Lennard Zinn fühlte ein „Stolpern“ seines Herzens und anschließendes Rasen bis zum Puls von 218 zum ersten Mal, als er sich auf der Jagd nach einem Strava KOM befand. Der passionierte Rennradfahrer, den viele in den USA als Technik-Guru kennen, fuhr schon für das US-Nationalteam und gilt als erfahrener Athlet. Er beendete sein Training als gemächliche Ausfahrt. Ein Konsultationsanruf nach dem Training führte ihn direkt in die Notaufnahme. Einige EKGs später stand fest, dass er unter schwerwiegenden und potentiell gefährlichen Herz-Rhythmusstörungen litt. Es folgte, was viele aktive Rennradsportler als großen Verlust erleben. Zinn gab das Rennenfahren auf, sein ganzes Leben änderte sich. Klar, dass der über 55jährige sich mit Freunden (unter denen sich natürlich ebenfalls viele Sportler befanden), über seine Geschichte unterhielt. Und er fand heraus, dass einige ebenfalls über teils schwere Herzkrankheiten berichteten.
Die Geschichte steht – deutlich ausführlicher – im Vorwort zu „The Haywire Heart“, denn sie hat zunächst Zeitschriften-Artikel und letztlich das Buch motiviert. Zinn ist Mitautor neben dem renommierten Kardiologen Dr. John Mandrola sowie Chris Case, dem Chefredakteur von VeloNews, wo der Titel (leider nur auf englisch) erscheint. Case hat ebenfalls einen Universitätsabschluss in Neurowissenschaften.
Worum geht es den Autoren? Stark vereinfacht gesagt: Deutlich zu zeigen, dass es eine Dosis an Sport und Belastung im Leben gibt, die schädlich für das Herz sein kann, was bereits im Titel anklingt. Er würde frei auf Deutsch übersetzt lauten: „Das verrückt gewordene Herz“. Zum Glück belässt es das Autorenteam nicht beim Fingerzeig. Sie geben sich auch alle Mühe, auf den 306 Seiten zu ergründen, welche Dosis „Leibesertüchtigung“ krank macht und welche anderen Einflüsse daran mitwirken. Dabei scheuen sie sich nicht, die Funktion des Herzens und insbesondere die Erregungsleitung auch in medizinischen Begriffen und mit Abbildungen zu erklären. So versteht man den Sportarzt oder Kardiologen beim nächsten Gespräch deutlich besser. Schön erklärt ist auch, an welchen Stellen und warum medizinische Studien zur Wirkung Sport begrenzte Aussagekraft besitzen können. So liest man die nächste Mitteilung zu den neuesten Trainingsmethoden mit anderen Augen. Ein ausführliches Quellen-und Stichwortverzeichnis unterstreichen die wissenschaftliche Fundiertheit und helfen beim Auffinden bestimmter Themen. Auch als kleines Nachschlagewerk zu Herz(fehl)funktionen eignet sich das Buch so.
Eindrucksvoll ist auch die Berechnung der Tagesleistung eines Herzens: Die Muskeln setzen pro Tag so viel Energie in Blutbewegung um, wie es benötigt, einen 100-Kilo-Klotz 117 Meter hoch zu heben.
Aber das ist nur die wissenschaftliche Seite. Lennard Zinn ist nicht die einzige Fallstudie. Beängstigend ist die Geschichte von Micah Truh, einem Ultra-Läufer, von dem berichtet wird, dass sein Trainingspensum bei 170 Meilen pro Woche lag, und der bei einem Trainingslauf plötzlich starb. Bei ihm, wie bei anderen, viel weniger intensiv trainierenden Sportlern, ergaben Autopsien keine Vorschädigung des Herzens durch Krankheiten oder Entzündungen, auf die plötzlicher Herztod oft zurückgeführt wird. Ihre Geschichten helfen Lesern womöglich, Symptome am eigenen Körper zu erkennen. Und um die Erklärung solcher Fälle geht es in „The Haywire Heart“. Die Studien, die Zinn & Co. heranziehen, legen nahe, dass der Sport in solchen Fällen die Ursache für die Herzschäden ist und nicht die Vorbeugung gegen eine Krankheit. „Wenn Sie ein bekennender Ausdauerathlet sind, müssen Sie wahrscheinlich ihre Auffassung von Medizin und Training neu ausrichten, um zu akzeptieren, dass das, was Sie vorher für das Allerbeste für Ihre Gesundheit hielten, sich in das genaue Gegenteil verkehren kann, wenn man es zu extrem betreibt“, schreibt Chris Case im Nachwort zum Buch.
Doch was bedeutet „zu extrem betreiben“? Welche Dosis Sport ist schädlich? Viele Fallbeispiele, die angeführt werden betreffen Athleten, die bereits jahrzehntelang kompetitiv Sport treiben. Einige sind Amateursportler mit Erfolgen auf nationalem Niveau, aber einige fallen auch eher in die Kategorie durchschnittliche Hobbysportler. Zu letzeren zählt auch das Beispiel von Genevieve Halverson. Sie bestritt zwar in ihrer Jugend Radrennen, verringerte aber als junge Erwachsene ihr Training und begann erst mit 40 wieder intensiver Rad zu fahren. Dabei ging es ihr laut Autoren vor allem um sogenannte „Centurys“, die vergleichbar sind mit 150 km langen RTF’s in Deutschland. Dort wollte sie bei den Schnellen mitfahren. Eines Tages fühlte sie sich kurzatmig auf dem Rad, später stellte sie (ohne Pulsmesser) Herzrasen fest. Die Autoren führen das Beispiel an, weil anschließend eine Odyssee von Arzt zu Arzt folgte, wobei der Radsportlerin unter anderem eine Angststörung bescheinigt wurde. Tatsächlich, stellte sich schließlich heraus, litt sie unter Vorhofflattern und Vorhofflimmern.
Dass die richtige Diagnose so lange unerkannt blieb, führen die Autoren unter anderem darauf zurück, dass bei Frauen häufiger Stress oder Psyche als Ursachen für organische Erkrankungen zunächst angenommen werden. Sie raten Sportlern generell, andere Sportler mit ähnlich hohen Trainingspensen nach Empfehlungen für Fachärzte zu fragen.
Wiederum typisch für viele Fälle, die im Buch geschildert werden, ist, wie Genevieve Halverson auf die richtige Diagnose reagierte: mit Trauer, dass sie ihr Sportlerleben, wie sie es gewohnt war, aufgeben würde müssen. Ebenfalls nicht ungewöhnlich ist, dass sie alles versuchte, um den Sport aufrechterhalten zu können, bis hin zu Ablationen. Hoffnung machten ihr dabei auch andere Sportler, denen mit operativen Methoden geholfen werden konnte, manche sind publik wie der Fall von Tim Cole. Letztlich fand sie sich in eine gemütlichere Ausübung ihres Sports ein, wie auch Mitautor Lennard Zinn.
Die Antwort auf die Frage, welche Dosis Sport das Herz krank macht, kann nur individuell gegeben werden. Das sagt schon der gesunde Menschenverstand und man weiß es spätestens nach der Lektüre der ersten 100 Seiten des Buches. Alle Autoren betonen, dass extremer Ausdauersport nicht immer, noch nicht einmal besonders häufig zu einem „Haywire Heart“ führen muss. Sie vergleichen den Zusammenhang zwischen der Überdosis Sport und der Herzkrankheit aber immerhin mit dem zwischen „Rauchen und Krebs“. Dabei grenzt das Team das größte Risiko stark bei einer bestimmten Personengruppe ein:
Athleten im Masters-Alter ab 50, die bereits jahrzentelang mehrmals pro Woche intensiv trainieren und sich vor allem keine ausreichenden Erholungszeiten gönnen scheinen besonders gefährdet zu sein. Das ist, was sich als sehr verkürzte Essenz aus der Lektüre aufdrängt.
Es besteht kein Zweifel – auch nicht in „The Haywire Heart“ -, dass Sport in Maßen rundum zu empfehlen ist, was hier gut zusammengefasst wurde. Aber auch in Deutschland ist die Diskussion, ob zuviel Sport das Herz schädigt längst angekommen. The „Haywire Heart“ kann deutschen Sportlern (die Englisch gut verstehen) helfen, ein Verständnis von der Funktion des Herzens zu entwickeln, Warnzeichen überhaupt als solche zu erkennen und eine Idee zu bekommen, mit welchem Risiko extreme Sportausübung einhergeht. Nützlich ist das Buch auch für Sportler, wenn sie bereits eine eigene Krankheitsgeschichte mit dem Herzen haben. Denn die Erklärungstiefe und gleichzeitig sehr verständliche Schreibweise des Buches, unterstützt dabei, die Entwicklung von Herzfehlfunktionen und ihre Folgen regelrecht zu durchdringen. Allerdings kann bei der Lektüre eine Online-Übersetzungshilfe für die medizinischen Fachbegriffe nicht schaden.
„The Haywire Heart“ ist in Deutschland über den Online-Buchhandel erhältlich und kostete dort bei Erstellen des Artikels 21,64 Euro.
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