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Der kleine Historikus - Wer war der Erste Kettenumwerfer?

B

be.audiophil

Servus,

welche Kettenschaltung war denn die Erste? Welche war zudem die Erste, welche nach neumodischem Bedienungs-Gesichtspunkt (also sowas wie Schalthebel auf dem Unterrohr) funktioniert?

Entsprechend Wikipedia wäre die Cambio Vittoria margherita angeblich aus dem Jahr 1930 die erste Kettenschaltung ... hmmm ... allerdings im Vorgänger dieser Version, die aus den Fingerhebeln auf der Kettenstrebe verzichtete und nur den Kettenspanner zur Verfügung stellt. Umgeschaltet wurde bei der ersten Version also quasi mit dem großen Zeh ...

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Bei F&S schickte man sich im Jan 1935 an, den Kettenumschalter für Torpedo mit dreifachem Zahnkranz ... wie nachstehend zu sehen international (US) zum Patent anzumelden, nachdem man dies innerhalb Deutschlands bereits im Jan. 1934 erledigt hatte. Sie kommt sicherlich und im direkten Vergleich mit der Margherita den modernen Schaltungsstandards deutlich näher.

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Quasi zeitgleich (April 1934) erledigte Oscar Egg die Patentierung für seine Super Champion, welche zwar auf dem Unterrohr aber ebenfalls mit einem Knochenhebel schaltete ...

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Die Epoche war wirklich kreativ und brachte so einige Entwürfe hervor; so erblickte mit der Champion de France imho die erste erwähnenswerte Simplex-Kettenschaltung ebenfalls im Jahre 1935 das LIcht der Welt, welche imho noch deutlicher modernen Bedienstandards gerecht wirt. War bei der F&S oder Oscar Egg anfänglich der auf dem Oberrohr montierte Knochenhebel mit Gestänge angesagt, so kam die Seilzugversion mWn erst in der Mitte der 50er Jahre. Ich habe zumindest bislang keine älteren Versionen der Seilzugversion in die Finger bekommen.

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Aber war das wirklich der Anfang?

Im Netz finden sich ja erstaunliche Sachen ... und auch die Entwicklungen, die Tullio Campagnolo wohl Inspiration gewesen sein könnten ... wie z.B. Jean Loubeyre (patentiert 1895) mit dem Gabelhebel an der Sattelstrebe, der die Kette über einen Zahnkranz bewegt ...

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... oder die Whippet New Protean von Charles Montague Linley aus 1899 ...

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Und übrigens wird es auch bei den Wurzeln der Gran Sport aus 1953 irgendwie eng und ganz dunkel um die geistigen Künste des Tullio ...

... bereits 1941 lies sich ein Herr Francesco Ghiggini die nachfolgende Kettenschaltung patentieren und entwickete diese wohl auch weiter ...

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... so daß sich eine Schaltung ergab, welche nicht nur die Gran Sport sondern die moderne Kettenschaltung bereits Mitte bis Ende der 40er vorwegnahm ... aber seht selbst ...

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Aber zurück zum zeitlichen Ablauf ... bei den eher konventionell - wir waren ja oben über die Verwandten der Cambio Corsa gestolpert - funktionierenden Schaltungen ging es dann wohl erst gegen 1911 mit der Prével d’Arlay los oder weiter ...

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... oder der Société Audouard et Cie. aus gleichem Jahr ...

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In den 20er Jahren verwirklichte man dann bereits Umwerferlösungen für vorn und gleich dazu große Sprünge vorn ... z.B. mit der Le Chimineau aus 1921

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In 1923 folgte dann mit dem Entwurf von Claudius Bouillier der Grundstein für den ersten und evtl. noch heute bekannten Hersteller Cyclo ... dies war der Entwurf mit dem Umlaufseilzug-System ...

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Wer war denn nun wirklich die oder der Erste? Habe ich in der chronologischen Auflistung eine Schaltung vergessen?
 
In Frank Bertos "The Dancing Chain" geht es bereits um 1870 herum mit variablen Übersetzungen bei Dreirädern los, gefolgt von einer unüberschaubaren Palette verschiedenster Lösungen bis zur Jahrhundertwende, wobei schwer zu sagen ist, wer wirklich die erste funktionierende Schaltung hatte.
Peugeot hatte bereits 1888 ein Rad mit zwei Gängen im Angebot und die erste Vorrichtung, die die Kette zwischen verschiedenen Ritzeln hin- und herschob, erschien 1895 ebenfalls in Frankreich (Edit: die oben bereits abgebildetete, die wohl allgemein als erste Kettenschaltung gilt).
 
Zuletzt bearbeitet:
Ist die Cyclo schon so alt ? Schön, dann kann ich sie ja an meinen Hallischen Bock bauen.

Freut mich Jens
 
Es gibt in dem überaus empfehlenswerten Buch über Velocio von Raymond Henry (Mitverfasser der Tanzkette) auch eine kleine Geschichte der Kettenschaltungen.
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Dabei ist der Chemineau schon eine ausgereifte und komerziell angebotene Lösung, der der Konkurrent Cyclo (erfunden und produziert von einem anderen Mitglied des Stéphanoiser Radtourenvereins) in sehr kurzem zeitlichem Abstand folgte.
Vorher gab es verschiedenste Entwicklungen, vor allem, seit man von der englischen "reinen Lehre" der exakten Kettenlinie (mit ihren Nabenschaltungen) abgekommen ist, als man feststellte, dass eine Kette auch leicht schräg laufen kann und der praktische Gewinn einer zusätzlichen Übersetzung den Verlust an Wirkunxgrad bei einer schräg laufenden Kette überwiegt.
So kam es noch zu Zeiten, bevor sich der Freilauf durchsetzen konnte, zu "Bi-chaînes", also 2 Kettenblättern und 2 Ketten (wie auf dem Bild oben). Billiger und einfacher waren die "schwimmenden Ketten" (chaînes flottantes), bei der die Ketten lose schlabberte und per Fuß direkt verschoben wurde. Manche fertigten sich spezielle Schalthaken für die Schuhe, mit denen sie die Kette überwarfen. Es gab damals sogar eine Bewegung von Freunden der schwimmenden Kette, die sich "Flottantistes" nannte.
Übrigens sollte man bei der Geschichtsforschung nicht auf Rennräder beschränken, denn das Reglement war damals (wie ja heute auch noch) sehr restriktiv und hat ja bekanntlich bis 1937 (im Falle der TdF) Kettenschaltungen verboten. Es gab auch TdFen, bei denen Touristen auf einigen Etappen zugelassen waren. Das haben sich die Veranstalter aber dann nochmal überlegt...
Tourenräder waren damals weit fortschrittlicher. Man muss bedenken, dass Autos und Motorräder Luxusartikel waren und noch lange nicht an Serienproduktion zu denken war. Fahrräder gab es schon als Massenware, aber Tourenräder (also richtige, die auch für Touren und Radreisen benutzt wurden) waren weiterhin Auftraxfertigungen. Der Preis war zwar recht hoch, aber noch bei weitem nicht so hoch wie für ein Motorrad. Außerdem waren Autos in den ersten Jahren nicht schneller als ein Fahrrad mit veränderlicher Übersetzung, schon gar nicht am Berg.
 
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