Ein Reifen hat nicht die Magie und Strahlkraft einer neuen Schaltung oder eines ultraleichten Carbonrahmens. Dabei spielt er eine viel größere Rolle für die Fahrleistung. Wir haben das Reifenlabor von Specialized besucht und dort mit Reifenentwickler Wolf vom Walde gesprochen: über die aktuellen Reifentrends bei der Tour de France und das komplexe System aus Reifen und Schläuchen – oder Nicht-Schläuchen. Ein paar Tipps von ihm gibt es auch noch.
Rennrad-News: Hallo Wolf, kannst du dich kurz vorstellen?
Wolf vorm Walde: Ich arbeite mit meinem Team als Leiter der Reifenentwicklung von Specialized in Bielefeld. Ich bin seit 20 Jahren in der Fahrradreifenentwicklung tätig und seit 10 Jahren für Specialized, erst in Kalifornien, später hier in Deutschland. Die Arbeit für Specialized war insofern von Anfang an interessant, als man dort einen ganz klaren Auftrag hat. Specialized hat ja das erklärte Ziel, bei allen leistungsorientierten Radthemen an der Spitze der Entwicklung zu stehen und da spielt der Reifen als Bauteil natürlich eine entscheidende Rolle. Ich entwickele also ganz gezielt bestimmte Reifen für ganz bestimmte Fahrräder und ihre Komponenten, nicht allgemein für Radtypen.
Wie viele Reifen hast du in deiner Karriere schon entwickelt?
Kann ich gar nicht so genau sagen. Aber in jedem Rennen, jeder RTF und auch unter all den Fahrrädern, die an jedem Bahnhof abgestellt sind, findet sich ein Reifen, an dem ich gearbeitet habe. Schön zu sehen, wenn unsere Arbeit so verbreitet ist und angenommen wird.
Reifenentwicklung in einem Satz – was würdest du sagen?
Sehr vielfältig. Es geht um alle Themen am Fahrrad. Man kann sich nicht rausnehmen und sagen: „Ich bin nur Rennradfahrer. Oder: Ich fahre nur Trails, oder so.“ Man muss sich mit allem auseinandersetzen, und es ist tatsächlich ein sehr tiefschürfendes Thema.
Manche unterschätzen den Reifen als Bauteil am Rennrad noch. Einfacher Trainingsreifen versus Top-Rennradreifen, kannst du sagen, wieviel Watt Unterschied das machen kann – bei gleichem Druck und gleicher Größe?
15 Watt (wie aus der Pistole geschossen).
Ok, das ging schnell. Die andere entscheidende Größe: Griffigkeit. Wie kommt die zustande?
Beim Rennrad ist das Profil nicht so der große Einflussfaktor. Anders als beispielsweise am MTB oder Gravelbike habe ich nur die Straßenrauheit, die einwirkt, das heißt, die Vibrationen, die auf das Rennrad über die Straße wirken, sind ganz andere. Das bedeutet wiederum, die Gummimischung muss dort, um mit diesem Asphaltgebirge (mikroskopisch betrachtet, Anmerkung der Redaktion) mitzugehen, viel schneller eingestellt sein, um eben dem Reifen, wenn er da lang rollt, die Möglichkeit zu geben, sich an die Straße anzupassen, dort auch Griff zu finden, sich dann aber ablösen zu können, ohne viel Energie liegen gelassen zu haben. Die Mischung wird sozusagen auf das typische Frequenzband eingestellt, das ganz anders ist als im Gelände. Es sind dann auch andere Materialien im Spiel, die auf die Frequenzanregungen unterschiedlich reagieren.
Wir sehen bei der Tour de France gerade zwei Trends. Specialized setzt zum ersten Mal seit Jahrzehnten und in ziemlicher Alleinstellung auf Clincher. Die meisten anderen Teams fahren Schlauchreifen. Wie ist das aus deiner Sicht zu erklären?
Die Clincher sind natürlich so gut, ist ganz klar (lacht). Nee, also zum einen hat das natürlich mit dem Trend zu Scheibenbremse und Tubeless zu tun. Das ist eine Entwicklung, die wir bei Specialized ganz klar einschlagen. Clincher sind im Vergleich zum Tubular-Reifen (Schlauchreifen) schneller. Das waren sie auch schon immer, das ist jetzt nichts Neues. Aber jetzt, durch die neuen Laufräder ist der Vorteil eines Tubeless-Systems oder selbst eines Clincher plus Schlauch so deutlich, dass sich das einfach durchsetzt. Da rücken die reinen Sicherheitsgründe wie Notlaufeigenschaften und vielleicht auch etwas der Komfort weit nach hinten, weil man einfach auf dem Prüfstand messen kann, ‚hey, mit dem Rad, da brauch ich jetzt über meine 200 km Etappe soviel weniger Kraft bei gleicher Geschwindigkeit‘, das will der Fahrer dann natürlich auch haben.
Das ist jetzt kein entscheidender Grund, aber nebenbei begrüßen auch die Mechaniker der Teams die Entwicklung. Sie müssen nicht mehr zu Beginn jeder Saison erstmal auf 60 Laufräder die Schlauchreifen aufkleben und den halben Teamtruck mit alternativen Laufradsätzen belegen. Sie können auch je nach Anforderung eines Rennens flexibel den Reifen tauschen.
Bei unseren Testfahrten machen wir regelmäßig die Erfahrung, dass ein breiterer Rennradreifen – neben mehr Komfort – vor allem mehr Vertrauen in Kurven bei unseren Straßenverhältnissen gibt. Warum, glaubst du, setzen Pros nach wie vor auf vergleichsweise schmale Reifen?
Tun sie ja gar nicht. Die Profis fahren Reifen von 26 mm bis 28 mm, bei Paris-Roubaix auch 30 mm, mal gucken, wann wir die ersten Gravelräder da sehen (zumindest einen Gravelreifen haben wir schon bei Paris-Roubaix gesehen, siehe unsere Story über die Bikes der Pros, Anm. der Redaktion). Sie fahren das, was gerade noch so eben in den Rahmen reinpasst und was dann eben über die Gesamtheit der Strecke den geringsten Fahrwiderstand bringt. Je gröber die Strecke ist, desto breiter werden dann auch da die Reifen.
Der Sicherheitsgewinn mit einem guten Butylschlauch mit 0,5 mm bis 0,6 mm Wandstärke ist aus meiner Sicht doch entscheidend.
Wenn schon Clincher – welchen Schlauchtyp würdest du empfehlen? Latex, Butyl oder Kunststoff á la Revoloop und Tubolito?
Ja, das ist einfach: Butyl. Latex hat eine ganz geringe Weiterreißfestigkeit und ist sogar teilweise noch plastisch. Das konnte man früher daran sehen, dass sich der Latexschlauch in die Kuhlen des Felgenbands über den Bohrungen gelegt und verformt hat. Dann hat man lokale Dehnungen, wenn man dann noch bremst und ein bisschen Zug am Ventil ist, dann kann der Schlauch reißen und platzen, mitunter sogar den Reifen von der Felge heben. Es ist klar, man ist mit Latex ein bisschen schneller, aber es ist wenig, aber der Sicherheitsgewinn mit einem guten Butylschlauch mit 0,5 mm bis 0,6 mm Wandstärke ist aus meiner Sicht doch entscheidend.
… und die neuen TPU-Schläuche?
Sie bringen Performance-mäßig keinen Vorteil. Sie sind natürlich schön leicht. In der Dauerhaltbarkeit haben wir sehr gemischte Erfahrungen, auch was die Festigkeit des Ventils im Sitz angeht. Wir sehen aktuell den Vorteil nicht so groß, als dass man dahin gehen muss.
Inwiefern spielt die Reifenkarkasse eine Rolle? Es wird ja immer gern die Fadenzahl im Gewebe als Maß für die Güte herangezogen und es gibt inzwischen auch neue Karkassenbauarten?
Zunächst: Bei der Angabe der Fadenzahl muss man immer aufpassen. Manche Hersteller geben die Anzahl der Fäden auf den Inch pro Lage an. Andere nehmen alle drei Lagen. Und die Fadenzahl allein ist längst nicht alles. Das Material, die Anordnung im Gewebe und der Aufbau der Karkasse spielen ebenfalls eine große Rolle.
Bestes Beispiel ist die neue Karkasse des Turbo Rapidair in Hochschlagbauweise anstatt der sonst üblichen Zenith-Umbugbauweise. Die haben wir bereits vor Jahren zum ersten Mal im Black Diamond Reifen eingeführt, einem Enduro-Reifen. Während sonst 3 Gewebelagen oben unter der Lauffläche liegen, ist es hier nur eine plus einer Gürtellage. Das macht sie flexibler und verringert damit den Rollwiderstand. Wo weniger Material verformt werden muss, geht weniger Kraft verloren. Für den Pannenschutz kommt am Rennradreifen dann noch eine dünne hochdichte Lage hinzu, die darunter sitzt. In der Summe ist der Rollwiderstand dennoch günstiger. Am Rennradreifen haben wir diese Bauart deshalb letztes Jahr am S-Works Turbo RapidAir eingeführt.
Aktuell konnte man zum Beispiel sehen, dass manche Teamfahrer je nach Etappe unseren S-Works Turbo Rapid Air, der ja Tubeless Ready ist, mit Schlauch alternativ zum Turbo Cotton einsetzen.
Aktuell konnte man zum Beispiel sehen, dass manche Teamfahrer je nach Etappe unseren S-Works Turbo Rapid Air, der ja Tubeless Ready ist, mit Schlauch alternativ zum Turbo Cotton einsetzen. Aufgrund der Karkassenkonstruktion liegt er im Rollwiderstand auch mit Schlauch gleichauf mit dem Turbo Cotton, hat aber eben eine spezifische Pannenschutzlage. Die Fahrer sagen auch, dass sie die Geschmeidigkeit, das Fahrgefühl des Reifens mögen.
Tubeless am Rennrad. Deine Meinung – für wen ist es das Richtige?
Es ist für niemanden verkehrt, würde ich sagen. Wenn ich Performance-mäßig unterwegs bin, dann sollte ich mir die neuen Kombinationen aus Tubeless-fähigen Laufrädern und Tubeless-Reifen unbedingt angucken. Denn es fällt natürlich ein Dämpfer weg, ein Schlauch ist immer auch ein Dämpfer. Fällt er weg, werden Reifen und Untergrund sehr gut spürbar, das Fahrgefühl ist direkter und geschmeidig. Der Rollwiderstand ist außerdem gering. Und dann habe ich, ich will nicht sagen, ein ’selbstheilendes System“, aber wenn ich das richtige Dichtmittel benutze, habe ich natürlich einen sehr guten Schutz vor Durchstichen.
Der Schlauch ist deswegen natürlich trotzdem nicht direkt obsolet. Als System ist das ja nach wie vor fantastisch, weil es einfach von der Handhabung so wahnsinnig einfach ist und jeder damit umgehen kann. Einen Schlauch kann ich flicken. Wenn ich es besonders bequem haben will, nehme ich nach wie vor den Schlauch. Scheue ich mich nicht, mich mal mit der Milch auseinanderzusetzen und das sauber aufbauen zu können, dann spricht nichts gegen Tubeless.
Welche Rolle spielt die Felge für die Performance eines Reifens? Wird das bei der Entwicklung des Reifens berücksichtigt?
Ja, das wird wechselseitig berücksichtigt. Wichtig – auch beim Rennrad – ist natürlich die Breite der Felge. Beispiel: Wenn ich von einer schmalen auf eine breite Felge gehe, aktuell geht die Maulweite ja zu 19 mm bis 21 mm und mehr, dann wird die Seitenwand unten weiter aufgestellt. Ist der Laufstreifen oben zu schmal, lege ich oben die Seitenwand frei, die leichter beschädigt wird, zum Beispiel wenn etwas daran herunter schert. Auch in der Kurve spielt das eine Rolle. Wenn da der Laufstreifen zu schmal ist, fahre ich sozusagen auf der Seitenwandmischung durch die Kurve, ich verliere Grip. Abgesehen davon wirkt sich eine breitere Felge natürlich genauso aus wie ein breiterer Reifen. Ich kann also mit dem Luftdruck etwas runter gehen. Specialized-Reifen waren schon immer tendenziell mit breiteren Laufstreifen ausgerüstet.
In den USA wird die Wattjagd nicht ganz so zelebriert wie in Deutschland.
Dazu vielleicht ein bisschen Hintergrundwissen: Specialized ist ja eine amerikanische Marke. In den USA wird die Wattjagd nicht ganz so zelebriert wie in Deutschland. Breitere Reifen waren viel früher akzeptiert und die Rennradfahrer fahren tendenziell auch mit weniger Druck, um zum Beispiel auch mal einen festen Kiesweg gut fahren zu können. Dafür waren unsere Reifen von Anfang an ausgelegt.
Wir haben sozusagen auch den ersten Gravelreifen im Programm gehabt. Das war der Trigger, eigentlich ein Trekkingradreifen. Aber nachdem ein großer Radhändler aus den USA auf uns zugekommen war und einen faltbaren Performance-Trekkingreifen wollte, haben wir ihm den gebaut. Der Pathfinder Pro Gravelreifen kam später zum Start des Diverge.
Ist die Entwicklung nicht ausgereizt? Beziehungsweise: in welchem Punkt sind in Zukunft noch die größten Fortschritte zu erzielen?
Die Entwicklung ist insgesamt natürlich schon weit fortgeschritten. Trotzdem ist es so, dass immer noch neue Fahrstile und Trends – Beispiel: Gravelbike – so Einwürfe machen, wo Weiterentwicklung gefragt ist. Auch E-Mobilität mit ihren ganz anderen Anforderungen ist sicher ein spannendes Feld. Wenn man einen Reifen von ein paar Jahren zuvor und einen von heute aus dem Regal zieht, dann wird einem das sofort auffallen, was sich da getan hat. Es sind jetzt keine Riesensprünge. Aber es geht jedes Jahr ein bisschen weiter, auch man selber macht ja neue Entdeckungen. Schon allein, wie ich die Reifenkarkasse schneide, in welchem Winkel die Fäden nachher verlaufen, da macht man selbst nach Jahren noch die eine oder andere interessante Entdeckung. Und bis sich das dann in allen Reifen so durchgesetzt hat, dauert das dann immer eine Weile.
Ihr entwickelt in Deutschland und Kalifornien – und die Produktion?
Die Produktion befindet sich wie bei den allermeisten Fahrradreifen in Asien. Als ich angefangen habe in der Entwicklung, hatte ich nur einen Schreibtisch und musste mit den Lieferanten bei jeder Neuerung verhandeln, wie wir sie in die Produktion integrieren können. Heute sieht es ganz anders aus: Wir haben für Rennradreifen eine eigene Fertigungsstraße im Werk, wir entwickeln unsere eigenen Gummimischungen in den Niederlanden, die dann nach unseren Vorgaben im Werk verarbeitet werden. Für MTB-Reifen haben wir sogar eigens eine ganze Fabrik mit einem japanischen Partner aus dem Automotive-Bereich aufgezogen. Dort werden ausschließlich Specialized-Reifen gefertigt.
Stichwort: Gummimischungen. Wie lange kann ich meinen Reifen lagern und wie mache ich das am besten? Welche Eigenschaft geht als erstes über Bord, wenn er zu lange liegt?
Ja, (lacht), man soll natürlich soviel fahren, dass man sie in einem Jahr abfährt (lacht). Natürlich nicht ewig liegen lassen. Ich würde den Reifen innerhalb von 2 Jahren anfahren. Man hat immer eine gewisse Diffusion der Materialien im Reifen. Die ersten 2 Jahre ist das noch unproblematisch. Aber wenn er dann länger liegt, vor allem in der Sonne gar oder an einer Heizung, dann wird er natürlich doch porös und verliert seine Eigenschaften dann allmählich. Die Elastizität geht dann flöten, was sich sowohl auf den Grip als auch den Rollwiderstand auswirkt.
Wieviel Aufmerksamkeit widmet ihr den Reifen an eurem Rennrad?
Hier lest ihr mehr zum Thema Rennradreifen auf Rennrad-News:
- Pirelli P Zero Race TLR RS – Vorgestellt!: Schneller Rennrad-Reifen für Racer
- Neuer Continental Aero 111 Reifen im Test: Macht schneller als ein Aero-Laufrad allein
- Neues Dynaplug Micro Racer Tubeless Tool: Kleinstes Tubeless Plug Werkzeug
- Neue Cyclocross-Reifen von Vittoria x A Dugast: 5 Schlauchreifen aus neuer Fabrik
- Goodyear Eagle F1 R Rennrad-Reifen – Ausprobiert!: Griffig und geschmeidig