„Ein echter Suffer-Pass mit einem halben Liter Blut weniger im Tank, wie tut das?“, fragte sich die Schweizerin Nathalie Schneitter eher unfreiwillig. Eine Herbsttour an der grossen Scheidegg stellte sie im Schatten von Eiger, Mönch und Jungfrau auf die Probe. Hier die Bilder und der Bericht der herbstlichen Kletterpartie unter besonderen Vorzeichen.
Ein Suffer-Pass mit einem halben Liter Blut weniger im Tank, wie tut das? Eher unfreiwillig ließ sich diese drängende Frage, neulich beantworten. Angesichts des trüben Oktobers lockte mich einer der wenigen sonnigen Tage aufs Rennrad, um das herbstliche Farbbouquet doch noch auszukosten. Es galt, einen weiteren Punkt auf meiner Pässe-Wunschliste abzuhaken. Grosse Scheidegg heißt der Pass der Begierde und ist seit 1996, als die Tour de Suisse drüber führte, der breiteren Öffentlichkeit ein Begriff.
Manchmal liegt das Gute zu nah und es ist mir fast etwas peinlich, dass ich nur knapp eine Autostunde vom Berner Oberland entfernt wohne und den Pass trotzdem noch nie unter die Räder genommen habe. Das soll sich nun ändern. Ich starte meine Tour zusammen mit meinem Guide Lukas von Cycling Adventures im Café Velo in Interlaken. Mit Kaffee liegt man nie falsch und mit dem Bananenbrot dazu auch nicht.
Nach dem Zuckerschock radelt es sich dem Brienzersee entlang leicht und bei den ersten Rampen drücke ich deftig aufs Pedal. Kurze Rampen liegen mir – Lukas deutlich weniger. Er hechelt hinterher und schmiedet bereits Pläne, wie er es mir heimzahlen kann. Grundsätzlich fahren wir zwar nicht mit dem Messer zwischen den Zähnen Rad, aber bisschen die Muckis raushängen lassen, das haben wir beide perfektioniert.
Wir folgen dem Radweg auf der Südseite des Sees. Die meisten Rennradler bevorzugen die Nordseite, wegen der perfekt asphaltierten Strasse. Doch laut Lukas Aussage ist auch die deutlich attraktivere und verkehrsarme Südseite mit dem Rennrad gut fahrbar. Im Sommer mag das stimmen, im Herbst nach einer ausgiebigen Regenphase … naja. Es gilt, eine kurze Kiespassage mit kurzer Abfahrt zu meistern. Aufgrund meiner Offroad-Qualitäten verbuche ich einen weiteren Zwischensieg, aber auch Lukas schlägt sich mit seinen 23 mm breit bereiften, hochprofilierten Carbonlaufrädern tapfer. Dabei kommen wir auch am Grand Hotel Giessbach und den daneben liegenden, imposanten Wasserfällen vorbei. WOW!
Nach rund 30 Kilometer geht es kurz nach Meiringen in den Berg. Wer gemütliche Einstiege mag, der wird bei der grossen Scheidegg enttäuscht. Auf knapp ersten 600 Höhenmeter geht es gleich gut los und die ersten Rampen schmerzen, bis ein angenehmer Rhythmus gefunden ist. Lukas ist jetzt in seinem Element und will quatschen, und da ich zwischen den einzelnen Worten immer wieder panisch nach Luft schnappen muss, schalten wir ein halbes Km/h runter.
Die Straße ist kaum 3 Meter breit und bis Rosenlaui in der Mitte des Passes ist mit etwas Verkehr zu rechnen, ab der kurz später folgenden Schwarzwaldalp ist die grosse Scheidegg verkehrsfrei. Nur das Postauto verkehrt mehrmals täglich auf der schmalen Strasse bis Grindelwald. Angesichts der fortgeschrittenen Stunde und Jahreszeit begegnet uns neben einem Postauto nur noch ein Radfahrer, der an den ruppigen Steigungen eine höchst unkonventionelle «stop and full gas» Strategie praktiziert.
Die Passstrecke ist wunderbar einsam und landschaftlich atemberaubend. Im Schatten des erhabenen Berner Dreigstirns Eiger (3970 m Höhe), Mönch (4107 m Höhe) und Jungfrau (4158 m Höhe) klettern wir der Passhöhe entgegen. Die zwischenzeitlich steilen Rampen machen mir heute nichts aus, bis der hinterhältige Lukas kurz vor der Passhöhe eine ganz fiese Karte ausspielt: «Du hast heute echt krass Druck auf den Pedalen, wenn man bedenkt, dass du gestern erst Blutspenden warst!» In diesem Moment fällt es mir wieder ein: Seit der guten Tat im Blutspendezentrum bin ich um einen halben Liter Blut ärmer und eigentlich sollte ich heute voll am Limit laufen.
Kurz nach der Bemerkung führt das erwachte Kopfkino zur Hungerkrise.
Wie könnte es anders sein: Kurz nach der Bemerkung führt das erwachte Kopfkino zur Hungerkrise. Die Passhöhe erreiche ich im Delirium. Der Gedanke an eine Gesichtsmaske und der aufrechte Gang in die glücklicherweise noch geöffnete Pass Gastronomie sind gerade des Guten zu viel. Ich muss zuerst einen Gel reindrücken. Erst danach reichen die Kräfte, um im Gasthaus eine fette Cremeschnitte zu verköstigen. Die Passhöhe liegt auf 1.962 Meter, der Anstieg war also durchaus kräfteraubend.
Nach der Stärkung genießen wir nochmals den wunderbaren Blick aufs Wetterhorn und auch in der Abfahrt nach Grindelwald lassen uns die imposanten Gipfel staunen.
Von Grindelwald fehlen noch rund 20 Kilometer zurück nach Interlaken. Die Straße wird hier breiter und der Verkehr dichter, doch der leicht abfallende Strassenverlauf verspricht einen Temporausch sondergleichen. Ausrollen ist angesagt – und genießen. 75 Kilometer und 1.800 Höhenmeter haben wir in den Beinen, da ist es nichts als angebracht die, Tour da ausklingen zu lassen, wo sie begonnen hat: Im Café Velo in Interlaken.
Um die eingangs gestellte Frage zu beantworten: Die Blutleere wirkt sich sehr deutlich aus … im Kopf.
Infos Rennradtour grosse Scheidegg
Strecke und GPS-Daten
Etappen und Wegpunkte
Es handelt sich zwar um eine schwere Tour auf einen Pass, aber sie kann an einem Tag bewältigt werden.
Anreise und Unterkunft
Der Bahnhof Interlaken ist hervorragend an das Fernverkehrsnetz angebunden. Fahrradmitnahme ist in den ICE der SBB problemlos möglich.
Essen und Trinken
Die Autorin startet am Café Velo in Interlaken, wo man mit Frühstück die Energievorräte füllen kann, aber auch mit nahrhaften Bowls das passende Regenerations-Speisenangebot findet. Hier geht es zur Seite des Cafés: https://velo-cafe.ch/
Über die Autorin
Nathalie Schneitter startete ihre internationale Mountainbike-Karriere im Jahr 2004 mit dem Gewinn des Cross-Country-Weltmeistertitels bei den Juniorinnen. Seither ist sie Vollgas auf den Rennstrecken dieser Welt unterwegs. Im Jahr 2008 qualifizierte sie sich für die Olympischen Spiele in Peking und 2010 sicherte sie sich den Heimsieg beim Cross-Country-Weltcup in Champéry. Vollgas gibt Nathalie auch neben der Rennstrecke: Sie lacht viel, ist bisschen verrückt und tanzt in jeder möglichen Situation. Sie ist Messeverantwortliche im Organisationsteam der Bike Days in Solothurn und des Urban Bike Festival in Zürich. Sie wurde 2019 erste UCI E-MTB-Weltmeisterin der Geschichte.
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