Die Entschuldigung kommt zu spät. Ein Fan bat um ein Foto, wurde durch obszöne Gesten eines Fahrers beleidigt – und dann zur Täterin stilisiert. Warum das Team Deceuninck-Quick Step zwar sportlich ganz oben, aber menschlich offenbar ganz unten angekommen ist. Ein Kommentar von Carolyn Ott-Friesl von Ciclista.net.
Iljo Keisse ist mir schon seit langen Jahren ein Begriff. Als glühender Sixdays-Fan kenne ich den Belgier seit Anfang der 2000er Jahre. Sympathie hat er bei mir eingebüßt, als er 2008 positiv auf das Amphetamin Cathin sowie das Maskierungsmittel Hydrochlorothiazid getestet wurde, da fühlte ich mich als Fan ziemlich verraten von einem meiner strahlenden Helden von der Radrennbahn. Aus diesem Grund interessierte ich mich nicht so brennend dafür, was Iljo Keisse danach so machte, zumindest nicht mehr als Fan. Natürlich bekam ich mit, dass er inzwischen in der World Tour, also in der obersten Radsportliga fährt, so richtig Begeisterung kam bei mir aber für ihn nicht mehr auf.
Und das wird sich wohl auf absehbare Zeit auch nicht mehr ändern. Am Montag wurde bekannt, dass sich Keisse mehr als unangemessen einem Fan gegenüber verhalten hat. Eine 18-jährige Kellnerin bat am Rande der Vuelta a San Juan in Argentinien um ein gemeinsames Foto mit dem Team Deceuninck-Quick Step.
Die Frau stellte sich vor das Team und freute sich über ein gemeinsames Foto mit den Athleten. Erst danach fiel ihr auf, wie sie gerade gedemütigt worden war.
Was Deceuninck-Quick Step-Profi Iljo Keisse sich erdreistete zu tun, ist mehr als dumm. Er nutzte die für das Foto halbgebückte Position der Frau, drückte sein Becken Richtung ihres Hinterns (ob mit oder ohne Berührung ist strittig) und deutete mit obszönen Gesten an, sie gerade von hinten zu nehmen. Was für eine unwürdige, unangemessene Aktion. Seine Teamkollegen – das selbsternannte “Wolfpack” – scheinen an dieser Demütigung keinen Anstoß zu nehmen, sondern sie finden es auch noch ziemlich lustig.
https://twitter.com/ElPaisDeportes/status/1090671096658055174
In den sozialen Netzwerken geht die Geschichte jedoch ab Montagabend durch die Decke, vor allem Argentinier*innen sehen den Vorfall als arrogante Geste eines Ausländers, der denkt, er könne sich als Gast in diesem Land alles erlauben. Einige Fans des “Wolfpack” sehen die Sache nicht so eng. “Boys will be boys” – so sind Jungs halt. Auch wenn sie, wie Iljo Keisse, schon 36 Jahre auf dem Buckel haben und es eigentlich besser wissen sollten.
Die Frau, die ihren Namen übrigens offenbar nicht in der Presse lesen möchte, fühlt sich dadurch völlig nachvollziehbar sexuell belästigt und zeigt Keisse bei der argentinischen Polizei an, die eine Strafe von umgerechnet 70 Euro verhängt. Keisse zahlt und entschuldigt sich (auch auf Spanisch), aber erst nachdem der Vorfall ins Blickfeld der Öffentlichkeit geraten war.
https://twitter.com/IljoKeisse/status/1090309187723243521
Die Veranstalter der Vuelta a San Juan gehen zunächst davon aus, dass das Team geeignete disziplinarische Maßnahmen ergreifen wird – das ist nicht der Fall. Wolfpack halt, so sind sie eben, die Jungs, und entschuldigt hat Keisse sich doch auch und ganze 70 Euro bezahlt. Die argentinischen Rennveranstalter sehen ihren Ruf in Gefahr und disqualifizieren Keisse nach der dritten Etappe. Und das ruft Teamchef Patrick Lefevere auf den Plan.
https://twitter.com/iusport/status/1090776818016169986
Und wenn man Keisses völlig unangemessene Geste noch als richtig dummen und deplatzierten Scherz abtun kann, sind die Äußerungen von Lefevere das, was man gemeinhin “Öl ins Feuer gießen” nennt. Ein blöder Scherz ist halt daneben gegangen, was solls, findet Lefevere. Der eigentliche Skandal sei doch der Ausschluss seines Fahrers! Die Frau wolle doch nur Geld herausschinden und er überlege, sein ganzes Team von der Veranstaltung abzuziehen aus Ärger – über die Disqualifikation wohlgemerkt, nicht über den menschlichen Totalschaden seines Teams.
In gewissen Kreisen wird nun so getan, als wäre die Frau Schuld an dem Rummel. Dabei wird jedoch verkannt: Nicht der dumme “Scherz” von Iljo Keisse ist das, was die Wut von vielen provoziert hat. Vielmehr ist es der Umgang damit. Die Sache wäre ganz sicher nicht so ins Rollen gekommen, wenn der Fehler eingestanden und gesagt worden wäre: Das, was passiert ist, war sehr falsch und wir sorgen dafür, dass dieser Fall teaminterne Konsequenzen hat.
Stattdessen ist genau nichts passiert, auf der Facebook-Seite des Teams war von dem Vorfall bis Donnerstag nichts zu sehen, heute erschien dort und auf twitter die Entschuldigung des Teams.
https://twitter.com/deceuninck_qst/status/1091123076455165952
Aber zuvor wurde die Geschädigte zur Täterin stilisiert, obwohl sie einfach nur den Mut hatte, Unrecht zur Anzeige zu bringen. Aber der Irrwitz scheint keine Grenzen zu haben: Sogar Iljo Keisses Vater meldete sich zu Wort und fand, dass sein Sohn eigentlich die Frau verklagen sollte, weil sie sich in dieser aufreizenden Pose vor ihn gestellt hätte. Was auch immer die alle nehmen – ich möchte nichts davon.
Um sich so eine alternative Realität zu erschaffen, dafür muss man erst einmal die Nerven haben.
Einer 18-Jährigen, die um ein Foto bittet, von einem Fahrer aufs Übelste bloßgestellt wird, ihren Namen nicht in der Presse lesen möchte, zu unterstellen, nur auf Geld und Aufmerksamkeit aus zu sein… Puh. Ich würde ja gern wissen, was Lefevere sagen würde, wenn Keisse sich das bei des Teamchefs Tochter geleistet und diese so gedemütigt hätte – übrigens in Teamkleidung mit allen Sponsorenlogos drauf.
https://twitter.com/iamspecialized/status/1091155608370323457
Titelsponsor Deceuninck hatte dann verlauten lassen, dass es nach der Vuelta a San Juan ein ernstes Gespräch mit dem Team geben werde. Der Fensterhersteller hat mit seinem Einstieg Ende letzten Jahres den Weiterbestand des Teams gesichert und hatte sich sicherlich andere Schlagzeilen gewünscht. Auch Radsponsor Specialized reagierte. Nach dem Handeln der Sponsoren gab es jetzt auch ein Zurückrudern und eine Entschuldigung des Teams. Schade, die Einsicht kam zu spät und wäre auch ohne das Theater wünschenswert gewesen.
Das Verhalten des Teams und vor allem des Teamchefs lässt vermuten, dass dieses Wolfsrudel-Gehabe eine ziemlich ekelhafte Machokultur befördert. Eine heftige Reaktion von Fans und Sponsoren auf diesen Vorfall wäre mehr als wünschenswert. Wer solch ein Frauenbild akzeptiert bzw. dann noch auf das Opfer losgeht und eine 18-jährige Kellnerin zum Abschuss durch Fans freigibt, dessen Horizont scheint mehr als begrenzt zu sein. Das Team Deceuninck-Quickstep mag zwar sportlich ganz vorne mitmischen. Menschlich scheint das Wolfpack aber richtig weit unten angelangt zu sein.
Über die Autorin
Carolyn Ott-Friesl wohnt in Rosenheim und schreibt auf ihrem Blog ciclista.net über Radsport. Die gelernte Journalistin und Bloggerin bezeichnet sich selbst als „nicht schnell, nicht besonders – aber mit Leidenschaft!“. Ihre Rennradhistorie: „Von einem zu großen über ein zu altes Rennrad kam ich schließlich zu meinem jetzigen Carbon-Flitzer. Darauf spule ich zwischen 500 und 5.000 km im Jahr ab, sogar 24 Stunden am Stück kann man darauf verbringen“. Auf Twitter kommentiert sie engagiert das aktuelle Geschehen im Sport.