im Unglück, denn das vorausgesagte Gewitter brach erst los, als wir die Passhöhe erreicht hatten und uns dort unterstellen konnten. Letztlich saßen wir rund zwei Stunden auf der Passhöhe fest, während sich sintflutartige Regenfälle über die Region ergossen. Ganz ungewöhnlich scheint dies dort aber nicht zu sein, denn anders als man vielleicht bei einem so weit südlich gelegenen Land vermuten könnte, ist die Landschaft in Albanien sehr grün und hat eine üppige Vegetation.
Als der Regen langsam nachließ, machten wir uns auf die Abfahrt in Richtung Drino-Tal und der Stadt Gjirokastër. Die Besichtigung des UNESCO-Weltkulturerbes Gjirokastër fiel dennoch dem schlechten Wetter und der verlorenen Zeit auf dem Muzinës-Pass zum Opfer und wir entschieden uns, ohne Halt weiter Richtung Përmet zu fahren. Die rund 30 Kilometer im Drino-Tal hinter Gjirokastër gehörten wegen der viel befahrenen Straße und dem Dauerregen zu den raren weniger schönen Momenten der Tour. Dies änderte sich jedoch schlagartig beim Abzweig in Richtung Përmet. Von dort an fuhren wir zunächst in östlicher Richtung durch die wilde und tief eingeschnittene Këlcyra-Schlucht und nach ihrem Ausgang durch das im unteren Teil breite und liebliche Vjosa-Tal.
Als wir am späten Nachmittag in Përmet ankamen, schien wieder die Sonne und Glenti und seine Familie, unsere Gastgeber für die erste Nacht, empfingen uns in ihrem prächtigen Natursteinhaus mit Gliko (süß eingelegten Feigen), Raki und der typisch albanischen Gastfreundschaft. Auf dem abendlichen Stadtspaziergang lernten wir, dass Përmet eine wichtige Rolle im albanischen Befreiungskampf gegen die Faschisten gespielt hat. 1944 fand hier der erste albanische Nationalkongress statt, bei dem die politische Richtung für die befreiten Gebiete und Albanien selbst festgelegt wurde.
2. Etappe: Përmet – Korça (128 km, 2.350 Hm)
Nach einem reichhaltigen albanischen Frühstück machten wir uns in Përmet bei herrlichem Sonnenschein auf den Weg in Richtung Korça, unserem nächsten Etappenziel. Angeblich werden in den dort verkehrenden Bussen wegen des ständigen Auf und Ab und der vielen Richtungswechsel Spucktüten an die Passagiere verteilt. Unsere Erwartungen an den Kurvenspaß auf der Strecke waren also hoch und sie wurden nicht enttäuscht.
Das Vjosa-Tal, das wir zunächst in südöstlicher Richtung weiter hochfuhren, wird hinter Përmet immer wilder und ursprünglicher, die Berge immer höher und schroffer. Im Talboden mäandert die türkisblaue und nach wie vor völlig unbegradigte Vjosa munter vor sich hin. Die Ortschaften werden immer kleiner und spärlicher. Wie noch so häufig in Albanien hatten wir das Gefühl, dass hier die Zeit völlig stehengeblieben ist.
Nachdem die Straße im Vjosa-Tal noch weitgehend flach war, bogen wir in der kleinen Siedlung Çarshova kurz vor der albanisch-griechischen Grenze ab in die Berge und folgten einem verfallenen, landschaftlich spektakulären Asphaltsträßchen hoch in Richtung Leskovik. Hier wechselten sich Kiefernwäldchen, Almlandschaften, Schluchten- und Bergblicke in steter Folge ab. Nur eines gab es kaum: Autos und andere Menschen. Die Temperaturen stiegen ebenso stetig wie das Terrain und kleine Brunnen am Straßenrand waren eine willkommene Abkühlung. Bei einem kurzen Erfrischungsstopp in Leskovik waren wir und unsere Fahrräder die Attraktion für die Kinder und Jugendlichen. Am liebsten hätten die Kids alle unsere Räder einmal ausprobiert, wenn sie nicht viel zu groß für sie gewesen wären.
Hinter Leskovik ging es zunächst weiter in nördlicher Richtung im stetigen Auf und Ab auf einem Hochplateau durch die menschenleere Landschaft. Ab dem Hasit-Pass (Qafa Hasit, 1.114 Meter) verlief die Route dann wieder tendenziell mehr bergab in Richtung Ersekë. Kurz vor Erreichen des Ortes passierten wir ein Denkmal, das neben der Straße aus dem Wald ragte und dessen Bedeutung uns zunächst unklar war. Erst später erfuhren wir, dass es in Erinnerung an ein Massaker an der Zivilbevölkerung errichtet wurde, das deutsche Soldaten im Zweiten Weltkrieg im Ort Borova aus Rache für einen Partisanenangriff verübt haben. Über hundert Männer, Frauen und Kinder wurden damals ermordet. Bedrückend, wo einen die Geschichte des eigenen Landes überall einholt und gleichzeitig befreiend, mit wie viel Herzlichkeit einen die Nachkommen der damaligen Opfer heute empfangen.
Ein „Korça“-Bier, die größte Biermarke Albaniens, durfte natürlich auch nicht fehlen.
In Ersekë waren wir von den Strapazen der bisherigen Strecke schon ziemlich platt, aber die Aussicht auf Rückenwind und eine weitgehend abschüssige Strecke ließen uns die letzten rund 50 Kilometer bis zu unserem Etappenziel Korça in Angriff nehmen. Dabei fuhren wir stets entlang des beeindruckenden, bis zu 2.500 Meter hohen Grammos-Gebirges, das zugleich die Grenze zu Griechenland markiert.
Korça selbst stand mit seinem wuseligen Stadtleben in starkem Kontrast zu unserem bisherigen Tag, der vor allem durch menschenleere Landschaften geprägt war. Nach kurzer Suche hatten wir ein nettes Restaurant gefunden und ein „Korça“-Bier, die größte Biermarke Albaniens, durfte natürlich auch nicht fehlen.
3. Etappe: Korça – Velçan (144 km, 2.570 Hm)
Tags darauf führte unsere Route von Korça zunächst in Richtung Ohridsee an der Grenze zu Nordmazedonien und von dort weiter in östlicher Richtung zu unserem Etappenziel Velçan. Außergewöhnlich war diese Etappe von vornherein gewesen, weil Velçan ein so abgelegenes Örtchen ist, dass es dort keine Hotels oder sonstwie über das Internet buchbare Unterkünfte gibt. Stattdessen waren wir bei der Tourplanung auf Facebook auf Kledi gestoßen, der dort wohnt und uns unaufgefordert sein Haus in Velçan als Unterkunft zur Verfügung gestellt hat – gratis. Normal dort. Gleich noch mehr dazu.
Die ersten rund 50 flachen Kilometer von Korça zum Ohridsee verliefen weitgehend unspektakulär. Der Ohridsee scheint im Hochsommer ein beliebtes Badeziel für die Einheimischen zu sein. Als wir dort ankamen, hatte die Badesaison aber noch nicht begonnen und alles lag noch in einer eigenwilligen Art Dornröschenschlaf. Die verwaisten Wasserrutschen, Tretboote und Hotelanlagen am Seeufer wirkten wie Lost Places aus den 1950er Jahren auf uns.
Bevor wir uns auf den Weg nach Velçan machten, ließen wir es uns aber nicht nehmen, für ein paar Stunden die Staatsgrenze zu überqueren und den Galičica-Pass (1.589 Meter) auf der nordmazedonischen Seite zu bezwingen. Mit einer sehr gleichmäßigen Steigung von rund 5 % erwies sich der Pass als sehr angenehm zu fahren und von der Passhöhe boten sich phantastische Blicke auf den 800 Meter weiter unten gelegenen tiefblauen Ohridsee und die umliegenden Berge. Wegen der Mautpflicht auf der Passstraße gibt es kaum Autoverkehr.
Tiefe, ausgewaschene Rinnen auf dem Weg und eine Begegnung mit drei äußerst übel gelaunten Hütehunden einer Schafherde.
Zurück am Seeufer warteten in Richtung Velçan die ersten Gravel-Passagen auf uns. Zunächst mussten wir die Mokraberge am westlichen Seeufer überwinden. Die Auffahrt auf den rund 1.110 Meter hoch gelegenen Übergang gestaltete sich noch als recht angenehm zu fahren und bot letzte Blicke auf den Ohridsee. Auf der Abfahrt in das Shkumbini-Tal auf der anderen Seite merkten wir aber so langsam, dass es sich bei albanischem Gravel nicht um das handelt, was wir von deutschen Waldautobahnen gewohnt sind. Wir hatten es vielmehr mit gröbstem Schotter zu tun, wie man ihn ansonsten von Bergstraßen im Gardaseegebiet gewohnt ist. Hinzu kamen zum Teil tiefe, ausgewaschene Rinnen auf dem Weg und eine Begegnung mit drei äußerst übel gelaunten Hütehunden einer Schafherde.
All das führte dazu, dass wir uns auf der Abfahrt über 700 Höhenmeter nicht nur kaum erholt hatten, sondern auch deutlich länger als geplant dafür brauchten. Aber es half alles nichts, wir mussten noch rund 20 Kilometer und 500 Höhenmeter aus dem Shkumbini-Tal wieder hoch in den Ort Velçan klettern, weil es vorher keine Aussicht auf eine Unterkunft gab.
Immerhin sorgte Kledi, der uns sein Haus in Velçan zur Verfügung gestellt hatte, auf dem Weg für einen Motivationsschub bei uns: Im Anstieg kam er uns völlig überraschend im Auto entgegen, sprach uns an und hatte noch den örtlichen Tourismusbeauftragten im Schlepptau. Dieser ließ sich nicht davon abbringen, mitten im Nirgendwo mit uns ein Werbevideo für die Region mit dem Handy aufzunehmen. Wir haben immer noch nicht herausgefunden, was er in diesem Video auf albanisch gesagt hat, aber nach ein paar Proben brachte er uns dazu, alle gemeinsam „Promovojmë Velçani“ in die Kamera zu rufen, was in etwa „Wir fördern Velçan“ heißt – unser Borat-Moment.
Nach großem Kampf erreichten wir kurz vor Einbruch der Dunkelheit tatsächlich Kledis Haus in Velçan: Von außen sehr schön anzusehen, stellte es sich von innen als sehr einfach und ganz offensichtlich völlig in Eigenregie errichtet (inklusive schiefer Treppe) heraus. Aber so ausgepumpt, wie wir waren, hätten wir auch unter einer Brücke übernachtet. Auch der abendliche Gang durchs Dorf auf der Suche nach etwas Essbarem erwies sich als recht abenteuerlich. Die Gegend dort ist so abgelegen, dass wir uns ein wenig wie in einem Entwicklungsland vorkamen, tatsächlich gilt Albanien als Schwellenland. Lediglich der Hauptweg durchs Dorf war halbwegs beleuchtet und geteert, viele Häuser eher Rohbauten und überall hing beißender Holzfeuer-Qualm. Auf die Menschen vor Ort müssen wir wie Außerirdische gewirkt haben, jedenfalls drehten sich in der einzigen Bar des Orts sofort alle Köpfe in unsere Richtung, als wir über die Dorfstraße kamen. Trotzdem waren alle sehr hilfsbereit, wiesen uns den Weg zum örtlichen Krämerladen, wo wir uns noch mit dem Nötigsten für ein einfaches Abendessen versorgen konnten.
4. Etappe: Velçan – Berat (113 km, 2.060 Hm)
Nach dem Vortag hatten wir vor der nächsten Etappe von Velçan nach Berat ziemlichen Respekt, weil sich praktisch komplett über Schotter führte. Aber auch hier half es nichts, schließlich mussten wir wieder zurück in Richtung Küste und alle alternativen Wegstrecken wären mit großen Umwegen verbunden gewesen. Von Velçan führte uns der Weg zunächst über Bishnicë auf den Maces-Pass (Qafa Maces, ca. 1.650 Meter). Von Bishnicë schlängelt sich dieser Pass zunächst mit moderaten Steigungsprozenten am Hang entlang ein Tal hinauf, wobei sich immer wieder spektakuläre Blicke in die sich weitende, üppig grüne Berglandschaft bieten. Die letzten ca. 400 Höhenmeter zur Passhöhe muss man sich dagegen durch hohe Steigungsprozente hart erarbeiten, wird aber oben angekommen mit phantastischen Fernblicken belohnt.
Bis dahin hatten wir seit mehreren Stunden, keine Menschenseele getroffen.
Der erste Teil der Abfahrt vom Maces-Pass herunter in das Devoll-Tal erwies sich erneut wegen des groben Schotters eher für Cross-Country-Mountainbikes als für Gravelbikes geeignet, aber schließlich erreichten wir das wunderschön gelegene Bergdorf Kukur als erstes Zeichen der Zivilisation. Bis dahin hatten wir seit Bishnicë, also seit mehreren Stunden, keine Menschenseele getroffen.
Als wir in Kukur nach einem kurzen Stopp weiterfahren wollten, trat eine Frau aus ihrem Haus auf die Veranda und lud uns zu einem Kaffee und einem Raki ein. Obwohl wir noch ein großes Stück Weg vor uns hatten, wollten wir diese Gastfreundschaft nicht ausschlagen. Zusammen mit der Tochter der Frau, die als Übersetzerin fungierte, entwickelte sich ein schönes Gespräch über das Leben in Albanien und dem albanischen Bergland. Es war einfach ein Paradebeispiel für die Offenheit und Gastfreundschaft der Albaner*innen, die wildfremde Menschen aus Interesse einfach von der Straße weg zu sich einladen – toll.
Auch die weitere Strecke von Kukur ins Devoll-Tal stellte sich trotz des Gefälles als bei Weitem anspruchsvoller als gedacht heraus. Der weiterhin raue Schotter und die zahlreichen kleinen, fiesen Gegenanstiege waren ziemlich zermürbend. Als wir endlich im Tal angekommen waren, war es bereits Nachmittag und wir waren froh, ein kleines Stück auf Asphalt vor uns zu haben.
Kurz vor dem kleinen Ort Gramsh war es aber bereits wieder vorbei mit dem Asphalt, wir bogen nach Westen ab und mussten einen weiteren Schotterpass mit gut 700 Höhenmetern über eine Hügelkette überqueren, die uns von unserem Etappenziel Berat trennte. Zuvor beratschlagten wir uns nochmals über mögliche weniger anstrengende, asphaltierte Alternativrouten, die wir aber alle als zu lang verwarfen.
Auf den letzten Metern durften wir uns noch einmal wie Rockstars fühlen, als schätzungsweise zwei Dutzend Kinder von einem Sportplatz an den Straßenrand stürmten, um uns anzufeuern
Letztlich sollten wir diese anstrengende Wahl aber nicht bereuen: Die Fahrt bot großartige Ausblicke auf das südlich gelegene, majestätische Tomorr-Gebirge. Außerdem legte sich das Abendlicht wie ein Goldschleier über die Landschaft. Auf den letzten Metern durften wir uns noch einmal wie Rockstars fühlen, als schätzungsweise zwei Dutzend Kinder von einem Sportplatz an den Straßenrand stürmten, um uns anzufeuern. Mit letzter Kraft, aber auch in dem Bewusstsein, heute etwas ganz Besonderes auf dem Rad erlebt zu haben, erreichten wir schließlich kurz nach Einbruch der Dunkelheit die Museumsstadt und UNESCO-Weltkulturerbe Berat.
5. Etappe: Berat – Radhimë (96 km, 530 Hm)
Nach den Strapazen der vergangenen Tage entschlossen wir uns, die heutige Etappe zurück ans Meer nach Radhimë umzuplanen: Anstatt der ursprünglich geplanten 115 Kilometer und 2.000 Höhenmeter auf Gravel entschieden wir uns für „nur“ knapp 100 Kilometer und gut 500 Höhenmeter auf Asphalt – aktive Regeneration sozusagen. Dies gab uns Zeit, die Tour erst gegen Mittag zu starten und vorher einen Rundgang durch das malerische Berat mit seinen weißen, aus osmanischer Zeit stammenden Häuschen und verwinkelten Gassen zu machen. Die eigentliche Fahrt nach Radhimë war wenig beeindruckend: Heute ging es uns in erster Linie darum, die Strecke so kraftsparend wie möglich zu absolvieren.
Kurz vor dem Ziel hatten wir in der Hafenstadt Vlora dennoch unseren Schmunzelmoment: Auf dem Weg in die Stadt bemerkten wir, dass wir uns auf einer Art Zieleinfahrt befanden. Nachdem wir zunächst an einen City-Marathon gedacht hatten, stellte sich heraus, dass unmittelbar vor unserer Ankunft die örtliche Etappe der Albanien-Rundfahrt zu Ende gegangen war. Nachdem wir an den Tagen zuvor genau einen einzigen Rennradfahrer getroffen hatten, hatten wir mit der Möglichkeit eines Radrennens in Albanien als Letztes gerechnet. Selbstverständlich ließen wir es uns es nicht nehmen, auf unseren bepackten Gravelbikes in Siegerpose die Zieldurchfahrt zu überqueren.
Im Badeort Radhimë endete dann unsere heutige Regenerationsetappe standesgemäß im Liegestuhl am Strand und einem Sprung ins Ionische Meer.
6. Etappe: Radhimë – Saranda (114 km, 2.530 Hm)
Unser Kräftesparen am Vortag sollte sich heute auszahlen: Unsere Schlussetappe zurück nach Saranda entlang der Küste des Ionischen Meeres versprach, nochmals ein landschaftliches Highlight zu werden. Hier im Süden Albaniens fällt das Küstengebirge jäh ins Meer ab. Die Orte und Straßen am Meer klammern sich geradezu an den Berghängen fest und es ist ein ständiges Auf und Ab mal mehr, mal weniger hoch über der Küste.
Viel Zeit zum Einrollen blieb nicht, denn von Meereshöhe fuhren wir praktisch aus dem Stand auf den Llogara-Pass (Qafa e Llogorasë, 1.030 Meter). Unsere Mühen wurden belohnt: Die Aussicht von der Passhöhe auf die tief unten gelegene albanische Riviera, das Küstengebirge und die vorgelagerten Inseln ist atemberaubend. Nach rund 800 Höhenmetern Abfahrt auf der Südseite des Passes führt dann die wegen des ständigen Auf und Ab sehr anspruchsvoll zu fahrende Küstenstraße weiter Richtung Saranda.
Die am Hang gelegenen, weiß getünchten Bergdörfer sind äußerst malerisch mit ihren blühenden Oleandern, aber auch hier macht der wachsende Tourismus in der Region nicht halt. Man kann nur hoffen, dass Albanien bei der Erschließung nicht die Fehler mancher anderer südeuropäischer Länder wiederholt und diesen wunderschönen Küstenabschnitt mit Hotelburgen zubetoniert. Leider sind erste Anzeichen schon sichtbar, trotzdem ist die Fahrt über die Küstenstraße sehr spektakulär.
Dem kommunistischen Regime Albaniens diente dieser Ort früher als geheimer, von der Außenwelt abgeschotteter U-Boot-Hafen.
Ein Highlight an der Straße ist das kleine Nest Porto Palermo. Dem kommunistischen Regime Albaniens diente dieser Ort früher als geheimer, von der Außenwelt abgeschotteter U-Boot-Hafen. Dies macht heute seinen Charme aus, denn außer einem Restaurant, einer alten Festung und den ehemaligen U-Boot-Bunkeranlagen gibt es dort nichts außer Berge, Meer, kleine Inseln und malerische Strände.
Auf den letzten Kilometern zurück zu unserem Ausgangsort Saranda setzte sich langsam bei uns die Erkenntnis durch, dass wir in den vergangenen Tagen etwas ganz Besonderes erlebt hatten: Wir hatten ein Land, das man auf den ersten Eindruck nicht mit Bikepacking oder überhaupt mit Fahrradfahren in Verbindung bringen würde, durchquert. Wir hatten offene, herzliche, ehrliche und großzügige Menschen getroffen, die alle so gar nicht unseren gängigen mitteleuropäischen Stereotypen der Albaner*innen entsprachen. Schließlich hatten wir spektakuläre, wilde und ursprüngliche Landschaften gesehen, die einem eine Vorstellung davon geben, wie unser Kontinent vor Jahrzehnten ausgesehen haben könnte, bevor es Massentourismus, intensive Landwirtschaft und Bauboom gegeben hat. Wie von jeder unserer bisherigen Bikepacking-Touren werden wir auch von diesem Trip viele einzigartige Eindrücke und Erinnerungen mitnehmen, von denen wir wahrscheinlich noch unseren Enkeln erzählen werden.
Infos Bikepacking Albanien
Strecke und GPS-Daten
Etappen und Wegpunkte
- Etappe: Saranda – Përmet | 113 km, 1.000 Hm
- Etappe: Përmet – Korça | 128 km, 2.350 Hm
- Etappe: Korça – Velçan | 144 km, 2.570 Hm
- Etappe: Velçan – Berat | 113 km, 2.060 Hm
- Etappe: Berat – Radhimë | 96 km, 530 Hm
- Etappe: Radhimë – Saranda | 114 km, 2.530 Hm
Anreise, Abreise und Logistik
Unabhängig von Land und Leuten, die wie oben beschrieben großartig sind, ist Albanien auch ansonsten ein hervorragendes Bikepacking-Ziel. Über die Hauptstadt Tirana oder die Albanien direkt vorgelagerte griechische Insel Korfu kommt man mit dem Flieger schnell und unkompliziert ins Land. Von Bari und Ancona gibt es zudem Fähren nach Albanien.
Ausrüstung
Unser Material hätte kaum unterschiedlicher sein können: André vertraut auf sein bewährtes Surley Cross Check aus Stahl mit 40 mm-Reifen und Gepäckträgertaschen. Treets hat seinen Carbon-Renner von Fondriest durch 35mm-Reifen, Sattelstützen-Gepäckträger und eine Rahmentasche zur Bikepacking-Maschine umgerüstet. Ich habe mir für die Tour ein Trek Checkpoint ALR5 Gravel Bike aus Alu gekauft und bin es mit einer Sattelstütz- und einer Oberrohrtasche sowie 40 mm-Reifen gefahren. Abgesehen von ein paar kleinen Problemen, die wir unterwegs lösen konnten, sind wir ohne größere Defekte durch Albanien gekommen. Es gibt also nicht die eine einzig richtige Ausstattung für so eine Albanien-Reise – wo ein Wille ist, ist auch ein Weg.
Für den Flug nach Korfu haben wir unsere Räder in Fahrradkartons verpackt, die wir uns über Kleinanzeigen oder aus Fahrradläden besorgt hatten. Nach Hin- und Rückflug hatte keines unserer Räder irgendwelche Transportspuren, geschweige denn -schäden. Für die Zeit unseres Aufenthaltes konnten wir die Kartons in einem Hotel auf Korfu in Flughafennähe unterstellen, damit wir sie auch für den Rückflug nutzen konnten.
Weitere Infos
- Guter Einstieg www.albanien.ch
- Instagram @alb_info
- Reiseführer Ralph-Raymond Braun, Albanien, individuell reisen, Michael Müller Verlag
Über den Autor
Wir, das sind André, Treets und ich, Fabian. André und ich kennen uns seit über 20 Jahren und fahren seit gut zehn Jahren zusammen Fahrrad. Die Albanien-Tour war unsere vierte gemeinsame Bikepacking-Reise. Vorher waren wir schon in den Westfjorden Islands, haben Deutschland von Flensburg nach Garmisch durchquert und sind von unserer Heimat Köln-Nippes ans Mittelmeer nach Nizza gefahren. Treets ist Bikepacking-Novize, aber bei Weitem kein Neuling auf dem Rad. Mit seiner Kondition und seiner Motivation war er von Anfang an ein idealer Begleiter auf dieser anspruchsvollen Tour.
Die Reisegruppe auf Instagram:
Treets: @cuxi71
André: @aeiaem
Fabian: @fabianvaube_visconde
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20 Kommentare
» Alle Kommentare im ForumHi. Erstmal vielen Dank für die Hinweise zu dem Hotel. Die Kommunikation ist problemlos mit denen.
Eine frage noch zu der Fähre. Konnte man die einfach vor Ort buchen oder habt ihr diese schon von zu Hause aus gebucht?
Gern geschehen!
Ich meine, ich hätte die Fähre schon vorab von zu Hause aus gebucht: www.finikas-lines.com. Auf der Verbindung Korfu - Saranda waren noch recht viele Plätze frei, da hätte man wahrscheinlich auch spontan noch Tickets bekommen. Auf der Rückfahrt Saranda - Korfu war's voller, glaube ich. Könnte aber auch am Wochentag gelegen haben. Trotzdem gehst Du vielleicht lieber auf Nummer sicher und buchst vorab. In jedem Fall solltest Du mit ausreichend Vorlaufzeit (mind. 30 Min. vorher) an der Fähre sein, weil es dort eine Sicherheitskontrolle gibt.
Und zweitens kann man auch auf Korfu ganz hervorragend auf der Straße und auf Schotter radeln - z.B. auf den Pantokrator, den höchsten Punkt Korfus. Von dort hat man eine super Aussicht auf die Insel und die albanische Küste. Nur so als Tipp für eine kleine Aufwärmrunde ;-)
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