Das Pflaster von Paris-Roubaix ist ein Quell großer Schmerzen und Freude. Wo John Degenkolb 2018 nach der Tour-Etappe vor Freude und Erleichterung weinte, konnte diesmal Philippe Gilbert jubeln – aber auch Nils Politt, der im Velodrom nur knapp hinter dem belgischen Klassikerspezialisten über den Zielstrich fuhr. Tränen flossen bei Sep Vanmarcke, der die Spitzengruppe wegen Defekt nicht halten konnte. Auch Vorjahres-Sieger Sagan verließen am Ende die Kräfte. Wie bei der Flandernrundfahrt haben wir das Rennen auch im belgischen Radio verfolgt und blicken zurück mit Bildern der Teams.
Wie sich das Rennen entschied
Die Voraussetzungen konnten kaum unterschiedlicher sein: Nils Politt, jung, Rouleur und Zeitfahrspezialist schafft bei seiner 2. Teilnahme den 2. Platz bei Paris-Roubaix 2019, hatte selbst früh Attacken gesetzt und konnte alle anderen Attacken mitgehen. Auch als er zwischenzeitlich auf dem Kopfsteinpflaster beinahe abgehängt war, fand er wieder Anschluss. Er konnte als einziger einer vorher sechsköpfigen hochkarätigen Spitzengruppe mit Sagan, Wout van Aert, Vanmarcke und Lampaerts das Hinterrad von Gilbert halten. Geschlagen geben muss er sich nur dem explosiven Klassikerjäger Philippe Gilbert, der damit alles gewonnen hat, was es an Monumenten in Belgien und den Niederlanden zu gewinnen gibt (Liège-Bastogne-Liège, die Flandernrundfahrt, das Amstel-Gold-Race gleich 4 Mal), der schon Weltmeister war und mit seinen 36 Jahren als taktisch exzellent gilt.
Auf die Frage, ob Gilbert über Funk Anweisungen für die Taktik bekommen habe, sagte sein sportlicher Leiter Tom Steels zu Sporza, nein, das sei bei ihm überflüssig, ab der ersten Attacke habe er eigentlich keine Anweisungen mehr zu Gilbert gefunkt. Der siegesgewohnte Gilbert wirkte nach dem Rennen erfreut über den letzten Sieg, nach dem er sich dringend sehnte, so dringend, dass er vor Jahren extra zum Quick-Step Team wechselte, um daran zu arbeiten. Das sagte Gilbert ebenfalls gegenüber Sporza.
Das Deceuninck-Quick-Step Team rundet damit die zweite außerordentlich erfolgreiche Klassikersaison ab und feierte den 700. Sieg überhaupt. Die Mannschaft von Patrick Lefevere hatte die meisten Favoriten in den Reihen und spielte alle Karten, kam schließlich sogar mit vier Fahrern in die Top10.
Das Rennen startete ab Compiègne schnell und windig, direkt nach Ende der Neutralisation gab es die ersten Ausreißversuche, die jedoch alle vor dem berüchtigten Kopfsteinpflaster im Wald von Arenberg gestellt wurden. Nicht ohne Verluste: Bora-Hansgrohe musste lange Nachführarbeit leisten, nachdem sich das Feld in zwei Hälften geteilt hatte. Quick-Step hatte bis dahin schon Iljo Keisse als wichtigen Helfer aufgrund eines Sturzes verloren. Keisse brach sich dabei den Ellbogen. Wie oft bei Paris-Roubaix war er nicht der einzige Fahrer, der stürzte. Auch Joseph Areruya, der erste Fahrer aus Ruanda in der Hölle des Nordens, erreichte das Ziel nicht wegen eines Unfalls. Auch Sagans Edelhelfer Daniel Oss zählte zu den Sturz-Opfern. Tiesj Benoot stieß mit einem Teamfahrzeug zusammen und trug schwere Verletzungen davon, unter anderem Brüche von Schulter und Hüfte. André Greipel musste das Feld schon früh ziehen lassen wegen eines Reifenschadens.
Reifenpannen setzten einigen Favoriten hart zu. Als es auf die 2,3 km lange Pavé-Gerade durch den Wald von Arenberg ging, traf es zum Beispiel Wout van Aert von Jumbo-Visma. Er musste vorne liegend rechts ran rollen. Und beim Wechsel des Rennrades handelte er sich einen erneuten Defekt ein. Bei der anschließenden Aufholjagd kam van Aert noch zu Fall und büßte weitere Sekunden ein.
Im Wald von Arenberg setzte sich eine rund 50 Fahrer zählende Spitzengruppe ab. Es war Nils Politt, der 67 km vor dem Ziel am Ende der Verpflegungszone die Attacke startete, die sich später als entscheidend heraus stellte. Gilbert erkannte die Chance als erster und setzte sofort nach. Wie er später im Radio sagte, wusste er, dass Politt als Rouleur die ideale Partner für eine Flucht war.
Bora-Hansgrohe schickte Rüdiger Selig hinterher, der aber nicht mit führte und später auch „stehengelassen“ wurde. Im Sektor Beuvry-Orchies verschärften Politt und Gilbert das Tempo derart, dass Trek-Segafredo sich mit vier Fahrern an der Nachführarbeit beteiligte, ein hellwacher Sagan immer zwischen den Trek-Fahrern. Rund 10 km später übernahm der 3-fach Ex-Weltmeister Sagan dann die Initiative und führte selber eine kleine Gruppe Fahrer wieder an die Spitze heran. Mit dabei unter anderem: Wout van Aert direkt am Hinterrad, Sep Vanmarcke (EF Drapac) und Yves Lampaert (Deceuninck-Quick-Step). Etwas merkwürdig zu sehen war, dass vorne Gilbert das Tempo nochmal anzog, obwohl klar war, dass hinten Mannschaftskollege Lampaert als Verstärkung anrückte – vielleicht ging an dieser Stelle doch der Siegeswillen weiter als der Mannschaftsgeist.
Die endgültige Entscheidung brachte dann eine Konter-Attacke von Nils Politt als Antwort auf einen Vorstoß von Gilbert im Sektor von Gruson. Als Gilbert erneut nachsetzte, war das der Moment, in dem bei Sagan nichts mehr ging – und in seinem Windschatten Vanmarcke mit Lampaert sofort eine Lücke hatten, die sie nicht mehr schließen konnten. Im Velodrom konnte Nils Politt dann nicht das Kunststück von Mathew Hayman wiederholen, der als „langer Dünner“ den stärkeren Sprinter Klassiker-Dominator Tom Boonen besiegte.
Was die Fahrer sagen
Philippe Gilbert, 1. Platz: „Ich wusste, dass der Wechsel zu Deceuninck-Quick-Step ein wichtiger Schritt in meiner Karriere sein würde. Ich bin die Art von Fahrer, die neue Herausforderungen mag, das motiviert mich, und hier habe ich viele davon gefunden: vom Sieg in Ronde oder Roubaix bis zum Sieg in Isbergues, einem Rennen, das in meinen Palmarés fehlte.“
Nils Politt, 2. Platz: „So knapp, aber sogar den Zweiten Platz in Roubaix in meinem Alter kann ich immer noch nicht fassen. Ich fühlte mich vom ersten Moment an gut, als ich heute Morgen aufwachte. Während des gesamten Rennens hat das Team einen großartigen, großartigen Job gemacht, und ich denke, wir hatten eine so gute Klassiker-Saison (Politt wurde 5. bei der Ronde). Es ist unglaublich für mich, in Roubaix Zweiter zu werden.“
Wer sich in unser Herz fuhr
Nils Politt. Er war an einer frühen Fluchtgruppe beteiligt. Er löste die erste entscheidende Attacke aus und der Hürther startete im Grunde auch die zweite Schlüsselattacke, als er sich im Sektor von Gruson von Sagan und Co. leicht absetzte und wieder nur Gilbert folgen konnte, wobei es dann blieb. Politt zeigte Moral, als er sich auf der Windkante wieder an den enteilenden Philippe Gilbert heran kämpfte, war aber dennoch klug genug, bis zum Ende mit durch die Führung zu gehen, um nicht wieder von Lampaert aufgefahren zu werden und vielleicht auch einen zweiten Platz an die beiden Blauen zu verlieren. Politt fuhr nicht nur ein starkes Rennen, sondern auch ein kluges.
Wout van Aert. Nach 2 Defekten und einem Sturz wieder in die Spitze bei Paris-Roubaix zu fahren ist schon eine Klasse für sich. Es scheint als ginge das Duell zwischen Mathieu van der Poel und Wout van Aert auch abseits der CX-Kurse weiter. Denn Ähnliches hatte van der Poel letzte Woche bei der Ronde vollbracht. Van Aert war sich selbst nicht zu schade Sagan, der in der Verfolgung die meiste Arbeit leistete, mit in die Spitzengruppe zu führen. Am Ende hatte er nicht mehr die Beine, die Spitzengruppe zu halten und verlor sogar den 6. Platz, den er als Nachzügler aus der Gruppe hätte erreichen können. Aber die Courage, mit der van Aert unterwegs war, beeindruckt ungemein. Er fährt den „Tank“ immer bis zum letzten Tropfen leer.
Ergebnisse Paris Roubaix 2019
ParisRouaix2019_ClassementWas waren eure Highlights bei Paris-Roubaix 2019?