Samstag, 21. Juni 2014:
St-Rome de Tarn - Les Laubies (140 km, 2.000 hm; sonnig und sehr warm)
Les Laubies in der Margeride ist heute mein Ziel. 140 km, etwas weit, zumal mir die ersten Tritte schwer fallen, es heiß wird und ein paar Anstiege am Nachmittag drohen. Aber ich will da sehr gerne hin, denn ich bin dort vor zehn Jahren schon mal sehr herzlich aufgenommen worden.
Es geht auch erstmal relativ flach durchs Tarntal und ich finde bald meinen Tritt. Die Beine wissen mittlerweile von alleine, was sie tun müssen und solange ich sie nicht überfordere, tun sie das auch anstandslos. So komme ich zum, auch für Autohasser, beeindruckenden Viaduct von Millau. Der verbindende Aspekt des Brückenbauwerks überwiegt. Der höchste Pfeiler ist 343 m hoch, nicht schlecht.
In Millau kauf ich mir leckere Törtchen (framboise et myrtilles) und quere auf die andere Talseite. Durch Kirschplantagen führt die verkehrsarme Straße und unter den ersten steilen Felswänden, die erahnen lassen, was noch kommt. Ich will Kirschen kaufen, bekomme in dem Lädchen aber keine, nehme stattdessen eine Honigmelone, die ich am Flussufer verspeise. Sie ist supersüß und saftig, meine Hände dementsprechend klebrig, ich nehme ein Bad in der knapp hüfttiefen Tarn zwischen Unmengen kleiner Fische und blühenden Wasserhahnenfüßen.
Dann passiert es. Ich sitze wieder auf dem Rad, fahr langsam die Holperpiste zurück zur Straße. Hat sich da doch tatsächlich ein trockener Grashalm an meiner Vorderradnabe verfangen. Ich will ihn ganz locker mit der rechten Hand entfernen, fahr unachtsam einen kleinen Schlenker und meine Hand landet in den Speichen und ich übern Lenker im Staub. Ich lerne: Messerspeichen schneiden Luft gut, Haut auch noch, alles andere aber schlecht, zum Glück! Auf der anderen Seite hat es den Ellenbogen erwischt, etwas aufgeschürft. Schlimm: meine Schaltung ist vorne und hinten verstellt, echt nervig, keine Ahnung, wie das passieren konnte.
Der beeindruckendste Teil der Tarnschlucht kommt. Die trotz Samstag erstaunlich leere Straße führt teilweise unter überhängenden, hohen Felswänden entlang, in denen sich Kletterer tummeln. Im Fluss lassen sich frohgelaunte Kanuten treiben. Auf der anderen Talseite liegen kleine, traumhafte Siedlungen, zu denen Seilbahnen führen.
In Ste-Enimie verlasse ich das Tal, nachdem ich mir ein großes Eis einverleibt und das hier massive Touritreiben eine Weile beobachtet habe. In der größten Nachmittagshitze geht es in der prallen Sonne über 500 m bergauf. Mein schöner Tritt vom Morgen hat sich verkrümelt. Ich fühle mich eher wie der Cowboy, der sich auf seinem halbverdursteten Klepper durch die heiße Prärie schleppt und alle seine physische und mentale Energie in die Aufgabe steckt, nicht vom Gaul zu fallen. Im Gegensatz zu ihm hab ich in meinen Feldflaschen noch Wasser, das zu Trinken aber auch keinen Spaß macht. Und meine Aufgabe besteht darin, mit nicht vorhandener Kraft abwechselnd den rechten und linken Steigbügel nach unten zu drücken. Und bloß nicht die Zügel loslassen, sonst lande ich wieder im Wüstenstaub und komme nie wieder hoch.
Irgendwann komme ich tatsächlich auf der Hochfläche an und kann in einem toten Miniort meine Flaschen nachfüllen. Die Vegetation ist karg hier oben.
In Chanac im Lottal biege ich mal wieder auf eines meiner Ministräßchen ab und bin froh, vor der Reise im Internet recherchiert zu haben und mich von einem GPS-Gerät leiten zu lassen. Ich muss bald auf die Nationalstraße nach Mende. Ist aber nicht viel los. Bei Barjac biege ich ab auf die letzte Bergprüfung des Tages. Ich kann und will irgendwie nicht mehr. Bis Les Laubies sind es noch 30 km und einige 100 Höhenmeter. Hat nicht gerade Christoph Strasser das Race across Amerika gewonnen? Knapp 5.000 km in unter acht Tagen, keine sechs Stunden geschlafen? Das motiviert mich auch etwas, einfach nur weiterzufahren, egal wie, mein Ziel vor Augen. An einem Brunnen esse ich meine letzten Käse- und Brotvorräte. Es sind noch einige Wellen durch einsame Landschaft, viel Wald, ein See, auch Weiden.
Kurz vor Les Laubies kommt die Angst, was wenn ich keine Unterkunft bekomme. Das Haus sieht verlassen aus, aber ein Auto steht davor. Ich klingle an der verschlossenen Tür. Von oben ruft es 'j'arrive' und die sehr freundliche Wirtin öffnet mir, gibt mir ein Zimmer, fragt mich, was ich essen will. Hach, angekommen und ich fühle mich sehr wohl. Hier bleibe ich zwei Nächte, darin bestärkt sie mich. Langsam kommt auch ihre Erinnerung und wir sind nur uneins, wie lange das genau her ist. Sie erinnert sich dann, dass sie mir damals Waschutensilien hinterhergefahren hat, die ich in der Dusche vergessen hatte.
Sonntag, 22. Juni 2014: Les Laubies, Mende (0 km, 0 hm; sonnig und heiß)
An wen erinnert mich Nadja? Wir haben uns namentlich bekannt gemacht. Ist ne Mischung aus einer meiner netten Tanten und Tina Turner. Sie ist sehr unkompliziert und stört sich nicht im geringsten daran, dass ich nur die Hälfte von dem verstehe, was sie sagt. So lerne ich viel und es wird immer weniger anstrengend für mich, französisch zu sprechen und zu radebrechen.
Sie bietet mir an, mir ein trés jolie vallée zu zeigen. Es ist ein wirklich sehr hübsches kleines Bachtal, bunte Blumen am Ufer, Kühe auf der Weide, eine kleine Cascade, zwei ehemalige Mühlen. An einer macht sie einen kleinen Hund los, der uns überglücklich begleitet. Am Wegrand liegen riesige, runde Felsen übereinandergetürmt. Ursache ist wohl ein Tsunami in uralten Vorzeiten.
Danach fahren wir noch nach Mende, der nächsten größeren Stadt. Sie zeigt mir die alte Brücke und die Kathedrale, beide leider völlig glatt überrestauriert und die engen Gassen der Altstadt. Danach fahren wir noch hoch zum Aerodrôme. Der Anstieg heißt Montée Jalabert, denn der Liebling der Franzosen gewann hier in 1995 eine Touretappe. Wir fahren über den langen Berg, vorbei an vielen Picknickplätzen bis zum letzten Parkplatz, dort gehen wir ein gutes Stück zu Fuß runter bis zu einem Tor. Sie öffnet es und wir stehen im Innenhof eines ehemaligen kleinen Klosters. Von einer Terrasse hat man einen tollen Blick über die Stadt. Ein schmaler Pfad mit 14 Leidensstationen Christi führt herauf. Wohl kaum jemand kennt ihren Lieblingsplatz, sagt Nadja.
Wir fahren zurück, sie kocht etwas, wir essen gemeinsam und kommen auf immer spannendere und persönliche Themen: Familiengeschichte, Zweiter Weltkrieg, Neinsagen, den Wahlerfolg der Front National. Hier im Ort sieht es wohl ganz duster aus. Da kommt Patrice an, von dem sie schon erzählt hat, vor allem, wie dick er ist, wie viel er essen kann und wie schnell er außer Puste kommt. Wie ich feststelle, lacht er außerdem sehr gerne. Als er hört, dass ich mit dem Rad unterwegs bin, schüttet er sich erstmal aus. Dann erzählt er, dass er in Deutschland Englisch gelernt hat. Wieder ein Lachanfall. Unwiderstehlicher Knabe! Da ich dem Gespräch der beiden sowieso nicht immer folgen kann, überprüfe ich ihn. Und er schafft es tatsächlich, auch mal einen Satz zu Ende zu sprechen, ohne in schallendes Gelächter auszubrechen.