Im Jahre 1818 soll eine Gruppe um Karl Drais, Erfinder des Laufrades, auf Draisinen von Mannheim nach Paris gerollt sein – zu Werbezwecken für die neue Erfindung. Ob diese Story stimmt, wollten zwei Wissenschaftler der Deutschen Sporthochschule Köln herausfinden. Auf zwei Laufrad-Nachbauten machten sie sich auf die 700 Kilometer lange Strecke von Mannheim nach Paris. Wolfram Lotze (Text) und Dennis Stratmann (Fotos) fuhren – pardon: liefen – eine Etappe mit.
Wir könnten genauso gut nackt oder als Clowns verkleidet durch die Gegend laufen – die erstaunten Blicke wären dieselben.
Achim Schmidt
„Wir könnten genauso gut nackt oder als Clowns verkleidet durch die Gegend laufen – die erstaunten Blicke wären dieselben“, sagt Achim Schmidt und rückt den Zylinder zurecht. Dabei wirkt er mit seinem eleganten Anzug, dem Frack und seiner Kopfbedeckung wie ein Edelmann aus vergangenen Zeiten. Genau wie Frank Hülsemann: Mit seinem Outfit aus weißem Leinenhemd, Weste und Kniestrümpfen kommt er etwas rustikaler, aber auch sehr vornehm daher. Das Besondere ist aber nicht die Kleidung, sondern ihr Unterbau: Die beiden bewegen sich auf Nachbauten historischer Laufmaschinen. In 15 Etappen wollen sie die 700 Kilometer lange Strecke vom Startort in Mannheim zum Ziel in Paris rollen. Auf alten Postrouten, matschigen Nebenstrecken und bisweilen abenteuerlichem Geläuf. Sie möchten am eigenen Körper erfahren, ob die vermutlich erste mehrtägige Radreise der Weltgeschichte im Jahre 1818 tatsächlich so stattgefunden hat.
Alles sollte so originalgetreu sein wie möglich. Das Vehikel, die Kleidung, die Nahrung.
Es gibt zwar Aufzeichnungen aus dieser Zeit, aber keine Beweise. Sicher ist nur, dass die Laufräder damals in Paris ankamen. Radreise oder Legende? Das möchten Hülsemann und Schmidt herausfinden. Die beiden sind ambitioniert, aber nicht übereifrig. Hülsemann: „Wir sind hier auf keiner Mission unterwegs! Uns interessiert einfach die Frage, ob eine solche Reise möglich war.“
Die Idee zu der Abenteuer-Tour stammt von Frank Hülsemann. Er hat schon mehrere Ausdauerprojekte mit historischem Hintergrund umgesetzt, absolvierte etwa einen Staffellauf auf alten Inkarouten oder fuhr mit dem Mountainbike 6.000 Höhemeter auf den Ojos del Salado in Chile, den höchsten Vulkan der Erde. Mit Achim Schmidt, der eine Karriere als Radrennsportler hinter sich hat und bundesweit als Rad-Experte anerkannt ist, fand er den idealen Partner.
Warum die beiden ausgerechnet im wetterwendischen März unterwegs sind? „Weil die Radreise 1818 auch um diese Zeit stattfand“, erklärt Hülsemann. Schon nach drei Tagen auf dem Laufrad kommen Hülsemann und Schmidt aber Zweifel, ob die Laufräder anno 1818 die Strecke wirklich durchgefahren sind. Heute zum Beispiel rollen die Beiden stundenlang am menschenleeren Rhein-Marne-Kanal entlang und auf steinübersäten, tiefen Feldwegen. „Da ist heutzutage kein Mensch weit und breit, und da waren vor 200 Jahren mit Sicherheit auch keine Zuschauer“, so Hülsemann. Seine Vermutung: Die damalige Expedition lud die Laufräder jeweils in die Kutsche und packte sie nur aus, um durch die Städte zu fahren. „Die wollten ja Werbung für ihre Laufmaschinen machen“, so Hülsemann. Da werden die sich nicht tagelang über Äcker und Waldwege gequält haben.“ Das aber ist kein Hinderungsgrund für die beiden Kölner, es nicht doch auf den alten Postrouten zu versuchen.
Hülsemann und Schmidt haben sich für ihre Aktion Urlaub genommen, Frau und Kinder in zwei Wohnmobile gepackt und sich auf die Abenteuerreise begeben. An diesem Morgen stehen sie am Freibad in Sarrebourg im östlichen Lothringen. Während die Kinder im Matsch spielen, checken Schmidt und Hülsemann ihre Laufräder. Rasch noch die Messingnabe poliert, die Reibscheibe mit Molybdänsulfid geschmiert und die Transporttaschen gefüllt – schon sind die Laufräder wieder einsatzbereit. Vorgestern mussten sich die beiden Laufradfahrer noch über den Zaberner Berg quälen und die schweren Maschinen durch knöcheltiefen Schlamm schieben. Heute dagegen warten überwiegend asphaltierte Straßen und trittfeste Feldwege auf die zwei Abenteurer. Wer sie irgendwann aus den Augen verliert, muss nur die Ohren spitzen: Die Stahlummantelung der Holzräder macht einen mörderischen Lärm, gerade auf Feldwegen. Die Räder sind so laut, dass sich Hülsemann und Schmidt nur in den Pausen unterhalten können. Davon gibt’s einige – auch unfreiwillig.
„Nach einer Stunde auf dem Sitzbrett tut einem alles weh“, sagt Schmidt, der unter der Nadelstreifenhose längst eine professionelle Rennradhose trägt. Vorsorglich hatte er kurz nach dem Tourstart einen Teil des Rosshaares entfernt, mit dem sein Ledersitz gepolstert ist – damit’s nicht so drückt. Vergebens. An der Rahmenhöhe liegt es nicht. Sie richtet sich, wie heutzutage auch, nach der Schrittlänge. Aussparungen wie in modernen Sätteln bietet der Laufrad-Nachbau indes nicht.
„Straßburg ist für Radfahrer überhaupt ein ideales Pflaster. So gut sind wir nie wieder vorangekommen.“
Mit ihren Laufrädern und dem antiken Outfit wirken Schmidt und Hülsemann wie die Botschafter einer längst vergangenen Zeit. Wo immer sie mit ihren Draisinen durchrumpeln, machen die Passanten große Augen. Viele Autofahrer winken, einige hupen aufmunternd – und alle bewundern das Wagnis, mit solch antikem Gefährt durch die Gegend zu rollen. „Bei der Fahrt durch Straßburg haben uns ganz viele Rennradfahrer angesprochen, uns Mut gemacht und zugerufen, wie toll sie unsere Aktion finden“, berichtet Schmidt. „Straßburg ist für Radfahrer überhaupt ein ideales Pflaster. So gut sind wir nie wieder vorangekommen.“
Ursprünglich wollten die beiden pro Tag zwischen 50 und 70 Kilometer Strecke schaffen. Doch schon die erste Etappe erwies sich als schwierig – sie kamen erst gegen 21.30 Uhr und damit weit nach Einbruch der Dunkelheit bei ihren Familien und Wohnmobilen an. Da das ganze Projekt auch als Familien-Urlaub angelegt ist, verkürzten sie die Etappen auf etwa 40 Kilometer und legten besonders unattraktive Streckenteile im Wohnmobil zurück.
Sicher ist nur, dass die Holzradler damals ohne professionelle Polsterung unter der Stoffhose fuhren.
Der sportliche und historische Wert ihres Unterfangens wird dadurch nicht geschmälert. „Wir wollten beweisen, dass es technisch möglich ist, diese Strecke auf dem Laufrad zurückzulegen“, betonen Hülsemann und Schmidt. Ihr Resümee: „Prinzipiell ist das machbar.“ Schmidt musste übrigens der Grippewelle Tribut zollen und die Tour krankheitsbedingt nach neun Tagen verlassen. Hülsemann blieb gesund und lief durch bis ins Ziel.
Ob die Laufradfahrer anno 1818 nun tatsächlich durchgefahren oder nur Teilstücke abgelaufen sind, bleibt im Dunkeln. Sicher ist nur, dass die Holzradler damals ohne professionelle Polsterung unter der Stoffhose fuhren. Der abendliche Schmerz im Lendenbereich dürfte damit deutlich ausgeprägter gewesen sein als anno 2018…
Wie die Laufräder entstanden
Zwölf Monate plante und baute Frank Hülsemann nach Originalvorlagen die beiden Laufräder. Unterstützung erhielt er vom Technomuseum Mannheim, Handwerkern (darunter Wagner und Schreiner) und Mitarbeitern des Instituts für Biomechanik der Deutschen Sporthochschule. Die Räder bestehen aus Eschenholz, wiegen jeweils um die 25 Kilo und verfügen über eine mechanische Hinterradbremse – die sich allerdings gerne mit Steinen zusetzt. Den GAU gab’s zwei Tage vor dem Start der Expedition: Bei Hülsemanns Laufrad brach der vordere Hauptträger (heute als Gabel bekannt). Mit zwei massiven Stahlplatten, einigen Schrauben und handwerklichem Geschick war der Bruch aber rasch und dauerhaft repariert.
Über die Fahrer Schmidt und Hülsemann
Dr. Achim Schmidt lehrt am Institut für Natursport und Ökologie der Deutschen Sporthochschule Köln (DSHK), Dr. Frank Hülsemann ist Chemiker und am Institut für Biochemie der DSHK tätig. Beide sind ehemalige Leistungssportler – Schmidt im Straßenradsport, Hülsemann im Mittelstreckenlauf – und fast jeden Tag sportlich aktiv.
8 Kommentare