Eigentlich ist es schon ein bisschen spät für eine Alpenüberquerung. Die Uhr geht stark auf 10 Uhr vormittags zu und ich sammele in einer italienischen Bar bei Espresso und Cornetto letzte Kräfte für die anstehende Tour.
Dabei ist die Herausforderung, die für diesen Tag auf dem Programm steht, nicht gerade klein. Bis nach Lindau am Bodensee soll es gehen, durch insgesamt fünf Länder über drei Pässe, einmal quer über die Alpen. Fast 200 Kilometer liegen vor mir, und mit dem Splügenpass gleich zu Beginn einer der längsten Anstiege der Region.
Das ist hier nicht nur für die Statistik Italien.
Doch um erstmal nach Chiavenna, dem Ausgangspunkt dieser Tour zu kommen, bin ich bereits am Vortag einmal von schweizerischen Chur aus über die Alpen gefahren; zwar „nur“ 130 Kilometer, aber mit dem Albulapass, unter Insidern einem der schönsten Alpenpässe überhaupt, habe ich schon ordentlich Höhenmeter und Eindrücke gesammelt. Das hat seinen Tribut gefordert und den Drang, in aller Herrgottsfrühe zur nächsten Etappe aufzubrechen, etwas geschmälert.
Jetzt also beginnt sich die Mittagshitze schon anzukündigen, als ich die 30 Kilometer und 1.800 Höhenmeter zum Splügenpass in Angriff nehme. Das ist hier nicht nur für die Statistik Italien. Chiavenna ist eine hübsche Kleinstadt, die auch mitten auf dem Stiefel liegen könnte. Und auf den ersten Kilometern begleiten viele schmucke und sehr italienische Dörfer den Weg. Noch ist es schwer vorstellbar, dass Deutschland nur eine Tagesetappe entfernt liegt.
Im Jahr 2020 ist so eine Reise über Grenzen hinweg immer ein wenig ein Gradmesser für die aktuelle Pandemie-Situation. Doch ich bin schnell erleichtert: Es wirkt alles entspannt, von Grenzkontrollen ist quasi nichts mehr zu sehen. Und auch wenn in Italien auch auf den Straßen viele Menschen Gesichtsmasken tragen; das Leben hat seinen südländischen Gang wieder aufgenommen.
Der Splügenpass führt, wie man in einschlägigen Portalen nachlesen kann, unter den großen Alpenpässen ein bisschen zu Unrecht ein Schattendasein. Denn neben der großen Höhendifferenz bietet der Übergang auch viele Kehren und überraschend viel Abwechslung. Dramatisch klettert die Straße im mittleren Verlauf durch enge Kehren und abenteuerliche Tunnel neben einer Schlucht nach oben. Im oberen Bereich geht es dann über Almwiesen und an einem Stausee entlang mitten durch hochalpines Gebiet.
Einzelne Flachstücke erlauben immer wieder ein kurzes Durchatmen, so dass ich um die Mittagszeit doch recht entspannt die Passhöhe und die Schweizer Grenze erreiche.
Der härteste Teil des Tages scheint absolviert zu sein, denn theoretisch kann man von der Passhöhe bis zur deutschen Grenze komplett bergab fahren. Das macht die nächsten Kilometer zu purem Genussradeln. In rasanter Geschwindigkeit geht es bald am Hinterrhein an Bergseen und durch enge Täler Richtung Norden. Die berühmte Viamala-Schlucht verpflichtet zum Fotostopp. Ohne größere Anstrengung ist so bald Reichenau erreicht, wo sich die Quellflüsse Hinterrhein und Vorderrhein zum Rhein vereinigen.
Das naheliegendste wäre es, den nächsten 86 Flusskilometern einfach bis zur Mündung in den Bodensee zu folgen. Dagegen spricht, dass man statt des eher monotonen Flussradelns von hier aus auch noch ein radfahrtechnisches Kleinod in Angriff nehmen kann, ohne dabei merklich Kilometer zu verlieren.
Statt dem Fluss nach rechts zu folgen, steuere ich also geradeaus auf eine steil aufragende Felswand zu.
Statt dem Fluss nach rechts zu folgen, steuere ich also geradeaus auf eine steil aufragende Felswand zu. Eigentlich kaum zu glauben, dass sich darin eine Passstraße verbergen soll. „Kunkels, 6 Kilometer“, steht auf einem Wegweiser, neben dem unmissverständlich ein Mountainbike aufgemalt ist.
Eigentlich ist der Kunkelspass, mit Steigungsprozenten von bis zu 20 Prozent und einigen Schotterpassagen, nämlich für Rennräder nur bedingt geeignet. Was das heißt, merke ich schnell. Mitten durch den Wald geht es auf einer dann doch ziemlich gut ausgebauten Forststraße immer weiter bergauf. Die Brutalität der Steigung besteht vor allem darin, dass sie einfach überhaupt nicht nachlässt. Jeder Pedaltritt wird irgendwann zur Herausforderung. Schnell dreht sich im Kopf alles nur noch um einen Gedanken: Einfach nur nicht absteigen. Egal wie langsam man ist, das verbietet die Ehre.
Als ich auf den oberen zwei Kilometern, auf denen die Schotterpassagen beginnen, dann doch vom Rad steige, weil die Räder immer wieder durchdrehen, werde ich prompt von einem anderen Radler mit ebenso dünnen Reifen überholt. Ich merke: Der Pass scheint weniger eine Frage des richtigen Radprofils als vielmehr der richtigen Übersetzung zu sein.
Mit Standardkurbelgarnitur und mittlerer Bergfestigkeit komme ich mit meinen ruckartigen Pedalstößen irgendwann an meine Grenze.
Mit Standardkurbelgarnitur und mittlerer Bergfestigkeit komme ich mit meinen ruckartigen Pedalstößen irgendwann an meine Grenze. Bei konstanter Geschwindigkeit würde sich die Naturstraße aber vermutlich noch geschmeidig passieren lassen. So oder so entschädigt der Kunkelspass für die harten Mühen, die er dem Radfahrer abverlangt. Die Durchfahrt durch einen unbeleuchteten Bergstollen, das Foppaloch, mitten durch bizarre Felslandschaften ist spektakulär und die Passhöhe belohnt mit einem lupenreinen Schweizer Postkarten-Panorama.
Noch einmal sind entspannte Abfahrtkilometer erarbeitet. Am Calanda-Massiv, bekannt als Namensgeber für die lokale Biermarke und seit neuestem für das erste wilde Wolfsrudel der Schweiz, das sich hier niedergelassen hat, geht es entlang durch eine abgelegene und urige Berglandschaft zurück zum Rhein nach Bad Ragaz.
Und noch einmal entsage ich der Versuchung, dem Rhein zu folgen und fahre weiter geradeaus auf kürzestem Weg Richtung Liechtensteiner Grenze. Ein letztes Mal geht es bergauf, 200 Höhenmeter zwar nur, aber die zweistelligen Steigungsprozente tun nun, da es auf den Abend zugeht, doppelt weh. Und die vor mir liegende Anhöhe des St. Luzisteigs fühlt sich an wie ein echter Alpenpass.
In den Bergen zieht hinter mir ein Gewitter auf. Von vorne höre ich Gewehrschüsse. Es sind Schießübungen, denn kilometerlang passiert man jetzt militärisches Gelände, in dessen Mitte die mittelalterliche (und immer noch vom Militär genutzte) Festung St. Luzisteig liegt. Für den Außenstehenden wirkt das leicht bizarr: Fast so, als würde die Schweizer Armee hier täglich mit einem feindlichen Angriff aus Liechtenstein rechnen, dessen Territorium gleich hinter den Panzersperren beginnt. Die Schweizer sehen es vermutlich als Besinnung auf ihre Tradition als gut verteidigte neutrale Alpenrepublik.
Land Nummer Drei ist erreicht, und ab der Liechtensteiner Grenze ändert sich jetzt auch der grundlegende Charakter der Tour. Jetzt sind die Alpen nur noch Kulisse, der Weg dagegen könnte auch in Holland liegen. Das liegt nicht nur daran, dass die Strecke von hier an platt ist wie eine Flunder, sondern auch an den hervorragend ausgebauten Radwegen in der Rheinebene. Denn auch wenn Liechtenstein auf den ersten Blick gefühlt eine enorme Sportwagen-Dichte aufweist: Das Bemühen, den Radverkehr und den öffentlichen Naheverkehr im Land auszubauen, ist genauso gut zu erkennen.
Schnell steuert man so auf die Hauptstadt Vaduz mit dem hoch über dem Rhein liegenden Fürstenschloss zu und erreicht nach immerhin einer guten Stunde Fahrt durch das Fürstentum die österreichische Grenze.
In Land Nummer Vier merke ich, welchen wettertechnischen Dusel ich heute hatte. Während sich die Wolken über den Alpen immer dunkler zusammenziehen, bläst daraus resultierend ein immer stärkerer Föhnwind Richtung Norden. Die immerhin noch 60 Kilometer von der liechtensteinischen Hauptstadt bis zum Bodensee – immer über konsequent vom Durchgangsverkehr getrennte Fahrradstraßen – kosten so kaum noch Energie.
Ein Glücksfall, denn nur so schaffe ich es, mit dem letzten Tageslicht den See an der berühmten Freilichtbühne von Bregenz zu erreichen. Gut zu erkennen ist von hier bereits die hell erleuchtete Insel Lindau mitten im Bodensee. An den Seestränden beginnen viele Besucher mit Picknicks und Lagefeuern, die Uferlinien verschwimmen in der Dunkelheit am Horizont. In dieser lauen Sommernacht fühlt sich Bregenz wie eine Stadt am Mittelmeer an.
Entspannt erreiche ich so, immer am Seeufer entlang radelnd, kurze Zeit später die deutsche Grenze, Land Nummer Fünf, und radele über die Seebrücke in die Altstadt von Lindau herein.
An der markanten Hafeneinfahrt mit Leuchtturm und bayrischen Löwen endet die Tour. Die Wellen klatschen gegen die Kaimauern. Die Uferpromenade ist gut besucht.
Eigentlich werden Alpenüberquerungen ja vor allem von Norden nach Süden gefahren. Das Ziel Italien wirkt einfach reizvoller. An diesem mediterranen Sommerabend in Lindau merkt man aber: Die andere Richtung kann genauso lohnenswert sein. Und es kommt die heimliche Freude darüber auf, wie unkompliziert und schnell man doch jetzt wieder durch Europa reisen kann.
Infos Transalp Chiavenna – Lindau
Strecke und GPS-Daten
Die Transalp von Chiavenna nach Lindau führt durch 5 Länder und über 3 Berge. Mit dem Splügenpass liegt die größte Herausforderung gleich am Beginn der Tour. Insgesamt sind rund 4.000 Höhenmeter zu bewältigen. Auch Streckenabschnitte mit losem Belag kommen in der Originalroute vor. Ausweichmöglichkeiten entlang des Flussufers sind im Text beschrieben.
Etappen und Wegpunkte
Die Tour wurde an einem Tag gefahren.
Unterkünfte
Sowohl Chiavenna als auch die Region Lindau-Bregenz verfügen über Unterkünfte in allen Preiskategorien. In Corona-Zeiten ist zu beachten, dass gemeinsame Zimmer nur an gemeinsam reisende Personen vergeben werden. Es gibt also keine Hüttenlager, Hostels etc.
Anreise, Abreise und Logistik
Lindau und Chur sind von Deutschland aus sehr gut mit der Bahn erreichbar. Chiavenna erreicht man ebenfalls mit der Bahn (über Mailand). Wer mit dem Auto anreist, kann sein Auto in Lindau parken. Am P+R Parkplatz Blauwiese darf das Auto bis zu vier Tage bei einer Tagesgebühr von 0,50 € abgestellt werden. Von hier aus ist eine unkomplizierte Weiterreise per Bahn möglich.
Beste Reisezeit
Die Distanz und die fast 4.000 Höhenmeter machen das Nachfahren der Tour an einem Tag nur im Sommer wirklich empfehlenswert.
Ausrüstung & Verpflegung
In der Schweiz und Italien verfügt quasi jedes Dorf über einen kleinen Lebensmittelladen. Außerdem gibt es in jedem Dorf einen Brunnen mit frischem Trinkwasser. Auf allen Passhöhen stehen Gasthäuser.
Wetterfeste Kleidung ist zu jeder Jahreszeit zu empfehlen, da das Wetter in den Bergen schnell umschlagen kann. Für die Durchfahrt durch das unbeleuchtete Foppaloch am Kunkelspass sollte man Licht mitführen.
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9 Kommentare
» Alle Kommentare im ForumSieht ja nach einer traumhaften Strecke aus. Ein wunderschöner Bericht mit sehr schönen Bildern.
Leider wurde, Rennrad-News typisch, nicht korrekturgelesen. Auffällige Tippfehler bleiben jahrelang stehen, bis der Artikel im Nirvana verschwunden ist. Es gibt auch eine automatische Rechtschreibkorrektur seit über 20 Jahren.
Die Stellung der STIs ist 100% der Style von Vittorio Brumotti, Martyn Ashton, Danny MacAskill und Chris Akrigg.
Ein paar Stunts muss man ja in so einer tollen Gegend ja machen.
Ich könnte so mit der STI Stellung nicht fahren, gerade auf 200 Km und bergauf greift man da doch gerne an die Bremsgriffe.
Der Artikel wurde Korrektur gelesen, die automatische Rechtschreibprüfung ist im System integriert und ich bessere benannte Fehler gerne auch nachträglich aus, wenn es sich um Artikel handelt, die nicht nur reinen Nachrichtenwert haben, zum Beispiel bei Reiseberichten wie diesem.
Ich finde den Artikel super
Sowas verleitet mich immer dazu über meine Feierabendrunde mal hinaus zu denken was sonst noch möglich ist. Hoffentlich komme ich da nicht auf zu dumme Ideen.
Ich weis auch nicht was sich die MTBler immer so anstellen mit ihren Mehrtagestouren... Einfach mal Nachmittags quer durch die Alpen mit nicht PC-korrekter Lenkereinstellung und älterem (?) Material. Und weil es zu langweilig werden könnte mal abbiegen und noch einen Pass mit Gravelpassage einschieben (also... nicht (ein)schieben, sondern fahren natürlich). Geht doch
Ein klasse Bericht, da komme ich direkt auf die Idee beim nächsten Urlaub am Lago von da aus ein Stückchen mit dem Rad heimzufahren während meine Frau die Etappe mit dem Auto macht. Wie immer die Qual der Wahl was nimmt man für ein Rad mit....MTB ist genial wegen der vielen Trails aber so eine Strecke reizt. Muss wohl doch mal einen Anhänger kaufen damit ich beide Bikes mitnehmen kann!
Einerseits Respekt vor der Leistung, andererseits traurig die Alpen in nur zwei Tagen zu "verbraten". Und der Rest vom Urlaub?
Ich bin das häufig so gefahren: eine Woche von NRW in die Alpen, dort eine Woche Pässe fahren und dann wieder eine Woche zurück.
Hat man immer noch drei Wochen Jahresurlaub übrig.
Davon abgesehen: bequem ist es zuhause auf dem Sofa und echte Abenteuer finden ohne Auto statt.
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