Lang ist die Liste der Unvorhersehbarkeiten, die eine solche Ausfahrt zu einem Kampf und einer Qual werden lassen können und niemand ist davor gefeit!
Meine Gedanken schweifen ab: Die zweite Nacht bei den Borders of Belgium 2016, das tröstende Hinterrad eines niederländischen Randonneurs, Stunden am Anschlag, die Gewissheit: verliere ich dieses rote Licht, verliere ich diese Tour. Dankbarkeit.
Einstweilen gurken wir durch die Nacht. In einer Kleinstadt fahre ich an einem Biosupermarkt vorbei, der Eingang 15 Quadratmeter überdacht, gefliest. Traumschlafplatz für Randonneure. Michel biegt um die Ecke, ich winke ihm, wir breiten unsere Matten aus, drei Stunden Schlaf. Um fünf packen wir zusammen und rollen durch die stille, gelblich erleuchtete Stadt, raus in die dunkle Nacht.
Mein vierter Tag bricht an.
Die Chronologie einiger Ereignisse gerät mir in der Erinnerung durcheinander. Zum Beispiel die Episode mit dem Ufo-Pizzawagen: Mitten in der Nach gegen 22:30 reite ich in einen kleinen Ort ein. Am Straßenrand steht ein hell erleuchteter Pizzawagen. Davor steht Michael und kaut an einem Flammkuchen. Er bietet mir etwas davon an, weil er die große Portion allein nicht schafft. Während wir kauen, rollt ein französischer Kollege heran, will aber dann doch nichts und fährt sofort weiter. Wir schütteln den Kopf. Dann löst sich die Zusammenkunft. Unwirklich. Fühlt sich an wie ein flüchtiger Gedanke, der durch meinen Kopf gezogen ist und nicht wie ein Ereignis, das seinen Weg durch meinen Magen genommen hat.
In manchen Nächten verlässt man auf solchen Fahrten das Raum-Zeit-Kontinuum. Seltsam heiter.
Dieser vierte Tag ist heiß. Zwei Dinge haben sich mir im wesentlichen eingeprägt, das schmuddeligste Cafe der Welt am Fuß des Col de Serre Larobe bei km 811 und der 25km lange Anstieg zum Sommet de Lure bei km 892, dem letzten großen Brocken unserer Tour.
In breiten Schwüngen geht es den Col de Tourettes hinauf. Auf der anderen Seite wieder herunter.
Bitte nicht fluchen: Der Berg, der es verdient hätte, eine Kontrolle zu sein.
Unten angekommen biege ich links in eine breite abschüssige Straße ein und gebe richtig Gas. Doch das Vergnügen ist kurz. Der Track zweigt rechts auf eine kleine Straße ab und verschwindet dann hinter einer zugewilderten Brücke im Gebüsch. In einer Senke davor auf einem feuchten Stück Abdrücke von zwei Rennradreifen. Die enden hier. Meine Vorfahrer haben sich ganz offensichtlich gegen diese Variante entschieden! Track ist Track, so gebe ich mir innerlich einen Schubs und schiebe das Rad über die Brücke durch das hohe feuchte Gras. Dahinter mündet der Weg in einem steinigen Wanderpfad, der mich in praller Sonne steil bergan führt. Ich gewinne an Höhe und überlege, was uns Sofie damit vermitteln will. Nach einer geschätzten halben Stunde quert eine gut asphaltierte Straße den Pfad und führt mich kurze Zeit später auf den Col de Serre Larobe bei km 811.
O.k., es gibt natürlich Tracks, die hastig am Bildschirm zusammen geklickt worden sind. Die haben keinen tieferen Sinn. Doch dieser hier ist das genaue Gegenteil; ich bin mir sicher, dass die Strecke mit dem Rad gescoutet wurde, detailreich buntes Städtetreiben und Abgeschiedenheit kombiniert, an grandiosen Naturdenkmälern und historischen Stätten entlang führt, ein spannendes, raues Profil, das jederzeit die ganze Aufmerksamkeit des Befahrers einfordert. Und diese kleine Episode ist kein Zufall. Oben angekommen ziehe ich für mich diesen Schluss:
Das Fahrrad ist das universellste Verkehrmittel. Innerhalb weniger Tage kann man damit unglaubliche Strecken zurück legen. Bei Merselo-Verona 2018 haben wir in vier Tagen fünf Länder durchquert! Und auch da, wo nur noch laufen oder sogar klettern angesagt ist, lädt man sich sein leichtgewichtiges Verkehrsmittel auf die Schulter, läuft, klettert, erlangt wieder festen Grund und fährt, fährt, fährt immer weiter! Ein Plädoyer für die uneingeschränkte Moblität auf zwei Rädern.
O.k., ein bisschen drüber, aber ein bisschen drüber ist doch die ganze Tour.
Zufrieden mit mir und dem Sinn meines Tuns steige ich auf und fahre weiter.
In Sisteron esse ich noch mal warm. Aber die Stadt ist voll von Touristen, voll von Verkehr, laut, hektisch. Schnell verlasse ich den Ort, zurück in die Stille. Später wird mir Heiner erzählen, wie schön die Altstadt war. Sei es drum, das Rad muss rollen!
Am Fuß des Sommet de Lure raste ich im Örtchen Les Escoffiers. Hinter dem schmiedeeisernen Tor des Friedhofs entdecke ich einen Wasseranschluss und fülle meine Flaschen. Das Quellwasser ist viel, viel besser, oft von zarter Süße, mineralisch, kühl, frisch. Doch über einen Brunnen verfügt dieser Ort nicht, und so muss es diesmal das gechlorte Leitungswasser sein.
Am Ortseingang, an einer Nussplantage vorbei das erste dieser grünen Schilder, auf denen überall Länge und Steigung von Anstiegen im Abstand eines Kilometers angeschlagen sind: Sommet de Lure, 25km! Neeh, oder? In den nächsten Stunden fahre ich jedes dieser Schilder ab und memorierez dabei monoton und mantramäßig: Somet de Lure, 23km, 8%, Somet de Lure, 22km, 6%, Somet de Lure 16km, 8%. Lange geht des durch den Wald, durch die Wipfel sehe ich die Welt unter mir immer kleiner werden, dann öffnet sich die Szene, der baumlose letzte Abschnitt beginnt. Hinter mir Kettenrasseln, tatsächlich der erste aus dem mir wohl bekannten französischen Team. Er zückt sein Telefon und meldet den anderen hinter ihn, dass er den Deutschen gesehen habe! Welch freudige Überraschung. Da sind sie wieder. Im Nu ist mein etwas teigiges Hirn wieder frisch, ich lege an Tempo zu, wir fahren zusammen.
Im letzten Tageslicht kommen wir oben an, es ist bitter kalt und es stürmt aber die Szenerie ist Atem beraubend!