Rennrad-News

Urlaub daheim
Gravelabenteuer vor der eigenen Haustür

Außergewöhnliche Situationen verlangen außergewöhnliche Lösungen. Die MTB-Profis Max Schumann und Ines Thoma fanden einen Weg, echtes Gravelride-Gefühl mit Start im eigenen Garten aufkommen zu lassen. Hier lest ihr den Bericht von ihrem Tourenabenteuer daheim.

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Gähnende Leere. Wir stehen auf der südlichsten Autobahnbrücke Deutschlands am Grenztunnel bei Füssen, wo die A7 nach eintausend Kilometern Deutschland verlässt und die Urlauber Richtung Fernpass, Österreich und Italien bringt. Am Osterwochenende stauen sich die Multivans und Wohnmobile hier im Normalfall nicht selten bei Blockabfertigung – doch was ist schon normal in diesen Zeiten? Dies ist sicherlich kein gewöhnlicher Ostertag und wir blicken auf eine gänzlich leere Autobahn. Ein seltener Anblick.

# Gähnende Leere am Grenztunnel - stell dir vor es sind Ferien und keiner fährt weg.
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Rund um Ostern, wenn die Tage wieder länger sind, man die weißen Waden das erste Mal ans Licht hält und das Bike gerade frisch beim Service war, zieht es uns Biker raus in die Natur, auf die Trails und gen Süden. Südtirol, Gardasee und Co. locken und wir können es kaum erwarten die Saison einzuläuten.

Wenn wir so zurückdenken, waren wir die letzten 12 Jahren (oder länger) nie an Ostern zu Hause: Die Enduro World Series-Saison hatte normalerweise längst begonnen und die ersten großen Reisen des Jahres zogen uns um diese Jahreszeit auf die Südhalbkugeln dieser Welt. Doch die in den Medien viel diskutierte Entschleunigung ist auch bei uns voll eingekehrt. Zu Hause zu sein, ist nach 4 Wochen auch für uns zur Routine geworden. Doch lassen sich auch hier Urlaubsgefühle herzaubern? Wie entflieht man dem Alltag, wenn man nicht wegfahren darf? Wir machen einen Selbstversuch: Urlaub daheim.

# Osternferien - wir machen eine Radtour daheim.

Was heißt Urlaub eigentlich? Entspannung vielleicht. Dinge tun, die einem Spaß machen. Minimalistisches Leben. Weniger Internet, Handy und kein Netflix. Und vor allem mit der Routine brechen und etwas Ungewöhnliches tun. Der erste Schritt ist für uns das Schlafzimmer zu verlassen und „außer Haus“ zu schlafen. Mehr Urlaubsfeeling geht ja eigentlich nicht. Wir entscheiden uns für das Zelt im Garten. Wer keinen Garten hat, könnte ja auch die Matratze auf den Balkon legen, eine Hängematte spannen oder das Zelt einfach ins Wohnzimmer stellen. Alles ist erlaubt, was Abwechslung bringt.

# Zuletzt haben wir in der Grundschule im Garten gezeltet - heute ist es mal wieder so weit. Und es fühlt sich gleich wie Urlaub an.

Zweiter Schritt: Grillen. Ok, das ist jetzt erst mal nichts so besonderes, aber normalerweise grillen wir auf einem Gasgrill, schnell und effektiv. Jetzt nehmen wir uns die Zeit in der Feuerschale einzuheizen und basteln aus einem alten Ofenrost einen Grillrost. Gut zwei Stunden dauert es, bis aus dem Feuerholz eine gleichmäßig heiße Glut wird. Zwei weitere Stunden, in der wir gänzlich entschleunigt das (vegetarische) Grillgut vorbereiten, gemütlich ein Bier trinken und einfach den wunderschönen Abend im Garten genießen. Die Zeit draußen hat schon etwas Magisches, vor allem am Abend. Jetzt Anfang April wird es allerdings auch bei diesem sonnigen Wetter spätestens um 8 Uhr zu kühl, um draußen zu sein. Doch mit Daunenjacke, Mütze und Abenteuerlust lässt sich nach der Dämmerung die schönste Zeit erleben. Wer keine Möglichkeit zum Grillen hat, könnte sich ja auch ein „Lagerfeueressen“ auf dem Herd zaubern und es bei offenem Fenster mit Mütze und Schal genießen. Dazu ein paar Kerzen, eine Flasche Wein und gute Gespräche – und vor allem kein Fernseher, Youtube oder andere Zeitfresser.

# Grillen überm Feuer - leckere Langsamkeit.
# Biker, die aufs Grillrost starren.

Nach einer erstaunlich wenig kalten Nacht (dank zwei Schlafsäcken und einer Wolldecke) fühlen wir uns tatsächlich wie im Urlaub. Wir frühstücken draußen und genießen die Vorzüge vom Camping daheim. Richtiges Geschirr, ein Kühlschrank, immer die richtigen Klamotten dabei, eine bequeme Sitzgelegenheit im Strandkorb und vor allem eine richtige Toilette. Haha.

Auf geht’s. In unserem Urlaub haben wir natürlich eine Radtour geplant. Doch auch die soll anders sein und nicht wieder über die Hometrails führen. Etwas Neues zu erleben, ist ja der Plan. In den Bergen liegt noch recht viel Schnee und sowieso empfiehlt es sich ja zur Zeit, gut besuchte Wanderwege zu meiden und das Risiko zu minimieren. Wir entscheiden uns für das Enduro-Bike der Rennradler und steigen auf das Multitalent Gravelbike. Natürlich würden für eine ausgedehnte Entdeckungstour wie diese auch andere Bikes gut funktionieren. Eigentlich alles, was ansatzweise gut rollt: Reiserad, Tourenrad, Hardtail, XC Fully und so weiter.

# Wir wollen mit Bergblick rollen. Und neue Wege finden.

Mit Hilfe der Navigationsapp Komoot wollen wir neue Wege erkunden. Die App haben wir bisher vor allem in fremden Regionen verwendet, um auf Kurs zu bleiben. Bei längeren Touren daheim hat sie sich nun aber auch schon bewährt. Vor allem, wenn man neue Wege und bisher unbekannte Touren-Highlights der Region entdecken will. Mit Smartphone am Lenker wird man an einsame Ecken und vor allem auch zuverlässig wieder zurückgeführt. Im Algorithmus der Kartensoftware erkunden wir also nun auch unsere Heimat, wobei sich die Kategorien „MTB“ oder „Fahrrad mit Schotter“ erstaunlich gut mit unseren Vorlieben auf dem Gravelbike decken. So werden Wege gewählt, die wir auf den meisten anderen Karten leicht übersehen hätten und Verbindungen geschaffen, die man so nicht finden würde. Auch die Highlight-Funktion ist ein praktisches Feature, in dem andere User die schönsten Punkte ihrer Touren markieren. Mit wenigen Klicks sind diese dann in die eigene Route eingefügt und die Tour somit um ein paar witzige Trailmeter oder eine schöne Aussicht erweitert.

# Das „Navigationsgerät“ ist am Lenker verzurrt und weist den Schotterweg. - Am Ende sollen es 125 km und 1.700 hm werden.

Wir haben am Lagerfeuer entschieden, heute mal Richtung Osten zu radeln. Die Oberallgäuer Berge im Süden kennen wir zur Genüge. Richtung Osten und München jedoch folgt eigentlich eher flaches Hügelland, das uns mit dem Bike nicht besonders reizt. Folgt man aber dem Verlauf der Alpen parallel in einem gewissen Abstand, so wird man mit ganztägigem Spitzenpanorama belohnt. Unsere Route führt uns über kleine Straßen, viele Schotterwege und einigen Trailhighlights über Marktoberdorf, Bernbeuren und Lechbruck nach Füssen und dann über Pfronten und vorbei an Nesselwang wieder zurück.

Keine 20 Minuten sind wir unterwegs und entdecken schon den ersten unbekannten, schönen Schotterweg, den wir die letzten Jahre schon mehrfach unwissend auf einer viel befahrenen Landstraße umfahren haben. Doch das Gravelbike bringt uns dazu, neue Wege zu probieren und zu genießen, die mit dem Rennrad zu wild und für unsere Endurobikes deutlich zu zahm sind. Und es kommt sofort Freude auf, als der Untergrund vom harten Asphalt auf weichen Schotter wechselt und das Abrollgeräusch der Reifen vom eintönigen Surren zu einem feinen Knirschen wird. Es sind die Wechsel in der Landschaft, die Abwechslung der Wegarten und die neuen Perspektiven, die uns so reizen und gefallen. „Trail-Highlight!“, ruft Max beim Blick auf den Bordcomputer und biegt eilig nach links in den lichten Fichtenwald. Schmale Pfade sind doch noch besser als Schotterwege. Da schlägt unserer Bikerherz gleich höher, das kurze Wurzelfeld uns aber fast zeitgleich den Rennlenker aus der Hand. Geschüttelt nicht gerührt. Wenig später, als wir wieder auf einen breiten Fahrweg rollen, gibt Max mit einem Lachen zu: „Trails mit dem Gravelbike sind schön und witzig. Aber es ist auch echt schön, wenn sie wieder vorbei sind.“

Eine gute Stunden später, die über einsame Feldwege, geschotterte Radrouten, trockene Trail-Highlights und matschig-morastige Tiefpunkte führt, erreichen wir den Lechstausee. So schön, so türkis. So nah zu Hause und doch so unbekannt. Entlang des gestauten Flusses führen schöne Rad- und Spazierwege, die wir mit Genuss entdecken. Und die wohl auch dank dieser ungewöhnlichen Corona-Oster-Ferien erstaunlich leer und gut zu beradeln sind. Die wenigen Spaziergänger, die wir treffen, sind alle überaus freundlich und erstaunlich redebedürftig. Allgemein beeindruckt uns die Ruhe und Weite der Landschaft, die diese Art zu radeln aber auch diese besondere Zeit so auszeichnet.

# Über Stein und über Stock. Unsere Identität als Mountainbiker lässt sich auch mit Rennradlenker kaum verschleiern.

Am Schloss Neuschwanstein ein ähnliches Bild – fast noch gespenstischer. Ein paar vereinzelte Ehepaare rollen auf E-Bikes vorbei. Ansonsten befindet sich kein Mensch an diesem Ort, der gewöhnlich über 1,4 Millionen Touristen aus der ganzen Welt anzieht. Und wo Reisebusse, Pferdekutschen und vor allem mit Kameras überladene Weltentdecker keinen Platz für Radler lassen. Diese Massen sind der Grund, weshalb wir das kitschig-schöne Schloss bisher höchstens kurz passiert und hier noch nie verweilt haben. Aber nun sind A) ja wir „im Urlaub“ und B) ist sonst auch niemand hier. Also lassen wir uns dieses Highlight nicht entgehen und ergänzen die Tour um 150 steile Höhenmeter auf der eigentlich für Radfahrer gesperrten Touri-Straße hoch zum verlassenen und verschlossenen Schloss.

# Vor verschlossenem Tor - Ruhe und Stille statt Touristen und Trubel am Schloss Neuschwanstein.

Der Rückweg beginnt und wir müssen aufpassen, dass wir hier in unmittelbarer Nähe zu Österreich nicht versehentlich die Grüne Grenze ins Nachbarland passieren und eine saftige Geldstrafe kassieren. Die App, von der aktuellen Krise noch gänzlich unbeeindruckt, würde uns tatsächlich knapp über die Grenze führte. Doch durch die spontane Änderung der Route rollen wir in der Altstadt von Füssen tatsächlich an einer geöffneten Eisdiele vorbei – der einzige Laden in der Stadt, der offen zu sein scheint, und vor dem sich eine Reihe Spaziergänger mit geräumig viel Sicherheitsabstand sauber aufreihen. Wir schließen uns an. Und genießen das Eis „to go“ fast noch mehr als den größten Eisbecher am Gardasee. Ein bisschen Italien, das wunderbar süß schmeckt.

# Und bitte immer mindestens eine Radlänge Abstand halten. Ob auf dem Trail oder beim Eisessen danach.

Von Füssen zurück zum Strandkorb im Garten sind es jetzt noch knapp 50 Kilometer. In diesem Gebiet kennen wir uns relativ gut aus und haben in die Route einige unserer Lieblingsgravelabschnitte eingebaut. Wir verlassen die hohen Berge und nehmen einen schönen Wanderweg entlang des Flusses Wertach, der uns unter einer immer wieder beeindruckenden Bogenbrücke der A7 durchführt. Flüsse und Seen haben sich wieder einmal als hervorragender Anhaltspunkt für schöne, schmale Pfade längerer Ausfahrten erwiesen.

Nach einem langen Tag im Sattel träumen wir nun vor allem von einem Aperol Spritz in der Hängematte und nach 125 km mit zirka 50 % Asphalt und 50 % Offroad-Anteil legen wir zufrieden und müde die Füße hoch. Urlaub ist doch was Schönes. Und Urlaub daheim hat auch seine Vorteile. Nach einer halben Woche „Home-Office“ sind wir ohnehin schon fast wieder „Home-Urlaubs“-reif.

# Wo Gravel ist, ist auch ein Weg.

Die Geschichte in Bildern

# Gemüse schneiden in der Sonne - als wir am späten Nachmittag das Grillgut vorbereiten, ist noch T-Shirt Wetter angesagt.
# Die Trophäen der Trans Provence halten wir in Ehren.
# Wie wir Radfahrer wissen: Das Wichtigste ist, gut zu ölen.
# Buch und Bier. Dank Heimatnähe gut temperiert aus dem Kühlschrank.
# Bärlauch aus dem Garten würzt die Butter.
# Nach 2 Stunden haben sich die Flammen gelegt und die Glut ist bereit.
# Vorfreude ist die schönste Freude.
# Wir lernen: Heizt man der Schale so richtig ein, sollte man sie nicht auf dem Rasen stehen lassen.
# Decaf - die beste Erfindung seit es Kaffeejunkies gibt.
# Schön vorsichtig, damit der Deckel unseres kleinen Reisebegleiters nicht schmilzt.
# Wir lieben unser kleines Garten-Camping-Setup - zwischen den Bildern und dem Text sind vier Tage vergangen und seither haben wir noch zweimal auf der Feuerschale gegrillt.
# Morgähn. Die nicht zu kühle Nacht trotz Temperaturen um die 3° C ist munter überstanden.
# Der Inhalt des Frühstücks sieht eigentlich aus wie immer. - Aber mit Gaskocher und Wollmütze bei Sonnenaufgang schmeckt es nach Urlaub.
# Der Duft der Möglichkeiten am Morgen.
# Unsere Radtour geht los - volle Fahrt voraus. Mit dabei ist jede Menge Spirit of Enduro.
# Corona-bedingt sind alle Spielplätze bis auf Weiteres geschlossen - unser großer Abenteuerspielplatz auf zwei Rädern ist erfreulicherweise noch zugänglich.
# Die meisten kleinen Ortschaften sind am Vormittag noch menschenleer.
# 200 Jahre alte Bäume säumen die fast zwei Kilometer lange Lindenallee bei Marktoberdorf. - Eine von vielen kleinen Entdeckungen unserer Tour.
# Nicht jedes Trailhighlight entpuppt sich als ein solches. - Wir wühlen uns mit den Gravelbikes aber immer irgendwie durch.
# Über Stock und über Stein, graveln kann so lustig sein.
# Max schmeckt das AlpenpanAroma.
# Ihr seid doch auf dem Holzweg. - Lesen wir in Annettes Augen, als wir uns auf diesem schönen Steg begegnen. Mit einem fröhlichen „Frohe Ostern!“ von Achim wurde die Situation aber schnell entschärft.
# Am Lech angekommen blicken wir über einen ausgedehnten Stausee - an dessen Ufer schlängeln sich schmale Wege – ideales Gravelgelände.
# Wurzeln. Hop-hip-hurra.
# Nach vier Stunden die erste Käsebrotpause.
# Bei Schwangau präsentiert sich das Schloss Neuschwanstein majestätisch am Berg.
# Gähnende Leere und schon müde Beine am Schloss Neuschwanstein.
# Es ist schon witzig, wie man Sehenswürdigkeiten im eigenen Land über Jahre ignoriert, während man im Italienurlaub in jede Kirche hüpft.
# Eis, Eis, Baby! - Eine Eisdiele in Füssen ist doch tatsächlich trotz Corona und Karfreitag geöffnet.
# Wo liegt der Grenzbereich der winzigen Seitenstollen? Max posiert in bester Fotofahrer-Manier.
# Auf dem Weg in die Bikeeldorados der Alpen rollt man oft über diese A7 Brücke bei Nesselwang - erst von unten kann man das verrrückte Bauwerk in seiner Gänze bestaunen.
# Trailhighlight an der Wertach.
# Schwimmschotter.
# Da offizielle Radwege in Süddeutschland oft nur sehr wenig Trails beinhalten, lassen wir diese mit dem Enduro-Bike meist links liegen. - Mit weniger Federweg und auf längeren Touren machen sie aber viel Sinn und auch Spaß.
# Meine Straße, mein Zuhause, mein Bloks - der süße Energiewürfel rettet uns auf den letzten Metern.
# Ich gravel, also bin ich.
# Kumpel Komoot sagt noch 10 km - wir wissen aus Erfahrung, dass die letzten 6 km bergab gehen. Sind also fast daheim.
# Erschöpftes Lächeln - bald haben wir es geschafft.
# Finito, Arrivederci, Goodbye.

Wie arrangiert ihr euch mit dieser außergewöhnlichen Situation?

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