Schneebedecktes Kopfsteinpflaster, Anstiege mit zweistelligen Prozenten, Fahren im Sand am Ackerrand – nein, wir sind nicht bei der Flandernrundfahrt oder Paris Roubaix, sondern bei Berlin – Angermünde – Berlin. Oder besser, bei der Neuauflage des Profi-Radrennens, das einst das Paris – Roubaix des Ostens war. Die Macher*innen von Steppenwolf Berlin haben es als Gravel Ride, nicht als Rennen ausgewiesen. Und beim Parforce-Ritt durch die Felder nordöstlich von Berlin, merke ich, dass sie es damit gut mit den über 100 Teilnehmern meinten.
Bericht von Berlin – Angermünde – Berlin 2022
Wer hätte gedacht, dass ich die härteste Prüfung meines diesjährigen Winterpokals bereits Mitte November absolviere. Ich nicht. Aber während ich mich schlingernd und keuchend mit 12 km/h im grauen Halbdunkel einen verschneiten Kopfsteinpflaster-Anstieg hochwürge, der auch „Muur von Irgendwas“ heißen könnte, weiß ich, das wird meine persönliche Herausforderung des Jahres werden. Ich bin nicht in Flandern, sondern in der Uckermarck. Hier haben die Stiche keine mythischen Namen. Sie heißen „Neu Parsteiner Straße“ a.k.a „Col de Liepe“ und liegen nahe der „Kolonie Teufelsberg“ – danke für wenigstens etwas Ehrgeiz bei der angemessenen Namensgebung!
Schlimmer wird’s nimmer. Nicht für mich. Nicht in diesem Winter. Rund 50 km liegen da noch vor mir, 96 km bereits hinter mir. Ich befinde mich auf der kurzen Strecke von Berlin – Angermünde – Berlin. Es schneit. Eben haben mich zwei Teilnehmer überholt, die auf der langen Distanz von 200 km sind. Sie werden noch vor mir ankommen. Es wird wohl dunkel werden, bevor ich ins Ziel komme. Zumindest friere ich nicht. Anhalten ist aber keine Option, denn dann kriecht die Kälte sofort unter das Funktionstrikot.
Die Vorgeschichte: Ich bin vollkommen ahnungslos an den Start von BAB ‘22 gegangen. Meine Neugier weckte ein Veranstaltungstipp auf Instagram, den der Algorithmus mir wegen meiner Vorliebe für Gravel Themen angespült hatte. Organisator „Steppenwolf“ (schon ein Bonuspunkt, weil ich das Buch im Alter von 15 verschlungen habe), „Kopfsteinpflaster-Klassiker“, „Gravel Ride“, „140 km oder 210 km“, Mitte November, an einem Wochenende, an dem ich ohnehin in Berlin bin.
Ich bin „am Haken“ und melde mich im November kurzfristig an, was nur geht, weil ich die Kamera mitbringe, diesen Bericht hier schreiben werde und am Ende nicht auf der Finisherliste auftauchen werde. Eigentlich sind alle Plätze des Rides zu diesem Zeitpunkt bereits vergeben. Über 120 Starter*innen haben sich registriert. Sie hätten auch 300 auf die Strecke schicken können, wird mir später Markus sagen, der mit einer Gruppe von Verwandten und Freunden das Organisationskomitee der Veranstaltung bildet. Zusammen mit seinem Bruder hat er in den Wochen zuvor viel vorbereitet, am Eventtag seien an den Orten und drumherum 13 Leute im Einsatz gewesen.
Warum die Teilnehmer*innen-Zahl begrenzt bleibt, verstehe ich, als ich am 19. November noch im Dunkeln am Treffpunkt für den Start ankomme. Weil schon in der S-Bahn nach Bernau („S2 nach Bernau, zurückbleiben, bitte“) einige dick eingepackte Radfahrer und Radfahrer*innen mit Mountainbikes und Gravel Bikes im Radabteil saßen, folge ich einfach dem Blinken der Rücklichter und finde einen Steinwurf entfernt den Sammelort. Rund um das Eiscafé liegt ein Ring aus Mountainbikes, Gravel Bikes und auch ein paar Rennräder und sogar ein Tandem sind dabei. Ich treffe Magnus, einen Ex-Kollegen aus Kuriertagen und heute besser bekannt als „Roadbikeparty“, wir reden über Knieverletzungen, Radfahrertalk.
Man grüßt freundlich, drinnen herrscht fast familiäre Stimmung. Auf einem Tisch steht ein Glas mit Geld. Viele 10er und 20er liegen darin. Es handelt sich um freiwillige Spenden, denn ein Startgeld wird nicht erhoben. Aus der Scheinsammlung schließe ich, dass niemand unter 10 Euro gespendet hat. Angesichts der Arbeit, die in der Veranstaltung steckt, sind auch 20 Euro sicher nicht zu tief in die Tasche gegriffen.
Das Geld wird ohnehin teils gespendet. Berlin – Angermünde – Berlin ist nicht nur eine Selbstversorgerfahrt, sondern versteht sich auch als solidarische Veranstaltung. Man hilft sich gegenseitig unterwegs und anderen mit der Teilnahme. Selbstgebackener Kuchen steht bereit, die nötige Portion Espresso dürfen sich die Teilnehmer*innen selber an der Siebträgermaschine ziehen. Das führt nicht immer zu Barista-Ergebnissen. Es knüpft aber doch erste Bande für die bevorstehende Tortur. Man leidet genußvoller, wenn man weiß, mit wem man sein Leid teilt.
Ein Gruppenbild vor dem Stadttor von Bernau und die Karawane rollt in den grauen Novembermorgen. Rennfieber kommt nicht auf, alle lassen es gelassen angehen. Erst als die Bebauung, die Ampeln hinter der Gruppe liegen, tritt der eine oder die andere etwas fester in die Pedale. Schließlich, auf der ersten langen Gravel-Geraden, die nicht lange auf sich warten lässt, bilden sich die ersten kleinen Gruppen. Auf dem folgenden Straßenabschnitt verklumpen sie sich zu lockeren Windschattengemeinschaften. Wehe, wehe, das erste Kopsteinpflaster-Stück wird sie alle zerstreuen.
Aber erst einmal rollt es. Trotz Temperaturen unter null Grad stehen 30 km/h und auch mal 40 km/h auf dem Display. Dass man die Strecke auf dem GPS-Gerät vor sich hat, versteht sich. Selbstversorger-Modus bedeutet hier, jede und jeder kümmern sich selbst um den Weg von Checkpoint zu Checkpoint (drei an der Zahl auf der 145-Kilometer-Route). Verpflegung gibt es ebensowenig wie Beschilderung á la RTF. Wer „im Rudel“ fährt, kann sich benötigte Ausrüstung aufteilen, ansonsten muss alles selbst mitgeführt werden, also eine klare Absage an Teamfahrzeuge. Der Kurs kam vorher per Mail zum Download. Und das eine oder andere Schild, das die Länge des bevorstehenden Gravel- oder Kopfstein-Sektors ankündigt, konnte sich Steppenwolf Berlin auch nicht verkneifen. Paris Roubaix lässt grüßen. Aber „wissen, was kommt, heißt nicht, dass es frommt“.
An dieser Stelle ist ein Wort über die Strecke angebracht. „Berlin-Angermünde-Berlin war einer dieser sagenumwobenen frühen Radklassiker. Wir wollen ihn wiederbeleben. Als Challenge auf Asphalt, Schotter, Kopfsteinpflaster und Plattenwegen“, schreiben die Veranstalter über die Renaissance unter traditionellem Namen. „Das Rennen führte von Berlin nach Angermünde und zurück nach Berlin. Die Streckenlänge variierte zwischen 150 und über 200 Kilometer“, schreibt Wikipedia über den Original-Klassiker, der vermutlich zwischen 1910 und 1990 mehr oder weniger regelmäßig ausgetragen wurde. Ab 1957 lief das Rennen dabei zu Ehren des 1956 tödlich verunglückten Radrennfahrers Erich Schulz unter dem Namen Erich-Schulz-Gedenkrennen. Die Neuauflage orientiert sich an der Originalstrecke und baut auch ähnlich viel schlechte Wege ein, muss aber eine andere Route nehmen, weil viele der einst berüchtigten Teilstücke heute viel befahrene Straßen sind.
Man kann also sagen, die Strecke ahmt den Charakter von einst nach, nimmt aber andere Wege. Geholfen hat Steppenwolf bei der Zusammenstellung Werner Ruttkus, ein ehemaliger Radsportjournalist und guter Freund von Radsportlegende Thäve Schur. Ruttkus hat in Zossen am historischen Start von „Rund um Berlin“ ein privates Radsportmuseum.
60 km Kopfsteinpflaster sind auf der 200-Kilometer-Runde durch die Uckermark zu überwinden. Die größten Schwierigkeiten warten dabei erst nach dem Wendepunkt in Angermünde. Auf der 150-Kilometer-Strecke, auf der ich unterwegs bin, sind die Plombenzieher (ein Segment heißt tatsächlich so!) zum Glück bereits nach Kilometer 100 weitgehend abgehakt.
Was für Plombenzieher? Da wäre zum Beispiel der Sektor Groß-Ziethen. Rund 3,2 km Kopfsteinpflaster haben die Wegebauer hier zwischen die Hügel gelegt und schön große Lücken zwischen den einzelnen Steinen gelassen, so dass man bei Schneegeschwindigkeit immer schön mit dem Vorderrad hineinfällt und sich unter Einsatz der ganzen Körperkraft wieder herausarbeitet. Schlecht, wenn die Beine unter dem Einfluss der Kälte kaum mehr als 180 bis 200 Watt mobilisieren wollen – ungefähr ein Drittel bis ein Viertel dessen, was Van der Poel, Van Aert und Co. über das Pflaster von Roubaix fliegen lässt. Aber die Kopfsteine und die Schwierigkeit sind ähnlich.
Nur dass es bei Berlin – Angermünde – Berlin gefühlt kaum Erholung zwischendurch gibt. Feine Rollerstraßen sind hier die Ausnahme, bei Paris-Roubaix aber großzügig eingestreut (ich bin die 150-Kilometer-Challenge gefahren). Die Kopfsteinpflaster-Ortsdurchfahrten zählt man bald gar nicht mehr als Challenge. Wie die Profis bei Paris-Roubaix und Flandern weichen auch hier die meisten auf die Randwege und Rinnsteine aus, man sieht es an den Spuren im Schnee – wenn nicht gerade ganz klischeehaft ein paar Nazis frierend in ihren Bomberjacken zwischen Anti-Windkraft-Plakaten spazieren.
Fährt man eine Weile ohne „Rudel“, wie es Steppenwolf nennt, kann BAB auch ganz schön einsam sein. Die Dörfer werden Richtung polnische Grenze kleiner und seltener. Die Wege durch die Felder werden länger, auch weil die Geschwindigkeit sinkt.
Wie gut, dass an den Checkpoints Wärme und Gesellschaft wartet. Und leckeres Essen. Keinen einzigen davon werde ich mein Leben lang vergessen: Der Kuchen im knusperwarmen Café des Kloster Chorin mit seinen romantischen Parkanlagen bleibt mir in bester Erinnerung. An der Bäckerei am Wendepunkt auf dem Marktplatz in Angermünde freute ich mich über nette Gesellschaft; ich verkniff mir aber den Kuchen, weil die Schlange an der Theke zu lang war – Vorsprung durch Verpflegungstechnik. Stattdessen taute ich im Weiterfahren einen Energieriegel in meinem Mund auf.
Der letzte Checkpoint liegt zum Glück nicht weit vom „Col de Liepe“, dem Berg, der mich nach 96 km in tiefe Verzweiflung angesichts meiner Form stürzt. Ich nehme beherzt die Abfahrt, wobei ich die letzte Kraft aus meinen Fingern hole, um die Cantis immer wieder trocken zu bremsen. Dann eiere noch durch einen halb verlassenen Ort am Oderberger Gewässer, – es muss hier sehr schön sein, wenn Nebel nicht den Blick verhängt! – und mache frierend ein Foto vom Schiffshebewerk. Hinter einer Brücke über den Finowkanal dann der Checkpoint am Barnimer Brauhaus www.barnimer-brauhaus.de – und der Schreck: Pause nur draußen. Wärme gibt es an der Feuerschale, aber die reicht nur für die Füße. Dafür ist das Verköstigungsangebot umso verlockender: Zwiebelkuchen – das Bier schlage ich aus, aber warmen Holundertee nehme ich gerne. Etwas davon kommt noch in die Trinkflasche zum Enteisen und weiter geht es.
Die restlichen rund 40 Kilometer gestalten sich sehr einsam. Mit gebeugtem Kopf starre ich in das Schneetreiben im Halbdunkel. Der Tritt fließt so flüssig wie der Slush in der Trinkflasche. Immer wieder überholt mich die Spitzengruppe der 200-Kilometer-Strecke, die im Finale noch ein paar Haken schlägt. Es geht über Plattenwege und Gravel-Wege. Ist mir inzwischen auch egal, Hauptsache ankommen. Als ich Bernau erreiche, bin ich so froh und erschöpft wie selten nach einer Tour. Das Wort „geschafft“ trifft es auf den Punkt.
Nach und nach füllt sich das Eiscafé Alte Post wieder mit Ankommenden mit roten und lachenden Gesichtern, die eine Kältewelle vor sich herschieben. Mit einem Strich auf der Tafel melden sie sich im Ziel zurück. Nicht alle haben es ins Ziel geschafft. Es gab Aufgaben wegen vereister SPD-Bindungen, Schaltwerksverlusten und auch schlicht aufgrund vor Kapitulation vor der Kälte, die sich auch für mich als härtester Gegner bei dieser Premiere von Berlin – Angermünde – Berlin erwies. Ganze 9:22 Stunden war ich unterwegs. Schon während ich die verschenkte Portion Paella Gabel für Gabel genieße, bin ich versöhnt und frage mich, ob ich wohl bei 10° Temperatur und Herbstsonne wenigstens einen 24er Schnitt schaffen würde oder sogar 200 km.
Berlin Angermünde Berlin Infos
Teilnahme
- Strecke 140 km oder 200 km
- Charakter kein Rennen, aber Finisherliste in Zielankunft-Reihenfolge, Mix aus Gravel Ride und Kopfsteinklassiker. Auf der 140-km-Runde: 16 km Kopfsteinpflaster, 26 km Betonplatten, 28 km Gravel,
- Termin 2023er Termin noch nicht bekannt
- Anmeldung per Mail beim Veranstalter, siehe Info
- Startgeld keins, aber Spende von 30 € bis 60 € erwünscht
- Info www.steppenwolf-berlin.de/bab/
Gefahrene Strecke
Ausrüstung
Alle Räder sind erlaubt. Ein Gravel Bike mit breiteren Reifen dürfte auch bei besserem Wetter als in 2022 eine klügere Wahl sein als ein Rennrad, ein Mountainbike ist aber auch nicht verkehrt, wenn man etwas Komfort sucht. Ich bin angesichts des Wetters mit SPD-Winterschuhen sowie einer winddichten Bibtight gefahren. Hervorragend bewährt hat sich das Rapha Classic Winter Jersey, das dem feuchten Wetter besser standhielt als erwartet, darunter trug ich zwei warme Langarmteile. Obwohl die Strecke wenig Höhenmeter hat, kann eine 1:1-Übersetzung an den steilen Rampen nicht schaden.
Was sagt ihr zur Neuauflage des DDR-Klassikers als Gravel Ride?
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