Das Jumbo-Visma Team um Giro-Sieger Primož Roglič setzt im Training auf Glukose-Messung. Ein kleiner Sensor des Herstellers Supersapiens im Arm überträgt dabei die Blutzucker-Werte. Aber nützt die teure Bio-Technik auch Hobby-Radsportlern und wenn ja unter welchen Umständen? Michael Brendler hat bei Wissenschaftlern und Radsport-Experten nachgefragt. Und den Sensor selbst getestet.
Wirklich leistungssteigernd? Der Fall Faulkner
War es das wirklich wert? 30 Kilometer ist Kristen Faulkner allein im Wind gefahren bei ihrem Soloritt – am 4. März bei der Strade Bianche. Zwei Wochen später war er wieder weg, der hart erkämpfte dritte Podiumsplatz. Wegen eines kleinen runden Plättchens unter ihrem Trikotarm, der den Wettkampfrichtern aufgefallen war. Ein Sensor, der das Auf und Ab des Blutzuckerspiegels im Rennen misst, – laut den Regularien des Weltverbandes ist das ein verbotenes Hilfsmittel. Kristen Faulkner behauptet zwar, dass sie die Zucker-Daten im Wettkampf weder abgelesen noch verwendet hat. Der UCI war es egal, sie hat die US-Amerikanerin disqualifiziert und ihr den Podiumsplatz weggenommen.
Vier Stunden hat sich Faulkner damit umsonst gequält. Und all das wegen einem Sensor, der laut dem Vertreiber der Technologie, dem Unternehmen Supersapiens, „nicht einfach zur Verbesserung der Geschwindigkeit“ eingesetzt werden kann“. Das hat der Chef des Unternehmens dem Verband in einem offenen Brief versichert. Er appelliert, endlich auch den Einsatz der Sensoren im Wettkampf zu erlauben.
Das Team Jumbo-Visma setzt die Sensoren seit fast drei Jahren ein.
Interessanterweise beißt sich seine Aussage mit den Versprechen, die seine Firma Hobbyathleten auf der eigenen Webseite macht: 72 Prozent der Kunden haben demnach ihre Leistung mit Hilfe des Sensors „verbessert oder neue persönliche Bestleistungen aufgestellt“. Weil die Technologie unter anderem „die eigene Energie steigern kann“.
Was stimmt denn nun? Was bringt der Sensor denn nun wirklich? Hat Faulkner tatsächlich eine Art Techno-Doping betrieben? Oder anders gefragt: Lohnen sich die immerhin 150 Euro, die es kostet, den eigenen Blutzuckerspiegel einen Monat lang mit Supersapiens zu überwachen? Rennrad-News hat bei Wissenschaftlern und Radsport-Experten nachgefragt. Und den Sensor selbst getestet.
Fehler vermeiden: Superspiens beim Roglič-Team
Das Team Jumbo-Visma setzt die Sensoren seit fast drei Jahren ein. Ursprünglich wurden sie vom Medizinprodukte-Hersteller Abbott für Diabetiker entwickelt. Ihnen sollen sie helfen, ihre Blutzuckerkontrolle zu verbessern und die richtige Insulindosis zu bestimmen. Den Patienten wird inzwischen schon das zweite überarbeitete Modell, der Libre Sense-Sensor 3, verkauft. Die Vorgängerversion von Abbott, Libre Sense 2, bietet Supersapiens jetzt Ausdauerathleten an.
Asker Jeukendrup ist als „Head of Performance Nutrition“ seit 2017 für die Ernährung im niederländischen Radsport-Team zuständig. Als er anfing, erzählt der Niederländer und Hobbytriathlet, standen für die Fahrer gerade mal ein Koch und ein Ernährungsberater zur Verfügung, jeweils als Halbtagskraft. Inzwischen sind bei Jumbo-Visma in dem Bereich 13 Vollzeitstellen zu besetzen. Bei der Mannschaft werde der Faktor Ernährung inzwischen als „critical important“ für den Erfolg angesehen, erzählt der Sportwissenschaftler, der zwölf Jahre als Professor für Exercise Metabolism an der Universität Birmingham gelehrt hat. Und dazu hat laut Jeukendrup auch die Supersapiens-Technologie beigetragen.
Der Effekt des Sensors ist allerdings weniger unmittelbar, als sich Kristen Faulkner womöglich erhofft hat. „Wenn du einen guten Fueling Plan hast“, sagt Jeukendrup, „ist das Messen des Blutzuckerspiegels im Rennen und Training wahrscheinlich nicht so wichtig.“ Der Grund: Der Blutzuckerspiegel bleibt selbst bei Höchstleistungen mit oder ohne Sensor weitestgehend stabil. Vorausgesetzt bei der Kalorienzufuhr während des Fahrens werden keine groben Fehler gemacht. Was die Technologie jedoch leisten kann: Zu helfen, genau solche Fehler zu vermeiden.
Studie: Mehr Zucker macht nicht schneller
Anders als von Supersapiens suggeriert, tritt man zum Beispiel keineswegs kräftiger in die Pedale, wenn man die Technologie des Unternehmens dazu nutzt, um mit übervollem Tank zu fahren. Das haben Wissenschaftler aus Südafrika 2007 bewiesen. Sie ließen sieben trainierte Radrennfahrer innerhalb von ein paar Tagen zweimal ein 100-Kilometer-Zeitfahren gegen sich selbst fahren. Einmal mit einem normalen Zuckerspiegel, in diesem Fall 90 Milligramm Glukose pro Deziliter. Und einmal mit der doppelten Menge Kohlenhydrate, rund 180 mg/dl. In der anderen gebräuchlichen Messeinheit würde dieser Wert 10 Millimol pro Liter, abgekürzt mmol/l, entsprechen. Jeweils auf der Strecke stabil gehalten durch Zuckerinfusionen. Das Ergebnis: Egal mit welcher Tankfüllung die Fahrer fuhren, sie brauchten stets – je nach Probanden – 142 Minuten bis zweieinhalb Stunden für die Strecke. Auch bei getretener Wattzahl und der Herzfrequenz gab es keine Unterschiede. Sollte Kristen Faulkner tatsächlich darauf gehofft haben, mit dem Sensor schneller zu fahren, hat sie ihrer Karriere also ganz umsonst geschadet.
Das Team Jumbo-Visma setzt den Supersapiens-Sensor deshalb nur für eine Art Feintuning der eigenen Ernährungspläne ein. Anhand von Streckenprofil, Wattwerten und individuellem Aufgabenprofil in der jeweiligen Etappe lässt sich inzwischen recht genau vorausberechnen, wie viele Kalorien der einzelne Fahrer im Laufe des Tages verbrennen wird. Welche Informationen die gängigen Daten jedoch nicht liefern: Wann ist der ideale Zeitpunkt gekommen, die verbrauchte Energie zu ersetzen.
„Jeder Fahrer reagiert ein kleines bisschen anders auf die Nahrung“, erklärt Asker Jeukendrup. Bei dem einen lässt eine Mahlzeit den Blutzucker früher nach oben schießen, beim anderen später. Beim einen bleiben die Zuckerspiegel anschließend länger hoch, beim anderen kürzer. Und nach der gleichen Menge Kalorien erreichen auch nicht alle Menschen dieselben Glukosespiegel – auch das ist unter anderem von den Genen und dem Trainingszustand abhängig. Glukose nennen Fachleute den Traubenzucker und damit die Kohlenhydratform, die die Körperzellen am besten und schnellsten verarbeiten können. Und das Molekül, das als Blutzucker in den Adern schwimmt.
Wer mit gerade ansteigenden oder abfallenden Zuckerspiegeln in eine Etappe startet, riskiert dadurch, in ein vorübergehendes Glukose-Tief zu rutschen.
Selbst, wenn acht Fahrer zum Beispiel das gleiche Frühstück verzehren, sagt der Experte, werde man wahrscheinlich anschließend im Blut acht verschiedene Werte messen. Nach dem Frühstück ist es für den Head of Performance Nutrition eines Profi-Teams besonders wichtig, zu beobachten, wann die Blutglukosewerte eines Fahrers sich wieder stabilisieren. Deshalb wird die Supersapiens-Technologie von Jumbo Visma auch ausschließlich zu diesem Zeitpunkt eingesetzt.
Denn wer mit gerade ansteigenden oder abfallenden Zuckerspiegeln in eine Etappe startet, riskiert dadurch, in ein vorübergehendes Glukose-Tief zu rutschen. Das nach dem Essen ausschüttete Insulin aus der Bauchspeicheldrüse, sorgt für besonders labile Zuckerwerte, die schnell abstürzen und dann den Saft aus den Beinen ziehen.
Die letzte Mahlzeit sollte am besten eineinhalb bis zwei Stunden vor der Fahrt eingenommen werden.
Deshalb gilt grundsätzlich auch für Nicht-Profis der Tipp: Die letzte Mahlzeit sollte am besten eineinhalb bis zwei Stunden vor der Fahrt eingenommen werden. Solange dauert es in der Regel, bis der stabile Zustand im Blut wiederhergestellt ist.
„Der Sensor ist für uns nur ein Werkzeug, um zu überprüfen, ob unsere Ernährungspläne funktionieren, oder ob wir sie bei dem ein oder anderen Athleten, anpassen müssen“, erklärt Asker Jeukendrup. In der Regel seien solche Nachbesserungen aber nicht nötig.
Ist der individuelle Fuelingplan erst einmal erstellt und optimiert, wird das Messgerät beim Fahren mehr oder weniger überflüssig. „Während des Sports selbst wird der Blutzuckerspiegel meiner Meinung nach nur noch wenig durch die Ernährung beeinflusst. Deshalb bringt es wenig, ihn beim Fahren noch zu messen“, sagt Jeukendrup. Der Körper sei normalerweise selbst sehr gut in der Lage, den eigenen Glukosespiegel konstant zu halten.
Glykogen: Kraftstoff für anderthalb Stunden
Das verdankt der Mensch einem ausgefeilten Kontrollsystem: Den Blutzucker-Anstieg nach dem Essen fangen Gehirn, Leber und andere bei der Stoffwechselsteuerung beteiligten Organe mithilfe des Hormons Insulin ab. Dieses wird in der Bauchspeicheldrüse gebildet und sorgt dafür, dass vor allem Muskel-, Fett- und Leberzellen den Zucker aus den Gefäßen entfernen. Fällt die Glukose weiter ab, sorgen Hormone wie Adrenalin, Cortisol und Glukagon für den Abbau von Glykogen, dem schnell verfügbaren Kohlenhydratspeicher in Leber und Muskel. Weil die Kapazitäten dieses Lagers aber nur für eineinviertel bis eineinhalb Stunden Anstrengung reichen, fangen Leber und Niere bald selbst an, Zucker herzustellen und in den Kreislauf einzuspeisen – produziert unter anderem unter Einsatz von Muskeleiweiß.
Und dennoch würde Asker Jeukendrup manchem Hobbyathleten die vorübergehende Anschaffung eines Sensors durchaus empfehlen. „Wenn du nicht weißt, ob du einen guten Fuelingplan hast, dann ist es sicherlich eine sehr gute Idee, die Technologie einzusetzen“, sagt er. Die Werte lassen sich per Bluetooth auf neuere Fahrradcomputer wie von Garmin, Handys oder das sogenannte Supersapiens Energy Band, eine Art Fitnessarmband für 159 Euro, übertragen und somit live beobachten. Zumindest fast: Denn die Echtzeit-Glukosewerte, die die Firma Supersapiens verspricht, haben den Haken, dass sie gerade bei schnellen Veränderungen den eigentlichen Blutwerten um bis zu 5-25 Minuten hinterherhinken. Der Grund: Gemessen wird die Konzentration des Zuckers nicht in den Gefäßen, sondern in der Gewebeflüssigkeit. Und der dortige Wert braucht einige Zeit, um sich an den im Kreislauf anzugleichen. [Update: 1. Juni, 11:08 Uhr] Die Zeitspanne, mit der die Gewebeglukose der im Blut hinterherhinkt, ist sehr variabel – je nach Person und Umständen – und bewegt sich in einem Bereich von 5-20 Minuten. Im Sport dürfte laut dieser Studie der time lag im Mittel 12 Minuten betragen. [Update Ende]
Problematisch: regelmäßig starke Unterzuckerung
Hat der Fuelingplan Lücken, werden also zum Beispiel auf der Fahrt zu wenig energiehaltige Getränke, Gels oder Bananen verzehrt, zeigen sich in der BZ-Kurve tiefe Kuhlen oder Zacken nach unten. Belege für Glukoseabfälle, die in diesem Ausmaß eigentlich nicht vorkommen sollten. Und die belegen: Dem Körper steht nicht mehr genug Energie zur Verfügung, um den Zuckerverbrauch auszugleichen. Entweder, weil zu wenig Kalorien eingenommen wurden oder dies nicht in den richtigen zeitlichen Abständen geschah.
Kurze Spikes nach oben müssen dagegen nicht unbedingt bedenklich sein. In Phasen intensiverer Anstrengung mobilisiert der Körper manchmal zusätzliche Vorräte. Danach sinkt die Kurve aber schnell wieder auf Normalwerte, diese sollten sich ungefähr zwischen 80 und 140 mg/dl bewegen.
Beim Pausenkaffee mit den Kameraden fiel es ihm manchmal schwer, sich auf die Gespräche zu konzentrieren, stattdessen guckte er ins Leere.
Finden sich solche Auffälligkeiten immer wieder in den Kurven, muss das ein Warnzeichen sein. Ruben Berger ist Markenbotschafter für Pas Normal Studios und im vergangenen Jahr zum Beispiel mehr als 23.000 Kilometer geradelt. Eigentlich gab es keinen Anlass zur Sorge, dachte er zumindest. Sicher, er fühlte sich nach dem Radfahren müde und schlapp – und manchmal auch während der Fahrt, gerade am Ende. Beim Pausenkaffee mit den Kameraden fiel es ihm manchmal schwer, sich auf die Gespräche zu konzentrieren, stattdessen guckte er ins Leere. Aber erlebt das nicht jeder einmal beim Rennradfahren? „Zudem gab es immer jemand, der mehr gelitten hat.“
Wenn man unter solchen Umständen immer an seine Grenzen geht, gewöhnt sich der Muskel daran zu hungern.
Jochen Seufert
Die Supersapiens-Sensoren hat er sich vor allem aus Neugier bestellt – und weil er sich wunderte, warum er nach harten Trainingseinheiten oft nicht durchschlafen konnte. „Plötzlich habe ich gesehen, dass ich teilweise mit Blutzuckerwerten um die 50 mg/dl auf Mallorca in der Tramuntana rumeiere“, erzählt er. „Bereits ein Blutzucker unter 60 kann gefährlich werden“, sagt Jochen Seufert, der Leiter der Endokrinologie und Diabetologie der Uniklinik Freiburg, der Ruben behandelt hat. Wenn er nicht bald seine Ernährung umstelle, dann war es das mit dem Rennradfahren, bekam sein Patient von ihm zu hören.
Seuferts Diagnose: Ruben hatte seine Glykogenspeicher vollkommen leer gefahren. Und vor allem: Es unterlassen, sie während und nach dem Fahren wieder ausreichend aufzufüllen. „Wenn man unter solchen Umständen immer an seine Grenzen geht, gewöhnt sich der Muskel daran zu hungern“, erklärt Seufert. Und tut alles dafür, das Zuckerdefizit auszugleichen. Der Muskel lernt, selbst geringe Glukosemengen in den Gefäßen gierig aufzusaugen, und damit anderen Organen wie dem Gehirn wegzunehmen. Das führt zu besonders starken BZ-Abfällen nach dem Essen. Aber auch zu Beginn der Bewegung und nach Pausen rauschen die BZ-Werte bei Sportlern mit einer solchen sogenannten funktionellen Hypoglykämie gerne ab. Die Folge sind Kraftlosigkeit, Schlappheit, Konzentrationsprobleme – oder in ganz extremen Fällen oder bei entsprechender Veranlagung: epileptische Anfälle sowie Bewusstlosigkeit.
Dank Ernährungsumstellung und optimiertem Fuelingplan hat Ruben inzwischen die Probleme weitestgehend in den Griff bekommen. Wichtig sei es zudem, nach dem Fahren die Glykogenlager möglichst schnell wieder mit rasch verfügbaren Kohlenhydraten zu beladen, rät er. Vollständig aufgefüllt werden sie dann mit einem entsprechend reichhaltigen Abendessen.
Sein Beispiel zeigt: Supersapiens Gründer Phil Southerland verspricht der UCI nicht zu viel, wenn er beteuert, dass seine Sensoren die Gesundheit und Sicherheit von Athleten verbessern können. Zumindest langfristig im Training. Leider bietet sein Unternehmen die Sensoren jedoch nur im Fünferpack für zehn Wochen an. Oder sogar als Siebener-, Neunerkombination oder als Jahresabonnement. Wie lange ein Sportler braucht, um sich mit dem eigenen Ernährungsplan sicher zu fühlen, muss jeder für sich selbst entscheiden – die Frage: Wie lange dauert es, bis man sich sicher mit dem eigenen Sport-Ernährungsplan fühlt?
Was denkt ihr über den Einsatz von Bio-Sensoren im Hobbysport?
Über den Autor
Michael Brendler ist selbstständiger Medizin- und Wissenschaftsredakteur für Redaktionen wie die Süddeutsche Zeitung, die Neue Zürcher Zeitung und Zeit online. Er arbeitete als festangestellter Medizin- und Wissenschaftsredakteur für die Badische Zeitung, die Welt/ Welt am Sonntag und zuletzt die Süddeutsche Zeitung sowie als fester Autor für die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung.
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