Wie entsteht eigentlich ein Rennrad? Für eine Antwort auf diese Frage ist Giant in Taichung vielleicht die beste Adresse. Denn hier steht das Vorzeigewerk des größten Fahrrad-Herstellers der Welt. Die Produktion beginnt hier mit der Herstellung des Rohstoffs für Carbonrahmen und endet mit dem verpackten Rad. Normalerweise bleiben die Werkstore verschlossen, aber zur Premiere des Giant TCR 2024 öffneten sie sich – und wir geben unseren Einblick weiter.
Video: So entsteht ein Giant TCR Carbon-Rahmen
Besuch bei Giant in Taichung
Die Skulpturen eines Rennradfahrers und eines BMXers in einem gepflegten Garten mit sorgsam beschnittenen Bäumen: Das ist das Erste, was Besucherinnen und Besucher vom Giant-Werk in Taichung, Taiwan sehen. Beide Standbilder spielen eine zentrale Rolle im Aufstieg des Unternehmens zum größten Fahrrad-Hersteller der Welt. Und die Geschichte, die hinter den Denkmälern steckt, erzählt auch etwas über die Entwicklung der ganzen Branche. Genauso wie Tatsache, dass Giant zur Premiere des Giant TCR Advanced 2024 die Türen zur sonst streng verschlossenen Carbonrahmen-Produktion erstmals öffnete.
Doch zunächst einen Schritt zurück. Denn das Werk am Rand von Taichung ist nur der ältere von zwei Standorten Giants in der 2,8-Millionen-Metropole. Der Hauptsitz liegt ebenfalls hier, an der Westküste Taiwans, wo rund 900 Unternehmen der Fahrradbranche ihren Sitz haben. Dort empfängt Giant eigentlich seine Gäste. Denn er verkörpert viel besser den Stolz und die Ambitionen, die der größte Fahrradhersteller der Welt hat.
Das weiß-glänzende Gebäude mit geschwungener, in sich gedrehter Aluminium-Fassade fügt sich blendend zwischen die Hallen des größten Chip-Herstellers der Welt, TMSC, die es an vielen Seiten umgeben. Rundum entsteht Hochtechnologie, hierin steckt Produktions-Know-how. Und auch Giant ist stolz, dass man mit eigenen Entwicklungen und Fertigungstechnik die Branche vorantreibt.
Es geht nicht nur um Fahrradherstellung, sondern um Mobilität und den Spaß daran. Das spiegelt sich auch darin, dass Giant YouBike betreibt, ein Fahrradverleih-Netz in den größten Städten des Landes. Mit dem Selbstbewusstsein eines Mobilitätsherstellers hat Giant zudem ein eigenes Fahrradmuseum direkt neben der Konzernzentrale errichtet, das Cycling Culture Museum. Auf mehreren Ebenen macht es die Geschichte des Fahrrades und seine Technik von den Anfängen bis heute erfahrbar. Und es erinnert architektonisch bestimmt nicht zufällig an europäische Autopendants.
Größter Fahrradhersteller der Welt
Giant will nicht nur produzieren – obwohl 5,5 Millionen Fahrräder, die aus den 9 Werken pro Jahr kommen, Marktführerschaft bedeuten. Man will mitgestalten und sieht sich auch als Fahrradbotschafter. Firmengründer King Liu fuhr schon 2007 eine 15-tägige Radtour durch Taiwan, um in China den Radsport-Lifestyle populär zu machen. Das jüngste Beispiel: Als eines der wenigen Fahrradunternehmen der Welt kreierte Giant mit Liv eine eigene Frauenmarke. Der Schritt geht zurück auf Firmenchefin Bonnie Tu. Sie überzeugte nach eigenen Angaben gegenüber der ARD auch Komponentenhersteller in dreijähriger Überredungskunst, dass Frauen andere Brems- und Schalthebel-Designs brauchen, weil sie in der Regel kleinere Hände haben. Übrigens sind bei Giant höhere Positionen zu 30 % mit Frauen besetzt.
Und damit schließt sich der Kreis zur Skulptur des BMX-Bikers vor dem Giant Werk. Denn mit einem selbstbewussten Schritt vom Auftragsproduzenten zur eigenen Entwicklung und Marke begann die eigentliche Giant-Story. 1972 als Produzent gestartet, wuchs die Firma vor allem mit Fertigung von Bikes aus Stahl für die US-Marke Schwinn und produzierte bald den Löwenanteil der Modelle für die US-Traditionsmarke, in den 80ern auch viele BMX-Bikes (nicht nur für Schwinn). Und mit BMX Bikes startete Giant auch die eigene Marke, während Schwinn nach dem Bruch mit Giant den Anschluss verlor. Auch beim Schritt zur Carbon-Massenproduktion war Giant Vorreiter. Bereits 1987 brachte Giant als erstes Unternehmen einen Serienrahmen aus Carbon auf den Markt: das Rennrad Cadex 980 C, das im Fahrradmuseum stolz ausgestellt ist.
Für die Zukunft hat sich Giant im Hinblick auf Nachhaltigkeit definierte Ziele gesetzt: Bis 2030 sollen 15 % des Energiebedarfs aus erneuerbaren Ressourcen gedeckt werden, der Wasserverbrauch soll um 30 % sinken und zu 88 % sollen bis dahin Farben auf Wasserbasis zum Einsatz kommen.
GTM – Giant Werk Taichung
In dem Werk in Taichung, vor dem die Rennrad- und BMX-Skulpturen stehen, steckt auch die Erfahrung aus 40 Jahren Carbon Composite-Produktion. „Giant Taiwan Manufacturing“, wie es heißt, ist die wichtigste im Verbund der 9 Produktionsstätten, zu denen auch zwei in Europa gehören. Mit einer Fläche von 67.000 Quadratmetern ist GTM so groß wie ein kleines Dorf und hat tatsächlich einen eigenen Wasserturm. Rund 2.000 Arbeiterinnen und Arbeiter fertigen hier im Zweischichtbetrieb allein eine Million Fahrräder pro Jahr. Dabei sind die Arbeitszeiten mit 8 Stunden pro Tag plus 50 Minuten Pause viel näher an europäischen Verhältnissen, als sich viele auf dem alten Kontinent vorstellen.
Dass nach wie vor Modelle anderer Marken die Hallen von GTM verlassen, ist ein offenes Geheimnis. Rund 30 % der Produktion geht auf deren Konto, sagt Andrew Juskaitis während der Führung. Die Carbonproduktion werde gerne genutzt. Giant teile jedoch nicht die eigenen Fertigungsverfahren und das Engineering, man setze um, was die anderen Hersteller vorgeben, darauf legt Juskaitis Wert.
Im Giant-Werk entstehen sowohl Aluminium- als auch Carbonrahmen sowie Kompletträder. Und um Qualität und Produktionsmengen steuern zu können, strebt Giant nach größtmöglicher Fertigungstiefe. Auch Carbon-Felgen, -Lenker, -Vorbauten, -Sattelstützen und viele andere Komponenten stellt Giant selbst her. Es fehlt nicht viel, bis nur noch die Antriebs- und Schaltkomponenten von anderen großen Marken kommen.
Carbonrahmen-Produktion bei Giant
Ein hervorragendes Beispiel, wie weit die Fertigungstiefe geht, ist die Carbonrahmenproduktion. In die gab Giant zur Vorstellung des neuen Giant TCR Advanced (hier zum Giant TCR Advanced SL Test) erstmals einer internationalen Journalistengruppe einen Einblick. Genauer gesagt: in die Fertigung des Rahmens und der Komponenten für das Rennrad-Top-Modell, das auch das Aushängeschild für den Stand der Technik bei den Fertigungsmethoden ist.
TCR Rahmenproduktion nach Zahlen
Doch zunächst etwas Statistik: Den TCR Advanced SL-Rahmen fertigt Giant vollständig im eigenen Haus, nur die puren Carbonfasern kommen von außerhalb. Aus 270 einzelnen Teilen besteht ein TCR Advanced-Rahmen und es dauert rund 11 Stunden, bis sie zum rennfertigen Produkt zusammengefügt sind. Dabei geht der Rahmen im Laufe der Produktion durch 56 Handpaare – und über die Gabel, die auch im eigenen Haus entsteht, haben wir jetzt noch gar nicht geredet.
Carbonlaminat herstellen
Wie geht es also los mit der Rahmenproduktion? Um den Vorgang zu verstehen, muss man wissen, wie die meisten Carbonrahmen heutzutage zusammengesetzt sind: aus harzgetränkten Carbon-Fasersträngen. Vor der Verarbeitung liegen sie in einer vorbestimmten Anordnung auf einem Trägermaterial. In der Produktion werden sie in Handarbeit von den Matten genommen und in Lagen überlappend um Formen drapiert. Wie die Faserstränge dabei liegen und wie das Harz zusammengesetzt ist, entscheidet zu großem Teil über die späteren Eigenschaften des Rennradrahmens. Mehr Harzanteil macht beispielsweise schwer, um den einfachsten Zusammenhang zu nennen.
Bei Giant beginnt der Carbonrahmenbau schon mit dem Mischen des Harzes für die Faserverbund-Matten. Für das Giant Advanced SL Composite, den Carbonwerkstoff mit der höchsten Qualität, werden etwa sogenannte Nanotubes beigemischt. Sie sollen dem Material laut Giant eine höhere Stoßfestigkeit bei geringerem Gewicht verleihen. In einem exakt Klima-kontrolliertem Raum kommt dann die Harzmischung in ständig überwachter Schichtdicke auf eine weiße Trägerfolie und wird aufgerollt. Unweit der Maschine lagern die rohen Carbonfasern – für die es laut Giant übrigens nur 5 Produzenten weltweit gibt – in einer Kühlkammer.
Nebenan seht schon die nächste Maschine bereit. Hier laufen die Carbonfaser-Stränge von vielen Rollen zusammen, um verwebt zu werden und mit dem harzgetränkten Trägermaterial verbunden zu werden. Die Kontrolle über die Anordnung der Stränge auf dem Material liegt dadurch vollständig bei Giant. Alternativ ist es üblich, vorgefertigte Carbonfasermatten zu kaufen – sogenannte „Prepregs“. Die fertigen Prepregs lagern auf Rollen wie die rohen Fasern zunächst weiter im Kühlraum.
Etwas aus dem Lexikon: Die Bezeichung „UD-Carbon“, mit der häufig Rennradrahmen beworben werden, bedeutet lediglich, dass die Faserstränge auf dem Trägermaterial alle in eine Richtung laufen. Wenn von 12k oder 24k und so fort die Rede ist, dann bezieht sich das auf die Anzahl der einzelnen Carbon-Fäden in den Rovings, die ganz oben im Bild von der Spule laufen. Beides sagt an sich noch nichts über die Qualität eines Carbonrahmens aus. Die entscheidet sich vor allem bei der materialgerechten Konstruktion und Weiterverarbeitung.
Prepregs zuschneiden – im Verborgenen
Schonmal eine Vase in Geschenkpapier von der Rolle verpackt? Genau, ohne Faltenbildung wird das schwer. Carbonfasermatten dürfen auf den komplexen Formen des Rahmens keine Falten bilden – die schwächen die Struktur. Deshalb müssen aus den aufgerollten Prepregs passende Stücke herausgeschnitten werden, die sich faltenlos mit den Fasern in der richtigen Richtung auf Formen legen lassen. Leider dürfen wir nicht zeigen, wie sie geschnitten werden. Es kann per Laser geschehen oder mit einer neueren, geheimeren Technik, die für Advanced SL-Carbonrahmen zum Einsatz kommt. Giant nennt es Cold Blade Cutting. Wir merken uns an dieser Stelle: Cold Blade Cutting ist genauer und macht weniger Abfall.
Rahmenteile belegen
Der nächste Schritt ist sozusagen das Herz der Carbonrahmen-Produktion. Arbeiterinnen platzieren die Fasermatten nach einem genau vorbestimmten Schema auf Kunststoff- oder Wachs-Körpern. Weil dabei höchste Präzision und Fingerfertigkeit gefragt ist, arbeitet in dieser Abteilung nur, wer sich an anderen Standorten schon durch die gefragte Geschicklichkeit hervorgetan hat, erklärt Andrew Juskaitis. Alle Frauen, die wir sehen, haben sozusagen schon ein internes Auswahlsystem durchlaufen.
Carbonrahmen aushärten
Die Strukturen, um die die Carbonfaser-Zuschnitte gelegt werden, sind meist aufblasbar. Grund: Im nächsten Schritt kommt der Rohling in eine Art Backform, die sogenannte „Mould“. Von ihr ist oft die Rede, wenn es um Carbonrahmen geht. In der Mould wird der Rohling zum einen in einem riesigen Backofen so temperiert, dass das Harz aushärtet. So wird aus einem wabbeligen Faser-Harz-Gebilde ein hochfester Rennradrahmen. Außerdem wird der Rahmen zudem durch Luftdruck in die Form gepresst, wobei überschüssiges Harz gleichzeitig aus dem Faserverbund herausgepresst wird.
Etwas Hintergrund: Weil die Moulds aus Stahl sind, ist ihre Anfertigung ein hoher Kostenfaktor. Zwischen 75.000 US-Dollar und 100.000 US-Dollar nannte Juskaitis als Richtwert für die Kosten einer Mould. Manche Hersteller erlauben deshalb auch verschiedenen Marken, ihre Moulds zu nutzen. Das ist gemeint, wenn von „Open Moulds“ die Rede ist.
Nachbearbeiten
Wie beim Kuchen stehen auch beim Highend-Carbonrahmen nach dem Aushärten noch hier und da Reste vom „Backen“ ab. Erster Schritt nach dem Aushärten ist deshalb das Nachbearbeiten, erneut in Handarbeit. Es geschieht in einem Raum, in dem ständig ein Wasservorhang die Wände hinabläuft, um den Carbonstaub aufzunehmen. Wir konnten nur einen kurzen Blick in diesen Arbeitsschritt bei der Felgenproduktion werfen – Giant fertigt auch die eigenen Laufradsätze in Taichung.
Testen
Carbon ist ein anspruchsvoller Werkstoff. Denn Fehler in der Fertigung sind auf der Oberfläche meist nicht zu erkennen – wenn sich etwa beim Aushärten Lagen nicht richtig verbunden haben sollten und Harzblasen dazwischen liegen. Wer wissen will, wie ernst Giant die Fertigungskontrolle nimmt, muss den Röntgenraum aufsuchen. Hier wird jede Carbongabel geröntgt, bevor sie in Rahmen zum Einsatz kommt. Der Apparat ist rund um die Uhr im Dreischichtbetrieb im Einsatz.
Giant gehört in unseren Tests stets zu den Fahrradherstellern, die großzügige Gewichtsbeschränkungen haben. Cyclocross- und Gravel-Bikes der Marke dürfen etwa mit bis zu 150 kg beladen werden (Fahrer/Fahrerin 136 kg). Das nötige Vertrauen in die eigenen Produkte liefern die eigenen Tests, die laut Juskaitis mit Belastungen von 20 % über der ISO-Norm durchgeführt werden. Rahmen, Gabeln, Sattelstützen, Lenker, Vorbauten, alle Teile aus der Produktion werden in einem riesigen Testmaschinenraum stichprobenartig verschiedenen Belastungen ausgesetzt. Ob die Gabeln oder Rahmen heftigen Stoßbelastungen standhalten, wie sie bei Überfahren eines Bordsteines etwa entstehen, prüft das Ingenieursteam mit fallenden Gewichten aus verschiedenen Höhen. Rahmen müssen sich unter tausenden Wiegetritt-Simulationen genauso beweisen wie Lenker, bei denen Roboterarme immer wieder in „am Bügel“ ziehen und drücken, bis ein Fahrradleben simuliert ist.
Lackieren
Auch für die Lackierung blieben die Türen vor uns verschlossen. Sie findet ebenfalls im Haus statt, die hochwertigen Carbonrahmen bekommen ihr aufwendiges Farbkleid unmittelbar neben der Fertigungsstraße. Für das neue Giant TCR Advanced SL entwickelte Giant eine neue Art der Lackierung auf Wasserbasis, die das Gewicht noch einmal reduzierte.
Montieren
Wie im Automobilbau entsteht das fertige Rennrad bei Giant am laufenden Band. Sprich, die Rahmen durchlaufen mit festgelegter Geschwindigkeit eine Montagestraße und alle Arbeiten erfolgen, während sich der Rahmen weiter bewegt. Nur der Karton, der am Ende wartet, steht still. Die Produktionsplanung erfolgt weit im Voraus. Bei den hohen Stückzahlen ist es wichtig, die passenden Komponenten rechtzeitig in ausreichender Zahl am Lager zu haben. Wann welches Rad in welcher Farbe, Größe und Ausstattung vom Band läuft, ist ein Jahr zuvor geplant, liefert Andrew Juskaitis einen Einblick.
Verpacken und Verschicken
Wenn unser Giant TCR Advanced SL, dessen Produktion wir begleitet haben, am Ende des Bandes anlangt, ist der Rahmen bereits mit Schutzfolien versehen, der Lenker sicher und platzsparend festgezurrt und das Hinterrad lehnt am Rahmen. Ein Arbeiter hebt es in den Radkarton, verstaut die Zubehörbox und es kann ins Lager, von wo aus der Versand in die ganze Welt mit Containern erfolgt, die ebenfalls schon bereitstehen.
Und in Zukunft soll auch dieser Carbonrahmen am Ende wieder zurück zu Giant kommen. Denn bis 2030 will der Hersteller eine 100-prozentige Recyclingquote für Kohlefaser und Aluminiumlegierungen erreichen.
Was sagt ihr zu dem Einblick in die Carbonrahmen-Produktion?
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