Re: Jetzt geht´s los! L´Equipe - Armstrong gedopt?
Guckt euch doch mal die Geschichte an:
Ich hab mir mal erlaubt die meines erachtens wichtigen Passagen zu markieren.
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100 Jahre Doping: Annäherungen an eine Geschichte der künstlichen Leistungssteigerung im Radsport
Neue Zürcher Zeitung 3.9.99
Von Michael Gamper
Der Gebrauch von Dopingmitteln ist im Radsport als Geheimpraktik stets Usus gewesen, die neueren Enthüllungsberichte geben nun auch Aussenstehenden einen Einblick in den Umgang mit leistungsfördernden Mitteln im Velometier und in deren Funktion. Eine historische und ethnologische Betrachtung kann neue Perspektiven auf die momentane Dopingdiskussion eröffnen, indem sie die heutigen Haltungen des Radmilieus und der Dopinggegner gleichermassen geschichtlich perspektiviert und diese als partikulare, in bestimmten Traditionen stehende Meinungen zeigt. Das Elend des Dopingdiskurses erweist sich so als eines der undurchdachten Grundlagen.
1886 fällt während der Ausdauerprüfung Bordeaux-Paris der Fahrer Linton tot vom Rad. Mit Aufputschmitteln hat der Engländer seine Leistungsgrenzen so weit hinausgeschoben, dass sein Organismus die Belastung nicht mehr aushält. In Begleitung des Todes tritt das Doping im Radsport erstmals an die Öffentlichkeit, 81 Jahre später traumatisiert es in gleicher Gesellschaft an der Tour de France den modernen Spitzensport.
Am 13. Juli 1967 kann sich der dreissigjährige Tom Simpson, ein Engländer auch er, in der glühendheissen Steinwüste des oberen Teils des Mont Ventoux kaum mehr auf dem Rad halten, schwankend benötigt er die ganze Strassenbreite, um sich fortzubewegen, schliesslich hält er an. Sein Sportlicher Leiter hilft ihm nochmals in den Sattel, wenig später aber sinkt der ehemalige Weltmeister an den steinigen Wegrand, die Hände fest um den Lenker gekrallt. Er stirbt Stunden später im Spital von Avignon. Die Todesursache ist Herzversagen, bei der Obduktion stellt man eine Mischung aus Amphetaminen und Alkohol fest, in den Trikottaschen und im Gepäck des Fahrers finden sich die gleichen Substanzen. Auch Simpson war der bedingungslose Wille zum Sieg zum Verhängnis geworden: Das Aufputschmittel hatte seine Leistungsreserven bis zur Neige ausgeschöpft, das Betäubungsmittel seine Schmerzen, die Warnsignale des Körpers, gebannt.
Doping ist prinzipiell eine Geheimwissenschaft, wenn ihre Praktiken publik werden, muss ein Fehler im System der Grund sein. Die Aufmerksamkeit ist denn auch immer gross, wenn Einblicke in die Praktiken der künstlichen Leistungssteigerung genommen werden, der Radsport wird dann jeweils krisenhaft erschüttert. Das war so, als
1998 der sogenannte "Festina- Skandal" publik wurde, das war aber auch schon so, als
1924 die Brüder Henri und Francis Pélissier im Café de la Gare in Coutances ihre Trikottaschen leerten, Chloroform, Kokain und eine Pille namens "Dynamit" auf dem Wirtshaustisch ausbreiteten und so dem Journalisten Albert Londres zum berühmten Artikel "Les Forçats de la Route" (Die Zwangsarbeiter der Strasse) verhalfen. Und nach Simpsons Tod wähnten viele den Radsport vor dem Ende, die Folge war aber bloss die Einführung von Dopingkontrollen, welche die Vertreter des Metiers bald auf virtuose Weise zu umgehen wussten. Der Radsport hat einen starken Magen, kaum ein Eklat, den er nicht zu verdauen vermöchte.
Die Wurzeln des Fairplay
Aus der Perspektive einer Ethik des "fairen Sports" mögen solche Impressionen aus der Geschichte des Radsports lediglich die moralische Verwerflichkeit eines Milieus belegen, das sich vorzugsweise aus Betrügern, Medikamentenabhängigen und Drogendealern zusammensetzt. Eine solche Sichtweise lässt aber ausser acht, dass ihr Standpunkt und das Selbstverständnis der Radsport-Kreise ihren Begründungszusammenhang zwar ungefähr zur gleichen Zeit knüpften, sich aber aus unterschiedlichen ideologischen Voraussetzungen in andere Richtungen entwickelt haben und deshalb nun auf gänzlich verschiedene Traditionen zurückblicken. Pierre de Coubertin hat vor der Jahrhundertwende ein sportphilosophisches Programm entworfen, das ein Gegenentwurf zur gesellschaftlichen Moderne sein sollte und zugleich das (männliche) bürgerliche Subjekt mit den Eigenschaften für das kapitalistische Erwerbsleben ausrüsten sollte.
Die Spannung, die sich aus dieser doppelten und eigentlich gegensätzlichen Bestimmung des Sports ergibt, prägt auch den Fairness-Begriff, zusammen mit dem Argument der Chancengleichheit und jenem der Gesundheitsgefährdung bis heute das meistgenannte Argument gegen Doping. Fairplay hatte einerseits seine Funktion im Rahmen einer auf Übersichtlichkeit, Chancengleichheit und Transparenz beruhenden besseren (Sport-)Welt, wo das (Schein-)Handeln durch Rücksichtnahme auf die anderen geprägt ist, anderseits sollte es aber auch den jungen Männern helfen, durch die Tugenden der Mässigung und der Disziplin die Lebensbedingungen in der veränderten Berufswelt zu meistern. Verstärkt wurden die Fliehkräfte innerhalb des Coubertinschen Konzepts zusätzlich, als vorgesehen war, dass durch den Sport auch dem Fairplay entgegengesetzte Fähigkeiten und Eigenschaften wie Risikobereitschaft, Privatinitiative und Siegeswille trainiert werden sollten.
Der Radsport hat sich der Ideologie des Olympismus nie unterworfen. Coubertin hatte sein Programm wohlweislich an den materiell interesselosen Amateursport gebunden, der Radsport ist aber derjenige Sport, der sich in Amerika und Europa als erster professionalisiert hat. In Paris hatte sich um 1900 eine Szene von Professionals gebildet, welche in der schnell wachsenden Popularität der Radrennen die pekuniäre Basis für ein neues Berufsfeld erkannt hatten. Die kapitalistische Gesetzlichkeit hat sich im Habitus dieser Kreise unvermittelter abgebildet als in den olympischen Gedanken. Der monetär verwertbare Reiz des Radsports waren die nicht für menschenmöglich gehaltenen Ausdauerleistungen, welche die Athleten an den bis in die 1890er Jahre noch ohne Ruhepausen durchgeführten Sechstagerennen oder in den fast 500 km langen Etappen der Tour de France zu erbringen hatten.
Wollte man als Berufsmann sein Produktionsmittel, nämlich seinen Körper, in Schuss halten, lag es nahe, zu medizinischer Hilfe zu greifen. Dabei galt es, die Leistungssteigerung so zu betreiben, dass die Siegeschancen möglichst hoch, die gesundheitsschädigende Wirkung aber möglichst klein sei. Der Deutsche Sportärztebund trug 1927 an seinem Jahreskongress in Berlin dieser Entwicklung Rechnung. Da bei den Profisportlern der Schwerpunkt nicht im sportlichen, sondern im sozial-beruflichen Erfolg liege, lasse sich Doping in deren Fall durchaus verteidigen, nur im Amateursport sei künstliche Leistungssteigerung in jedem Fall zu verbieten, wurde dort festgehalten. Wenn Oscar Camenzind heute auf die Frage, ob in seinem Team gedopt werde, mit der ausweichenden Bemerkung antwortet, sie seien "eben Profis", so entspricht dies dem Arbeitsethos eines hundertjährigen Berufsstandes, das sich kaum von demjenigen von Spitzenkräften der Wirtschaft unterscheidet. Das Problem dieses Berufsstandes ist es freilich, mittlerweile in ein sich seit einigen Jahrzehnten zunehmend universalisierendes Sportsystem eingebunden zu sein, dessen Anforderungen den "unzivilisierten" Ursprüngen des Radsports keine Rechnung tragen.
Doping als Initiationsritual
Neben den pragmatischen Funktionen kommt dem Doping im System des Radsports freilich auch eine tragende Rolle in der gruppeninternen Differenzierung zu. Zwischen dem Tod Lintons und demjenigen von Simpson hat sich eine Kultur des Dopings installiert, welche von Generation zu Generation tradiert worden und im konservativen Radsport ein zentrales Moment des Selbstverständnisses geworden ist.
Erwann Menthéour, ein ehemaliger Radprofi, hat in "Secret défonce" Doping als Teil eines Initiationsrituals beschrieben, das ein junger Rennfahrer über sich ergehen lassen muss, um in den Kreis der Grossen aufgenommen zu werden. Halb ängstlich, halb hoffnungsvoll erwarten die starken Junioren den Moment, an dem ihr Umfeld sie für würdig hält, der guten Form mit Amphetaminen nachzuhelfen, behutsam werden die psychischen und physischen Abneigungen der Talente gegen Spritzen überwunden, indem ihnen zuerst Vitamine injiziert werden. Diese "rites de passage" transformieren den Junior allmählich in einen Professional, machen ihn körperlich und mental bereit für das Berufsleben als Radrennfahrer. Das Ziel eines jeden Radsportlers ist es, "Profi" zu werden, ein "Profi" zu sein bedeutet, allen Fährnissen der Landstrasse gewachsen zu sein und in Selbstverantwortung mit den eigenen und fremden Anforderungen an den Körper umzugehen. Das Metier bietet hierfür bewährte Hilfestellungen, und dazu gehörten oder gehören auch Strychnin, Kokain, Alkohol, Amphetamine, anabole Steroide, Wachstumshormone, Kortikoide, Epo, PFC und künstliches Hämoglobin.
Einschnitte in der jüngeren Geschichte des Dopings im Radsport waren die Einführung von Kontrollen im Anschluss an den Todesfall von Simpson und die Verwissenschaftlichung der Leistungsverbesserung seit den späten achtziger Jahren. Die Kontrollen, die bis in die achtziger Jahre mit milden Sanktionen (Zeit- und Geldbussen, erst im Wiederholungsfall kurze Sperren) gekoppelt waren, haben bei Fahrern und Betreuern nicht zur Einsicht geführt, dass man die künstliche Leistungssteigerung dosieren müsse, sondern vielmehr deren Phantasie angeregt und abenteuerliche Methoden zur Umgehung von positiven Befunden hervorgebracht. Willy Voet, der ehemalige Festina-Masseur, beschreibt diese Praktiken in "Massacre à la chaîne" detailliert. Die Kriminalisierung des Dopings hat dazu geführt, dass die Geheimpraktiken noch geheimer wurden, dass sie noch stärker abgedichtet wurden gegen fremden Zugriff. Damit wurde ein fatales Dopingbekämpfungssystem in Gang gesetzt, das schliesslich dazu führte, dass künstliche Leistungssteigerung noch effizienter und planvoller betrieben wurde. Während die einen ihr System von Substanzennachweisen, Kontrollen und abschreckenden Strafen zu perfektionieren streben, entziehen sich die anderen durch ständig neue Dopingmethoden. Die Kontrollen, in denen in der Regel nichts nachgewiesen werden kann, dienen als Beglaubigung der Unschuld der Fahrer, das Verbot bewährter Substanzen treibt dazu an, neue Mittel zu entdecken und zu entwickeln.
War das Doping lange eine Schwarzkunst der Pfleger und Masseure gewesen, die auf tradierten Erfahrungen beruhte und in der neue Mittel nur langsam und zögerlich Eingang fanden, so erfuhr die künstliche Leistungssteigerung in den achtziger Jahren an den italienischen Universitäten einen Innovationsschub. Lag das Schwergewicht der Behandlungen vorher auf dem punktuellen Einsatz von schmerzbetäubenden und euphorisierenden Mitteln im Wettkampf und auf kurzzeitigen Kuren im Hinblick auf ein wichtiges Rennen, so wurde den Fahrern nun nach ausgiebigen medizinischen Tests ein Programm zusammengestellt, das die Supplementierung für eine ganze Saison regelte.
Misere des Dopingdiskurses
Der Wissensvorsprung der italienischen Teams, der erst in den neunziger Jahren durch Transfers von Fahrern in Teams anderer Länder abgebaut wurde, hat die Renaissance des italienischen Radsports Ende der achtziger Jahre eingeleitet und länderspezifische Dopingkulturen installiert. Hier die systematisch-wissenschaftlich vorgehenden Italiener, über deren Dopingsystem man wohl erst nach Bekanntwerden der laufenden polizeilichen Untersuchungen Genaues wissen wird, dort die Belgier und Holländer, die weitgehend noch immer nach den archaischen Methoden ihrer Väter verfuhren. Und dazwischen die Franzosen, die zumindest teilweise wie etwa Bruno Roussel bei Festina ein vergleichsweise verantwortungsvolles Dopingsystem aufbauen wollten, in dem die Mittel unter ärztlicher Kontrolle eingesetzt wurden. Wie das Metier heute auf die verschärften Kontrollen und die ständige Gefahr von Razzien reagiert, weiss man nicht. Die Gefahr ist gross, dass die an den Umgang mit Supplementierungen gewöhnten Fahrer neue, noch stärker auf Geheimhaltung bedachte Kanäle benutzen.
Ein Blick auf die Geschichte und Soziologie des Radsports mag auch als Erklärung dienen für die Diskrepanz von offiziellem Diskurs der Dopinggegner in Sportjournalismus und -wissenschaft und den Praktiken im Radsport. Die Diskursgewaltigen treten auf mit dem Anspruch, mit ihrer (in den Grundlagen meist undurchdachten) Ablehnung von Doping und der moralischen Verurteilung der Dopingpraktizierenden im Recht zu sein, die Vertreter des Radmilieus, die über keine öffentliche Versprachlichung ihres Selbstverständnisses und ihrer Praktiken verfügen, reagieren mit Verweigerung und Stummheit. Erstere berufen sich - vor allem in Frankreich und Italien - auf die Anti-Doping-Gesetze, deren Grundlage freilich auch bloss die Ideologie der Diskursmächtigen ist. Zwei Kulturen treffen hier aufeinander, deren Verständigung ausgeschlossen ist und die sich auf Grund dieser historisch gewachsenen entgegengesetzten Ausrichtung ihres Selbstverständnisses einen für alle Beteiligten fruchtlosen Kampf liefern. Einen Sieger wird es so bald nicht geben, zumal die Kräfte der Parteien in etwa gleich verteilt sind.
Der Dopingdiskurs in seiner heutigen Ausrichtung verhält sich so ähnlich zweideutig zu den Problemen des modernen Profisports wie de Coubertins Sportphilosophie zu den gesellschaftlichen seiner Zeit: Er postuliert eine Welt des Sports, in der Ehrlichkeit, Rücksichtnahme und Chancengleichheit triumphieren können, und deckt zugleich mit dem Schein dieses (nicht durchsetzbaren) Ideals eine Praxis, die dank dieser Bemäntelung um so unverfrorener agieren kann. Im Radsport ist seit dem Sommer 1998 diese von den aufrichtigen Dopinggegnern unbeabsichtigte, von den kapitalistischen Drahtziehern des Sports aber durchaus geschätzte Ökonomie aus dem Gleichgewicht geraten. Es ist bedauerlich, dass (fast) alle Beteiligten, unter ihnen die grossen Meinungsblätter Frankreichs, Deutschlands und der Schweiz, seither auf eine Restituierung des alten Systems hinarbeiten, anstatt neue Wege zu propagieren und zu beschreiten, die jenseits von Repression und der Ideologie des Fairplay liegen. Nötig wäre eine neue Ethik des Sports, welche die Dopingpraxis zu umfassen vermöchte, anstatt sie bloss zu verhüllen. Im Zusammenhang mit dem französischen Kontrollsystem im Radsport, das seit 1999 in Kraft ist, liesse sich so vielleicht eine wirksame Beziehung von Theorie und Praxis herstellen.