Bei Dead Ends & Dolci bildet das Tessin die Bühne für ein ebenso anspruchsvolles wie ansteckendes Ultracycling-Event: Die Sackgassen der stimmungsvollen Alpentäler werden auf eigene Faust mit eigener Routenwahl erkundet und am Ende wartet immer ein Leckerli. Nathalie Schneitter hat in allen Sackgassen für uns nachgeschaut. Hier ihr Reisebericht von Dead Ends & Dolci 2023.
Ultracycling – ist das nicht nur etwas für Verrückte? Und dann auch noch „unsupported“, also ganz ohne Hilfe von außen? Vielleicht ist es das fortgeschrittene Alter (die 40 rückt auch für mich langsam in Griffweite), das mich plötzlich den Reiz der richtig langen Tage im Sattel empfinden lässt. Vielleicht ist es aber auch der Fakt, dass ich beim stundenlangen Pedalieren am allerbesten meinen Kopf lüften kann. Und solch lange Distanzen auf mich selbst gestellt zu bewältigen, ohne Supportteam, das passt genau zur heimlichen Abenteurerin in mir.
Um mal in diese für mich neue Disziplin reinschnuppern zu können, entscheide ich mich für das „Dead Ends & Dolci“ Ende April im Tessin, in der italienischsprachigen Schweiz, die dank dem Sprung über die Alpen schnell Urlaubsgefühle aufkommen lässt. Der Event schafft den Spagat, Teilnehmende anzusprechen, die sich an ihre körperlichen und mentalen Grenzen pushen möchten, aber auch jene, bei denen das Erlebnis im Vordergrund steht, die „Party Pace“ fahren (den Ausdruck verwendet die Ultra-Community tatsächlich – gefällt mir!).
So gibt’s tatsächlich einen Verrückten, der sich die Schneeschuhe auf den Rücken schnallt
Das Konzept ist so einfach wie genial: Start und Ziel ist definiert im schönen Bellinzona, fünf Checkpoints in Sackgassen müssen angefahren werden – Reihenfolge egal. Routenplanung? Jedem selbst überlassen! Welches Fahrrad sich für das Event eignet, hängt von der geplanten Route ab, oder von der Abenteuerlust. So gibt’s tatsächlich einen Verrückten, der sich die Schneeschuhe auf den Rücken schnallt, um eine „Abkürzung“ über einen Gebirgsübergang zu bewältigen. Ob sich die Abkürzung auf mehr als die Anzahl zurückgelegter Kilometer positiv auszahlt, muss sich zeigen, das Abenteuer ist jedoch garantiert.
Ich komme bei meiner Routenplanung zunächst schnell an meine Grenzen. In welcher Reihenfolge will ich die Checkpoints fahren? Macht es mehr Sinn, von Bellinzona aus zunächst in den Norden oder in den Süden zu fahren? Wie geht im Tessin der Wind normalerweise? Fragen über Fragen, die mein Hirn komplett blockieren. Nachdem ich zweimal die Planung wieder abgebrochen habe, gebe ich mir einen Ruck und entscheide, dass ich meine Route vor allem nach dem Kriterium planen will, was mir im Kopf am einfachsten fällt.
Und so geht’s zunächst in den Norden, um Checkpoints einzusammeln, bevor ich in den Süden rolle, um erst ganz zum Schluss den letzten Checkpoint im südlichsten Zipfel der Schweiz anzupeilen. Nachdem die Route geplant ist, ist schnell klar, dass das Rennrad das schnellste Arbeitsgerät ist. Es gibt zwar ein paar – für mich sinnvolle – Abkürzungen auf Kies oder Trail, aber für den großen Teil besteht meine Strecke aus schnellem Asphalt.
Es gibt zwar ein paar – für mich sinnvolle – Abkürzungen auf Kies oder Trail, aber für den großen Teil besteht meine Strecke aus schnellem Asphalt.
Trotzdem schaue ich mir die Route nochmals ganz genau an und finde drei Abkürzungen, die ich trotz Rennrad nehmen will. Da meine fahrtechnischen Fähigkeiten bedeutend besser ausgeprägt sind, als meine Fähigkeiten als Bergziege, ist für mich schnell klar, dass sich dies auch in meiner Routenplanung widerspiegeln muss. 460 Kilometer mit rund 8.500 Höhenmetern, das sind die Eckpunkte meiner Route und ich frage mich, ob dies für mich machbar ist an einem Stück? Die längste Radfahrt meines Lebens war bisher rund die Hälfte davon, in Kilometern sowie Höhenmetern.
Der Startschuss fällt am Freitag, 28. April, um 6 Uhr morgens. Da aber jeder seiner eigenen Route folgt, zerfällt das Feld schnell und Windschattenfahren ist sowieso nicht erlaubt. Selfsupported ist eben selfsupported. Ich plaudere im ersten Aufstieg mit einigen anderen Teilnehmenden, doch schnell wird mir klar, dass sich jeder auf sich selbst konzentrieren muss und es absolut zwingend ist, ein gutes Tempo für sich selbst zu finden.
Meinen ersten Checkpoint im Calanca Tal erreiche ich nach rund zwei Stunden. Hier gibt’s den Stempel zum Beweis, dass ich hier war, Kaffee und Kuchen und einen ersten Toilettenstopp und nach ca. 6 Minuten geht es wieder weiter für mich. Ich merke: So viel Zeit wie ich hat sich an diesem Checkpoint um mich herum niemand genommen – Lektion gelernt: Ich muss effizienter sein!
Anstatt wie die meisten anderen die asphaltierte Straße zurück ins Tal zu nehmen, entscheide ich mich für den Wanderweg, um einige Kilometer einsparen zu können, meine 32 mm-Tubeless-Reifen sollten dies für mich möglich machen. Der Trail ist ruppig, aber fahrbar und ich versuche so gut wie möglich, alle spitzen Steine zu umfahren. Die Strategie lohnt sich. Rund zehn Minuten gewinne ich durch die mutige Routenwahl – aber natürlich nur, weil ich ohne Defekt durchkomme.
Ich versuche nun ein gutes Tempo anzuschlagen, aber finde meinen Tritt nicht so wirklich. Ich frage mich, warum ich dies hier überhaupt mache. Meine Beine schmerzen, ich kriege Hunger und schlechte Laune. 50 Kilometer später finde ich nach einem kurzen Stopp an einer Tankstelle zu mir zurück, quasi von einer Sekunde auf die andere komme ich in den Flow und bringe Druck auf die Pedale.
In der kurzen Schneeabfahrt setze ich mich aufs Oberrohr, die Füße ausgestreckt zum Balancieren.
Den zweiten Checkpoint nach rund 160 Kilometer auf 1700 m über Meer erreiche ich mit richtig guter Laune, obwohl es gerade anfängt zu regnen. Hier gibt es noch Schnee und in der kurzen Schneeabfahrt setze ich mich aufs Oberrohr, die Füße ausgestreckt zum Balancieren – ein bisschen Spaß muss einfach sein. Den Kuchenstopp hingegen lasse ich aus, weil ich richtig friere und stoppe dafür im Tal für Espresso und ein Sandwich in Faido. Zufällig treffe ich auf meine Freunde, die Gehrig Twins, und wir kippen einen Kaffee zusammen. Sie sind eher Party Pace unterwegs, fiebern aber mit mir mit und das Treffen gibt mir viel Energie. Fast 100 km geht es nun mit Gegenwind talabwärts. Von „abwärts“ spüre ich jedoch nicht viel, es ist eher ein ewiges Flachstück. Nach 230 km wartet in Locarno endlich der nächste Stopp, um mich mit Kalorien einzudecken. Der Tankstellenshop scheint der effizienteste Ort dafür zu sein und ich gönne mir Weißbrot mit Käse, ein alkoholfreies Bier, eine Packung Chips und einen Schokoriegel.
Gestärkt nehme ich den Aufstieg zum Checkpoint 3 in Angriff, die Sonne zeigt sich im Tal Vergeletto und ich fahre mit Sonne im Gesicht und einem vollen Herzen dem nächsten Stück Kuchen entgegen. Einmal mehr lässt mich die Schönheit der Schweiz demütig werden und ich freue mich über diese versteckten Perlen, die ich auf dieser Fahrt entdecken darf.
Wahrscheinlich hatten vor mir schon etliche andere dieselbe Idee und sie ist praktisch leergekauft.
Um 21 Uhr bin ich nach 280 km zurück in Locarno und kehre nochmals bei der nun schon vertrauten Tankstelle ein. Sie sieht aber innen nicht mehr vertraut aus: Denn wahrscheinlich hatten vor mir schon etliche andere dieselbe Idee und sie ist praktisch leergekauft. Ich kaufe ein Fleischkäse-Sandwich, welches unter normalen Umständen niemals den Weg in meinen Bauch finden würde, eine Banane und eine Packung Chips. Süßigkeiten kann ich nicht mehr sehen, ich will Salz! Die Chips esse ich noch vor Ort, den Rest packe ich ein und esse ihn dann fahrend. Mittlerweile bin ich in der Ultracycling-Effizienz angekommen. Gestoppt wird nur, wenn absolut nötig.
Während die meisten nun über den Monte Ceneri fahren, entscheide ich mich, den Lago Maggiore entlangzufahren und meinen vierten Checkpoint dann vom italienischen Luino aus anzufahren, natürlich mit etwas Offroad Action. Durch die Offroad Variante verwandle ich die Sackgasse zu einer Passhöhe, die den Lago Maggiore und Luganersee verbindet, was für mich mental sehr viel einfacher ist. Die holprige Trailpassage war im Dunkeln zwar eine ziemliche Herausforderung, doch auch eine willkommene Abwechslung. Beim Checkpoint werde ich von einem Lagerfeuer überrascht und wäre in der gemütlichen Stimmung gerne etwas sitzen geblieben. Doch ich bin auf einer Mission, und obwohl Mitternacht bereits vorbei ist und ich seit rund zwölf Stunden unterwegs bin, habe ich noch immer Spaß und fühle mich relativ frisch. Am Checkpoint knalle ich mir ein Schokoladencroissant rein und weiter geht die wilde Fahrt.
Ich kann Süßes einfach nicht mehr sehen.
Ein Checkpoint fehlt noch und für diesen muss ich bis ganz in den Süden fahren. Den Luganersee entlang bis nach Mendrisio und dann hinein ins Valle di Muggio. Langsam spüre ich die Müdigkeit, stundenlanges Pedalieren in der Dunkelheit ist eine Kunst für sich. Ich kämpfe mich bis zum Checkpoint gut durch und muss dann schweren Herzens den angebotenen Apfelstrudel zurückweisen, ich kann Süßes einfach nicht mehr sehen. Stattdessen esse ich eine Banane und ein Salted Peanut Gel und mache mich wieder auf den Weg in Richtung Mendrisio.
Schnell merke ich jedoch beim Weiterfahren, dass meine Konzentration nachlässt und ich entweder Koffein oder einen Powernap brauche. Ich entscheide mich dafür, bis ins Tal zu fahren, weil es doch bedeutend wärmer ist, und dann einen Powernap einzulegen. Mit Helm und Primaloft-Jacke lege ich mich auf ein Stück Rasen am Straßenrand, setze den Timer in meinem Telefon auf 15 min und schlafe sofort ein. Fünfzehn Minuten später geht der aggressive Alarm und ich bin sofort wach.
Ich steige aufs Rad und fahre los und überraschenderweise fühle ich mich frisch. 70 km habe ich noch vor mir. An einem normalen Tag würde ich denken, dass das eine richtig weite Fahrt ist, da ich aber schon fast 400 km in den Beinen habe, haben sich das Empfinden für Zeit und Distanz komplett gewandelt. Der kurze Schlaf hat Wunder bewirkt und ich bringe wieder Druck aufs Pedal. In Lugano verfahre ich mich kurz, doch ich finde schnell wieder auf meine Route zurück. 400 Höhenmeter warten am Monte Ceneri auf mich, auf dem Weg zurück muss ich also trotzdem noch über diesen Berg, obwohl ich ihn nicht besonders mag. Doch mit dem Ziel vor Augen schätze ich die breite Straße zurück in Richtung Bellinzona sogar.
23 Stunden und 24 Minuten war ich unterwegs am «Dead Ends & Dolci», insgesamt habe ich 61 Minuten Pause gemacht – inklusive Powernap. Dass ich solch eine Leistung überhaupt vollbringen kann, hätte ich mir im Vorfeld nicht zugetraut. Aber wie so oft im Leben gilt auch im Ultracycling: Einfach ein Pedaltritt nach dem anderen und irgendwann ist man im Ziel und dann kommt es gut!
Würde ich sowas wiedermachen? Absolut ja! War es langweilig? Definitiv nein! Würde ich es einem Freund:in empfehlen? 100 %! Muss man wie ich alles am Stück durchfahren? Ganz klar nein! Party Pace ist im Ultracycling nicht umsonst ein bekannter Begriff!
Anmerkung der Redaktion: Wir wussten es: Badlands war nur eine Übung. Nathalie beendete Dead Eands & Dolci als schnellste Frau mit einer Zeit von 23 Stunden und 24 Minuten, wobei sie mit 61 Minuten Ruhezeit auskam. Der Bericht vom nächsten Ultracycling-Event ist schon in der Vorbereitung. Bleibt dran.
Infos Dead Ends & Dolci
Strecke und GPS-Daten
Die von Nathalie gefundene Route hatte am Ende 457 km mit 8.700 Höhenmetern und enthielt auch Gravel-Passagen als Abkürzung zwischen den Sackgassen-Tälern.
Unterkünfte
Geschlafen wird wie bei Ultracycling-Events, wo es sich gerade anbietet. Meist unter freiem Himmel oder an Unterständen wie Bus-Haltestellen oder Hütten.
Dolci Challenge
Neben dem Ultracycling-Event mit gemeinsamem Start im April, gibt es auch eine zugänglichere Version im Stil einer „Permanente“. Hier können die Checkpoints in einem Zeitfenster von Juli bis September individuell angefahren werden. Mehr Infos: www.deadendsedolci.ch
So geht’s: Dolci Challenge
- Hol Dir deine Brevet-Card im BikePort-Büro in Bellinzona (Viale Stazione 36b, Bellinzona, beim Bahnhof auf Gleis 1).
- Die Gebühr von CHF 35.- pro Person kann vor Ort bezahlt werden (während der Öffnungszeiten – 7 Tage die Woche)
- An allen Checkpoints gibt es eine Box mit einem Stempel. Mit der Brevetkarte erhältst du in den Partner-Restaurants (während der Öffnungszeiten!) ein Gratis-Dolci.
- Die genaue Lage der Partner-Restaurants an den Checkpoints oder in deren Nähe, findest Du in der Komoot Collection!
- Planen, fahren, genießen und Dolci essen.
Über Nathalie Schneitter
Nathalie Schneitter startete ihre internationale Mountainbike-Karriere im Jahr 2004 mit dem Gewinn des Cross-Country-Weltmeistertitels bei den Juniorinnen. Seither ist sie Vollgas auf den Rennstrecken dieser Welt unterwegs. In Jahr 2008 qualifizierte sie sich für die Olympischen Spiele in Peking und 2010 sicherte sie sich den Heimsieg beim Cross-Country-Weltcup in Champéry und 2019 wurde sie erste E-MTB Weltmeisterin der Geschichte. Im Organisationsteam der Cycle Week in Zürich hat sie die Messeleitung.
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