Es regnet. Es schüttet wie aus Eimern bei dieser Straßenweltmeisterschaft. Nicht in Yorkshire, sondern bei der Rad WM 1954 am Solinger Klingenring, der ersten WM in Deutschland nach dem Krieg. Der Regen und der 240 km lange Kurs mit 5.000 Höhenmetern dünnen das Feld damals so aus, dass nur 22 Fahrer ins Ziel kommen. Autor Michael Hokkeler hat die Rad WM ’54 nachgefahren und dabei historisches Rennmaterial mit einem aktuellen Weltmeisterschaftsrad verglichen. Hokkeler gegen Klingenring, Bauer Weltmeister mit Huret gegen Canyon Ultimate mit Campa EPS. Hier lest ihr, wie es ausging.
Solingen, 22. August 1954. Es regnet. Es schüttet wie aus Eimern an diesem Tag der Straßenweltmeisterschaft der Profis. Das Wasser schießt die steilen Straßen hinab, auf denen die WM ausgetragen wird: auf einem 15 Km langen Rundkurs mit gut 300 Höhenmetern pro Runde. 16 Mal ist er zu fahren.
Die Strecke liegt im Bergischen Land. Die Region trägt ihren Namen zwar aufgrund des Herzogtums Berg und nicht wegen der vielen „Berge“. Aber trotzdem weist sie die typischen Tücken, sprich steilen Anstiege eines deutschen Mittelgebirges auf. Im Tal wird die Landschaft von der Wupper durchzogen, die industriehistorisch eine bedeutende Rolle als Wasserkraft- und Energielieferant für die Metall verarbeitenden Betriebe der Region hatte. Rechts und links des Flusses spannen sich bis rund 250 Meter Höhe die Höhenzüge von Solingen und Witzhelden auf.
Den Regen kennt man gut in der Region, muss hier doch so manches Atlantiktief erstmals einen signifikanten Höhenzug überwinden, aber an besagtem Sonntag im August 54 ist es mit knapp über 10 Grad auch noch bemerkenswert kalt. Am Start stehen 72 Berufsradfahrer, um sich über eine Distanz von 240 Km auf den nach der „Klingenstadt“ Solingen benannten „Klingenring“ zu begeben.
Die Strecke der Klingenring WM 1954
Und das liegt vor den Fahrern: Vom Start weg geht es zunächst moderat bergauf, dann flach durch Solingen-Höhscheid und in eine schnelle, durch eine langgezogene Rechtskurve und eine fiese Engstelle geprägte Abfahrt nach Wupperhof, wo nach Überquerung der Wupper unmittelbar der Anstieg auf dem eigentlichen Klingenring beginnt. Der Klingenring, das ist eine 3,2 Kilometer lange Steigung, auf der auch Bergpreise im Motorsport ausgefahren wurden. Es ist eine dieser typischen Anstiege, die sich flott fahren lassen, auf denen man es aber leicht überziehen kann. In Witzhelden folgt eine abschließende Welle, bevor man sich links runter auf einer schnellen, Flowabfahrt wieder ins Tal der Wupper stürzen kann. Nach der zweiten Wupperbrücke kommt eine erneute Welle, die man mit dem Schwung aus der Abfahrt wegdrücken kann, bevor man Runde für Runde den eigentlichen Scharfrichter der Strecke vor sich hat, den Anstieg nach Balkhausen. Die Straße steigt nämlich nach dem Balkhauser Kotten (eine historische Werkstatt für Messer und Scherenschleifer) unvermittelt an, und es wartet eine Gerade mit bis zu 14 % Prozent Steigung, bevor die Quälerei vor der letzten Haarnadel ein Ende hat und die Steigungsprozente wieder bis hinab auf 5-6 % vor Start/Ziel zurückfallen, was sich in dem Moment wie eine Erlösung anfühlt.
Die Idee: Klingenring-Revival
Ich kenne jetzt jeden Asphaltflicken und jedes Steigungsprozent auf der Strecke. Denn ich bin die WM von 54 nachgefahren. Wie kam es dazu?
Ich bin gebürtiger Solinger, ich habe den Klingenring immer geliebt, und in den letzten Jahren reifte der Gedanke in mir, hier zum nächsten Jubiläum der WM etwas Besonderes zu machen – 2019 jährt sich die Austragung zum 65. Mal. Der ursprüngliche Plan, gemeinsam mit Solinger Vereinen und der Stadt Solingen einen (vielleicht sogar autofreien) „Radaktionstag“ zu organisieren, musste leider schnell beerdigt werden. Also blieb nur eine kleinere „Geschichte“, in der wir jetzt mittendrin sind.
3 Wochen vor dem nahenden Termin hatte ich während einer meiner täglichen Pendelfahrten die zündende Idee. Ich beschloss die Strecke komplett nachzufahren, am besten mit einem zeitgenössischen Rad aus den 50er Jahren und im Vergleich dazu mit einem aktuellen Top-Rennrad, um auch den technischen Teil abzubilden.
Weltmeister-Modell vs. Weltmeister-Rad
Bauer Weltmeister von 1962
Der Klassiker war im Kölner Bekanntenkreis schnell gefunden und wurde von Roy, einem der Organisatoren der Kölner Klassikerbörse (und einem rührigen Forumsmitglied) zur Verfügung gestellt. Es handelt sich um ein periodengerecht aufgebautes Bauer Weltmeister aus dem Jahre 1962, technisch aber identisch mit den 50er Jahre Modellen: mit einer Allvit Schaltung, Mafac Racer Mittelzugbremsen und einem Gewicht von rund 11,5 Kg.
Roy hat das Rad bewusst auf Touren und längere Anstiege ausgelegt. Nennenswerte Modifikationen gegenüber dem Originalzustand sind daher die 32er Panaracer Pasela Reifen, eine 14-30 Kassette und ein drittes Kettenblatt als Rettungsring. Das Oberrohr ziert der Schriftzug „Modell des Weltmeister’s 1952“ (Deppenapostroph eingeschlossen).
Canyon Ultimate CF SLX Disc Team Movistar
Das moderne Pendant für unser Projekt wurde uns von Canyon zur Verfügung gestellt: Ein Canyon Ultimate CF SLX mit Campagnolo Super Record EPS Disc im Movistar Design. Es ist auch ein Weltmeister-Rad. Denn es entspricht dem Teambike, mit dem Alejandro Valverde 2018 Weltmeister wurde. Unterschied hier: Ich fahre die Disc-Version, die Campagnolo Record 12-fach EPS hatte Valverde auch schon. Gewicht meines Testrades mit Pedalen und Flaschenhaltern: 7,2 kg – ergo: 4,3 kg leichter!
Geometrievergleich Canyon vs. Bauer
Bauer Weltmeister | Canyon Ultimate CF SLX Disc | |||
---|---|---|---|---|
Überhöhung cm | 10,5 | (handgemessen) | 8,5 | (25mm Spacer) |
Stack cm | 58 | (handgemessen) | 56,7 | (Werksangabe) |
Reach cm | 41.5 | (handgemessen) | 39.1 | (Werksangabe) |
Tretlagerhöhe cm | 27.7 | (mit Pasela 32mm) | 27.5 | (mit GP5000 25mm) |
Gewicht | 11 kg | 7,2 kg | mit Pedalen und Flaschenhalter | |
Lenkerbreite | 37,5 | (handgemessen) | 41 | (handgemessen) |
Lenkerbreite im Oberlenker | 25 | 35 | (handgemessen) | |
Kettenblätter | 47/43/30 | 52/36 | ||
Ritzel | 14-17-21-25-30 | 11-12-13-14-15-16- 17-19-21-23-26-29 | ||
Entfaltung | 2,17 bis 7,19 m/Umdrehung | 2,64 bis 10,07 m/Umdrehung |
Da zwischen Abholung und Tour nur ein bzw. zwei Tage lagen, habe ich beide Räder nicht wirklich vorher fahren können. Sie sind so gut wie möglich auf mich eingestellt, auch wenn zwischen den Oberrohren rund 2,5 cm Längenunterschied liegen und ein Vorbautausch bei beiden keine Option ist. Zumindest Sitzhöhe und Reach passen, die Position überm Tretlager variiert jedoch und ich kann zu diesem Zeitpunkt nur hoffen, dass das über die Distanz nicht zum Problem wird.
Der persönliche „Renntag“
Es ist 10:30 Uhr am 24. August 2019 und die Vorfreude hat über die Angst vor der eigenen Courage gesiegt. Fast auf den Tag genau 65 Jahre nach der einzigen Weltmeisterschaft, die meine Geburtsstadt jemals austragen durfte, stehe ich mit meiner Freundin Lydia auf dem Rennkurs und bin startklar. Wir haben unser Wohnmobil als Basislager etwas unterhalb des alten Startbereichs geparkt. Sie wird mich in der ersten Runde begleiten, dann auf eine andere Route abbiegen und mich später wieder vom Fahrzeug aus unterstützen.
Ich sitze auf Roys Bauer, Lydia auf ihrem Carbonrennrad. Ich habe ein Trikot der Marke Louison Bobet an, es ist das Modell „Solingen 54“, dass ich kurz vorher tatsächlich noch im Internet ergattern konnte. Der gelbe Brustring steht für Bobets Tour-Sieg, der rote für seinen WM-Titel 1954. Es ist quasi das I-Tüpfelchen für diesen besonderen Tag.
Wir fahren los, klicken ein, es geht ein paar hundert Meter leicht bergauf zum Start-/Zielbereich von 1954. Nach einem kurzen Stück durch Wohngebiete, kommt die erste von 32 Abfahrten. Wie fahrstabil wird dieses Rad sein? Wie packen die Bremsen? Da ich das Bauer nur in der Kölner Innenstadt gefahren bin, lasse ich es ruhig angehen
Ich schließe aber schnell Freundschaft mit dem Klassiker, der auf den Pasela Reifen sehr geschmeidig rollt und sich weniger schnell als erwartet aus der Ruhe bringen lässt. Geradeaus läuft er souverän, nichts flattert, nur in schnellen Kurven macht sich der lange Radstand bemerkbar und man muss es ordentlich um die Ecke drücken. Mittreten ist bei einer maximalen Übersetzung von 47-14 eher müßig, also kann ich runter auch einfach rollen lassen. Die Bremsen packen einigermaßen vertrauenerweckend zu. Sie kreischen allerdings laut, was auch an den wenig verwindungssteifen Mafacs liegt.
Im folgenden Anstieg ist die Schaltung dran. Ich bin noch mit Friktions-Schaltungen groß geworden und finde die Möglichkeit zur manuellen Justierung immer noch ganz sympathisch. Durch die Rahmenschalthebel fahre ich eh etwas schaltfauler und passe gefühlt meine Geschwindigkeit eher der Trittfrequenz an als andersherum, zumal die Gangsprünge bei 14-30 ja im Vergleich zu modernen Schaltungen deutlich spürbar sind. Das Rad verleitet insgesamt eher zum flotten Cruisen. Dank des großen 30er Ritzels hinten benötige ich das dritte Kettenblatt nicht und fühle mich den Profis von damals plötzlich sehr verbunden.
In der Abfahrt nach Solingen Glüder kommen mir unten ein paar Vereinskollegen und Freunde entgegen, die extra gekommen sind, um mich ein paar Runden zu begleiten. Ich freue mich, fahre aber einfach weiter meinen Rhythmus, der Tag wird noch lang genug. Es geht zum ersten Mal in die knackige Steigung von Balkhausen nach Solingen Hästen, aber die Beine sind frisch, das Rad läuft gut.
Der Plan ist, alle 2 Runden die Trinkflasche zu wechseln und ausreichend zu trinken, bevor es zu heiß wird, aber es ist jetzt schon total drückend und der Schweiß läuft in Strömen. Ich merke schon zu Beginn der zweiten Runde, dass diese Trinkstrategie nicht aufgehen wird und fange an, unsere Getränkevorräte durchzurechnen. Schnell ist klar, das wird knapp.
In der zweiten Runde kann ich mich deutlich mehr aufs Fahren als aufs Rad konzentrieren. Sowohl rauf als auch runter läuft es viel flüssiger, auch die Schaltvorgänge bringen mich nicht mehr aus dem Rhythmus. Trotzdem sehe ich meine Meinung wieder bestätigt, dass integrierte Schaltbremshebel eine der größten Innovationen in der Geschichte der Radsporttechnik sind. Hinzu kommt Alles rund ums Thema der Ergonomie. Mit dem schmalen Lenker fühle ich mich jetzt schon unwohl, das dünne Rohr mit dem ungepolsterten Textilklebeband ist nach heutigen Maßstäben katastrophal zu greifen, wenn man große Hände hat. Aber so war das damals halt auch schon.
Hälfte der zweiten Runde ist meine Flasche leer. Zum Glück nur die im Flaschenhalter, aber so sparsam kann es nicht weitergehen. Dann halt doch jede Runde wechseln. Ich nuckel die letzten Tropfen aus der Pulle und erreiche ziemlich durstig unser Wohnmobil, wo ich hastig trinke und die Flasche wechsle, bevor es in die 3. Runde geht.
Ich habe mir vorher keine Strategie für die Radwechsel überlegt und will einfach schauen, mit welchem der beiden Räder ich auf lange Sicht besser klar komme. Die beiden Abfahrten laufen mit dem Bauer wie am Schnürchen, in den Anstiegen macht sich neben dem hohen Gewicht allenfalls das ungewohnte Cockpit, besonders der ungewohnt schmale Lenker mit den Bremsleitungen unangenehm bemerkbar. Nach der 3. Runde will ich daher erstmal aufs Canyon wechseln und bin schon gespannt auf den Unterschied im direkten Vergleich.
Gesagt, getan. Am Wohnmobil anhalten, Canyon raus, Bauer rein, trinken, Flasche ans Rad und ab geht’s. Und wie! Das CF SLX hat einen brutalen Vortrieb. Jede Pedalumdrehung geht 1 zu 1 in den Antrieb, dieses Rad macht einfach Spaß und ich muss mich eher zügeln, um nicht zu übermotiviert ans Werk zu gehen, schließlich bin ich erst in Runde 4. In Abfahrten liegt das Canyon wie ein Brett auf der Straße, es ist absolut agil, fahrstabil und lässt sich willig in jede Kurve drücken.
Die Campagnolo Scheibenbremsen mit Magura-Technik sorgen zudem dafür, dass man den Bremspunkt extrem spät wählen kann. Der Hebelweg ist relativ lang, aber dann packen sie so kraftvoll zu, wie ich es noch bei keiner anderen Scheibenbremse erlebt habe. Dazu sind sie quasi ohne Kraftaufwand extrem gut dosierbar, so dass selbst die Umstellung von den Mittelzugbremse des Bauer problemlos funktioniert.
Meine Rundenzeiten liegen sofort 4-5 Minuten unter denen, die ich mit dem Bauer gefahren bin und das bei gefühlt gleichem bis weniger Aufwand. Gefühlt, weil ich an diesem Tag zwar aufzeichne aber auf Leistungsmessung, Puls und Geschwindigkeit verzichte. In den Runden 5 und 6 läuft es eigentlich ganz gut, doch mir wird immer klarer, dass die volle Distanz noch ein langer Weg ist.
Meine Vereinskollegen sind wieder Richtung Heimat gefahren und ich bin alleine mit mir und meinen Gedanken auf der Strecke. Also fange ich mal wieder an zu rechnen, denn entgegen meiner Annahme auf einer Runde mit einer Flasche hinzukommen, wird der Durst immer unerträglicher. Mittlerweile knallt die Sonne auf beide Anstiege, zudem hat der Wind gedreht, so dass mir am Ende des ersten Anstiegs jetzt der Gegenwind wie ein Fön ins Gesicht steht. Ich bitte Lydia, noch Wasser zu besorgen, bevor sie zum Wohnmobil zurückkommt, damit ich über den Tag komme.
Gegenwind wie ein Fön ins Gesicht
Die Flaschenwechsel nach jeder Runden werden jetzt schon nervig, mich stören häufig auch die Kontrollen bei RTFs, ich fahre einfach lieber durch. Das gilt auch für rote Ampeln. Ich fange an einer der beiden Ampeln schon an zu pfuschen und umfahre über den Gehweg, um nicht in der Hitze stehenbleiben zu müssen – für mich sonst ein No-Go. Meiner Hoffnung, dass nach der Hälfte alles besser wird, stehen in Runde 7 plötzlich noch aufkommende Krämpfe gegenüber, die ich zwar im Wiegetritt ganz gut kompensieren kann, doch das wird auf Dauer anstrengend.
Zum Glück ist Lydia nach Runde 8 wieder am Wohnmobil, um mir die Flaschen fertig zu machen und mich moralisch zu unterstützen. Ich freue mich, sie zu sehen und meinen Frust teilen zu können. Mein Lächeln ist sicher gequälter als am Anfang, aber ihre Anwesenheit und Unterstützung motiviert mich weiterzufahren, zumal die Wechsel jetzt einfacher werden. Ich bin ihr sehr dankbar, dass sie ihren Samstag am Straßenrand verbringt, weil ich mal wieder eine bescheuerte Idee hatte.
Die Krämpfe werden dank Salz in der Trinkflasche nicht schlimmer und nach Runde 8 ist immerhin die Hälfte geschafft. Ich bin trotzdem schon ziemlich durch. 16 mal rauf, 16 mal runter – immer wieder die gleiche Affenschaukel, das nagt jetzt schon mehr an mir, als ich vorher gedacht hätte. Ich brauche irgendwas an Abwechslung für meinen Kopf.
So was wie den Typen, der oben ohne am Ende des ersten Anstiegs neben seinem Trekkingrad hockt und mir zubrüllt „Vor vierzig Jahren wäre ich an Dir vorbeigefahren!“ Sogar Schmähungen sind mir in meinem Geisteszustand recht, aber nachdem ich ihm erwidere, dass ich gerade zum 9. Mal da hoch fahre, bekomme ich sogar ein Lob und Anfeuerung. Geht doch. Das wird in der folgenden Runde sogar noch getoppt durch einen älteren Herrn in einem quietschbunten Corratec Trikot aus den 80ern. Ich sehe ihn bereits in der Abfahrt nach Wupperhof vor mir. Er sitzt komplett aufrecht auf seinem Pedelec, ist dafür aber bemerkenswert flott unterwegs. Ich überhole ihn grüßend, fahre in die Steigung und nach zwei Dritteln pedaliert er plötzlich an mir vorbei. „Ich habe es da etwas leichter als Sie.“ sagt er verschmitzt zu mir und beginnt von den Vorzügen seines Pedelecs zu schwärmen und dass er die Runde früher auch mit dem Rennrad gefahren sei. Er wohne oben in Solingen und gehe heute im Alter von 74 Jahren nur noch mit dem Pedelec auf seine Hausrunde.
„Vor vierzig Jahren wäre ich an Dir vorbeigefahren!“
Moment mal, denke ich und werfe ihm mit, „hier war ja 1954 auch mal die Rad-WM“ einen Köder hin. Er beißt sofort an und erzählt voller Begeisterung, dass das damals ein „Riesenereignis“ gewesen sei, bei dem er im Alter von 9 Jahren als Zuschauer dabei war. Es waren tausende Menschen an der Rennstrecke und eine Superstimmung trotz des schlechten Wetters. Dabei fährt er plaudernd weiter; und ich muss echt drücken, um bei dem Tempo noch ein Interview machen zu können. Ich erzähle Herrn Mittendorf, so sein Name, von meinem Vorhaben, und da er die Strecke bestens kennt, drückt er mir seine Anerkennung aus. Genau das brauche ich gerade. In der nächsten Abfahrt setze ich mich wieder ab, doch nach dem Steilstück ist er in der Haarnadelkurve bereits wieder da und fährt lachend und winkend mit einem letzten Gruß an mir vorbei.
10 Runden, die Amateurdistanz von 1954, sind jetzt rum und ich beschließe 15 Minuten mit Lydia Pause zu machen. Sie will später eh nochmal eine Runde mitfahren. Jetzt aber erstmal ordentlich trinken, in Ruhe essen und im Schatten kurz regeniereren. Nach 10 Minuten kommt auch Jan angerollt, hier in der Rolle als Fotograf. Die Aussicht auf Begleitung und Fotos verspricht etwas Abwechslung. Wir besprechen den Ablauf und ich starte die 11. Runde wieder auf dem Canyon, an das ich mich schon total gewöhnt habe. Die Fotos drücken die Rundenzeiten, aber zumindest die Hitze stellt jetzt kein Problem mehr dar.
Ich beginne damit, mal durchzurechnen, wie lange wir hier noch brauchen werden und realisiere, dass das insgesamt ganz schön eng wird, die 16 Runden bis Einbruch der Dunkelheit komplett durchzuziehen. Ich fange also an zu drängeln, denn ich habe kein Licht dabei, wir wollen das Bauer noch unterwegs fotografieren und die Radwechsel brauchen auch ihre ihre Zeit. Also nutzen wir Runde 13 für Fotos mit dem Klassiker, während ich Runde 14 mit Lydia gemeinsam fahre, macht Jan noch Bilder vom Canyon, auf das ich dann für 15 und 16 wieder umsteige, damit das Bauer noch fotografiert werden kann. Die Wechselei, die ich sonst als Stress empfinden würde, reißt mich hier wohlwollend aus der Routine. Es ist nicht gerade gut für den Zeitplan, aber es passiert wenigstens was.
Fotos statt Stürze, Pannen und Attacken
Es ersetzt sozusagen die Stürze, Pannen und Attacken, die 1954 in den letzten beiden Runden einsetzten. Es ist nicht im Detail überliefert, aber unter den verbleibenden 22 Fahrern muss sich in der Favoritengruppe ein dramatischer Kampf abgespielt haben, den Bobet erst in der letzten Runde am letzten Anstieg für sich entschied. Ganz zu schweigen von dem Vorteil, dass es nach 200 KM einfach viel stressfreier ist, auf Knopfdruck präzise die Gänge zu wechseln und mit einem kleinen Zug volle Bremsleistung zu haben.
Zumindest hatten die Fahrer noch Tageslicht. Ich habe mir vor Runde 15 eine Warnweste aus dem Auto angezogen, damit ich in den unbeleuchteten Waldpassagen besser gesehen werde, aber für Runde 16 brauche ich trotz weniger werdenden Verkehrs Licht. Als ich zum vorletzten Mal am Basislager ankomme, steht Jan schon bereit. Er hat Licht an seinem Rad montiert und für mich noch ein kleines Blinklicht für vorne. Ich bin dankbar. Es gibt überhaupt keine Diskussion darüber, nach 15 Runden abzubrechen. Wir sind uns einig, dass man so etwas durchziehen muss oder wie Jan es formuliert: „Das macht ja keinen Sinn jetzt aufzuhören!“
Ich werde emotional. Die letze Runde von 16, für mich erfüllt sich ein kleiner Traum. Daran ändern auch die Baumaschinen nichts, die kurz vor uns in die Abfahrt nach Wupperhof einbiegen, um dann die Engstelle zu blockieren. Die Dunkelheit und die Ruhe – nur gestört von einem Autoproll mit Klappenauspuff, der die Straße vermutlich auch gerne für sich alleine hat – geben dem Ganzen fast schon einen festlichen Rahmen und so fühle ich mich nach dem letztem Mal Steilstück Bobet erneut ein klein wenig verbunden, als ich in meinem Ziel ankomme. 240 KM und 5200 Höhenmeter sagt meine Aufzeichnung, aber das sagt eigentlich kaum was aus über die Strapazen und insbsondere die emotionalen Höhen und Tiefen des Tages. Ich bin körperlich komplett erschöpft, aber gleichzeitig so überglücklich, dass ich erstmal ein Tränchen verdrücken muss.
Geschafft. Einen Tag später spüre ich es nicht nur in den Beinen sondern auch im Rücken, die ungewohnten, nicht optimalen Sitzpositionen haben Spuren hinterlassen. Aber meinem Kopf ist das gerade komplett egal. Ich bin stolz, gleichzeitig ist meine Bewunderung für die Helden von damals unermesslich. Ich kann meine Leistung nur schwer vergleichen, aber der Klingenring ist über die Distanz unglaublich schwer. Wenn ich das mit meinen Ötzi-Teilnahmen vergleiche, fand ich das kleinteilige Auf und Ab ungleich schwerer. Die Abfahrten reichen gerade mal, um die Beine auszuschütteln, bevor man wieder im nächsten Stich steht. So wie mein Freund Gunter es treffend formulierte, rennt man 32 mal mit Schwung vor die Wand und so fühle ich mich heute auch.
Wiederholen muss ich das auf diesem Kurs sicher nicht. Trotzdem bin ich überglücklich, dass ich es einmal durchziehen konnte und allen dankbar, die kurzfristig mit ihrer Unterstützung Teil davon waren, insbesondere Roy und Canyon, die die Räder zur Verfügung gestellt haben und denjenigen, die mich an der Strecke besucht, abgelenkt und unterstützt haben.
Daneben war auch der Technikvergleich Teil unseres Selbstversuchs. Es war hochinteressant im direkten Vergleich zu erleben, was in 65 Jahren Radsporttechnik passiert ist. Der Klassiker verleitete mich eher zum zügigen cruisen, mit dem modernen Rad lief ich immer Gefahr, überambitioniert zu fahren. Ich hatte das Gefühl dieser Maschine gar nicht gerecht zu werden, was natürlich bei einem Teamrad aus dem Profipeloton irgendwie auch stimmt. Auch wenn ein klassisches Stahlrad seinen Reiz hat, muss ich unterm Strich sagen, dass mein Herz auf langen Distanzen eher für die heutige Radgeneration schlägt. Neben der Leistung, die man fürs Treten aufbringen muss, ist vor allem die Bedienung stressfrei. Die Handkräfte für Schalten und Bremsen sind minimiert, die Gangsprünge fallen viel geschmeidiger aus und so ein ergonomischer Lenker greift sich halt auch auf langen Strecken deutlich entspannter.
Umso mehr muss man natürlich der Leistung der Fahrer von damals im Gegenzug Respekt zollen: Chapeau, Louison Bobet – und all den anderen, die es ins Ziel geschafft haben!
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Würdet ihr den Klingenring gerne wieder als Rennstrecke sehen?
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