Wer sind die Favoriten für Paris-Roubaix 2019? Wen sollte man auf dem Kopfsteinpflaster im Blick behalten? John Degenkolb und Peter Sagan? Max Walscheid? Quick-Step oder Sky? Das haben wir uns gefragt – und außerdem den einen oder anderen Flamen sowie andere ausgewiesene und selbsternannte Radsportexperten. Hier lest ihr, was dabei heraus kam.
Das Feld für die „Königin der Klassiker“ ist bestellt. Das berüchtigte Kopfsteinpflaster im Wald von Arenberg haben die Freunde von Paris-Roubaix einigermaßen wieder hergerichtet, zumindest auf den ersten rund 200 Metern. Deshalb werden die schmalen Reifen diesmal nicht über 5 cm tiefe Steinkrater rumpeln, sondern sie treffen nur auf 2 bis 3 cm herausragende Spitzen. Die Teams haben ihre „Recons“, wie sie die Streckenbesichtigungen nennen, erledigt. Peter Sagan hat gerade erst das Goldschild mit seinem Namen in den legendären Duschen im Stadion von Roubaix neben den anderen großen Namen angebracht. Jetzt tritt er schon wieder zur Titelverteidigung an, mit einem neuen Rad (das wir bereits getestet haben).
=> Hier findet ihr einen Test des neuen Specialized Roubaix
Aber kann Sagen seinen Erfolg von 2019, an dem auch der Schweizer Dillier keinen geringen Anteil hatte, wiederholen? Wer kommt noch für ein Schild in den Duschen in Frage nach dem umbarmherzigen Ausscheidungsfahren über die Kopfsteinpflaster-Sektoren, die Paris-Roubaix den Ruf des härtesten Eintagesrennens der Welt eingetragen haben.
Die Strecke…
Die Eckdaten nochmal zur Einstimmung: Der rund 257 km lange Kurs hat kaum Hügel. Aber er führt über 29 gepflasterte Sektoren. Die schmalen Kopfsteinpflaster-Wege laufen meist gerade durch die windausgesetzten Felder, es riecht nach Dung, und Staub oder Matsch spritzt den Fahrern von der Wegdecke ins Gesicht, bevor eine Kurve auf ein Asphaltband die vorübergehende Erlösung bringt. Endgültig endet das Leiden in der Hölle des Nordens, wie die Landschaft heißt (nicht das Rennen), erst mit der Einfahrt in das Velodrom von Roubaix.
Öfters kommt es dort zu einem Sprint einer sehr reduzierten Spitzengruppe, aber auch Solo-Siege waren nicht selten. Insgesamt 59 km sind auf Kopftsteinpflaster zu fahren. Die Pflasterstreifen gleichen in der Form eher einem Landwirtschaftsweg. In der Mitte ragen die Steine nach oben, zu den Seiten hin fallen sie ab. So können die Reifen, wenn es nass wird, leicht daran hinabgleiten. Darin gleicht Paris Roubaix 2019 den andern 117 Austragungen seit 1896.
…und ihre Bezwinger
Verschieden sind die Akteure und das Material, auf dem sie fahren. Die Mannschaft, die sich in den letzten Jahrzehnten besonders oft den ersten Platz holte, ist Quick-Step. Das „Wolfpack“, wie es sich nennt, hat zwar nur einen Kapitän, aber gleich mehrere Fahrer, die gewinnen könnten, also eigentlich Mitfavoriten sind.
1. Zdeněk Štybar: Der tschechische Ex-Cross-Weltmeister geht offiziell als Kapitän bei Paris-Roubaix ins Rennen. Er hat in diesem Jahr schon einen Klassiker-Sieg bei E3 Binck-Banck Classics (früher: E3-Harelbeke) auf dem Konto. Bei der Flandernrundfahrt konnte er im schweren Finale nicht mehr den Anschluss halten. Er war in der Vorwoche der Ronde erkrankt. Das lässt seine Form auch jetzt etwas ungewiss erscheinen. Der Liebling bei einer nicht repräsentativen Umfrage, die wir im belgischen Kortrijk unweit von Roubaix durchgeführt haben! RN-PRB Favoriten-Sterne: 5 von 5.
2. Kasper Asgreen: Wenn Mannschaftskollege Lampaert über den Dänen spricht, überschlägt sich seine Stimme fast vor Begeisterung ob des Talents des jungen Fahrers. Asgreen wurde trotz langer Flucht in Flandern Zweiter im Sprint aus einer stark besetzten Spitzengruppe. Er sagte selbst, er habe bei Paris-Roubaix eine andere Rolle und sei bereit, seine Teamkollegen zu unterstützen. Aber wenn er die Form halten konnte, ist er ein Tipp: RN-PRB Favoriten-Sterne: 4 von 5.
3. Yves Lampaert: Der belgische Meister konnte in der Ronde noch sehen, wie sein Teamkollege aufs Treppchen fuhr und war auch selbst stark. RN-PRB Favoriten-Sterne: 3,5 von 5.
4. …und was ist mit Philippe Gilbert? Er steht am Start. Aber er gab bei der Flandernrundfahrt vorzeitig auf wegen Krankheit und seine Form ist fraglich. Aber man kann ihn aus einer Favoritenliste nicht ganz streichen. RN-PRB Favoriten-Sterne: 3 von 5.
5. Peter Sagan (Bora-Hansgrohe): Ein kleines Fragezeichen steht über der Form von Sagan. Er war im Frühjahr vor Mailand San-Remo länger krank, jetzt scheint er eindeutig auf dem aufsteigenden Ast zu sein, konnte sich aber bei der Ronde im Schlusssprint nicht gegen Greg van Avermaet und Co. durchsetzen. Der Sieger des Vorjahres ist in diesem Jahr schwer einzuschätzen, bei unserer kleinen Umfrage in Belgien glaubten viele, dass er noch nicht alle Karten auf den Tisch gelegt hat. Trotzdem fiel sein Name selten. Sein Team ist ebenfalls sehr stark, mit Daniel Oss – immer gut erkennbar am fliegenden Pferdeschwanz unter dem Helm – hat er einen Edelhelfer, der selbst gewinnen könnte. Deshalb: RN-PRB Favoriten-Sterne: 4,5 von 5.
6. John Degenkolb (Trek-Segafredo): Mit dem Wahl-Frankfurter ist zu rechnen. Bei Mailand San Remo hatte er das Pech eines Kettenabwurfs. In Flandern hielt er im Finale lange mit, startete eigene Attacken, konnte aber nicht mit der Spitzengruppe ankommen. Dennoch hat für den Sieger von 2015 ein Gewinn in Roubaix einen so großen Stellenwert, dass er immer sehr weit vorne landen kann – die Form scheint ok zu sein, ein 2. Platz bei Gent Wevelgem, steht schon auf seinem Konto. Und mit Jasper Stuyven gibt es eine sehr starke Unterstützung. Das bisher wenig erfolgreiche Trek-Segafredo Team könnte einen Sieg gut gebrauchen, weil es in diesem Frühjahr noch nicht viel gewonnen hat. Ob das der Sache gut tut?
John Degenkolb selbst sagte: „Der Sieg im letzten Jahr war für mich ein echter Wendepunkt. Seitdem (klopft auf Holz) war ich nicht mehr wirklich krank und hatte keine Verletzungen mehr. Bis dahin hatte ich immer irgendwas, und wenn ich das dann durchgestanden hatte, wusste ich gleich, dass das nächste Problem schon um die Ecke warten würde. Ich habe mich immer zurückgehalten. Jetzt aber habe ich wirklich das Gefühl, dass ich konditionell und formbedingt auf einer sehr stabilen Basis bin und das gibt mir viel mehr Selbstvertrauen.“ Unser Tipp! RN-PRB Favoriten-Sterne: 5 von 5.
7. Wout van Aert (Jumbo-Visma): Der Vize Cyclocross-Weltmeister konnte sich in diesem Jahr erstmals auf Startplätze bei den Klassikern verlassen und sich entsprechend vorbereiten. Gegen ihn spricht, dass er schon eine lange CX-Saison mit Kampf um den Weltcup hinter sich hat und bei bisher allen Monumenten ganz vorne dabei war. Dritter bei den Strade Bianche, bei Mailand San Remo in der Gruppe, die um den Sieg sprintete, bei der Ronde mit eigenen Attacken – wie lange kann man so eine Form halten? Für ihn spricht seine offensichtliche Leidensfähigkeit und seine Tempohärte am Ende von Rennen. Er geht als Kapitän ins Rennen. RN-PRB Favoriten-Sterne: 4 von 5.
8. Oliver Naesen (AG2R-La Mondiale): Oliver Naesen ist in diesem Frühjahr kein Geheim mehr, sondern ein vollwertiger Favorit. Sein Name fiel in unserer Umfrage öfter. Nach dem zweiten Platz hinter Julian Alaphilippe in Mailand-San Remo hat Naesen eine gute Leistung bei den Kopfsteinklassikern gezeigt, wurde Dritter in Gent-Wevelgem und schaffte es trotz gerade überstandener Bronchitis am Sonntag auf den siebten Platz bei der Flandern-Rundfahrt – vor Sagan. Es fehlen ihm nur die hochklassigen Helfer. RN-PRB Favoriten-Sterne: 4,5 von 5.
9. Nils Politt (Katusha-Alpecin): Der große Katusha-Alpecin Fahrer legte ein überzeugendes Frühjahr hin. Er fuhr auf den 2. Platz beim Zeitfahren vom hochkarätig besetzten Paris-Nizza, und er wurde sogar 5. bei der Flandernrundfahrt. Er hat inzwischen genug Erfahrung auf dem Kopfsteinpflaster von Roubaix gesammelt und mit Jens Debusschere gute Verstärkung. RN-PRB Favoriten-Sterne: 4 von 5.
10. Sepp Vanmarcke (EF-Drapac): Das Team konnte mit Alberto Bettiol einen Überraschungserfolg bei der Flandernrundfahrt landen. Vorher schon hatte der leicht geschwächte Sepp Vanmarcke mit starker Teamarbeit dafür einen Grundstein gelegt und auch sein Mannschaftskollege Sebastian Langeveld konnte sich in der Spitzen Gruppe hinter Bettiol gut behaupten. Gleich drei Fahrer bei der Ronde vorne dabei – das ist nicht zu unterschätzen! In Belgien wird Vanmarcke oft als Mitfavorit genannt. RN-PRB Favoriten-Sterne: 4 von 5.
11. Team Sky: Wie bei der Tour de France geht Team Sky mit einer Doppelspitze ins Rennen, die Taktik ging schon einmal auf. Bei Paris-Roubaix 2019 treten Luke Rowe und Ian Stannard zusammen an, um zu gewinnen. Ob die Taktik auch aufgeht, wenn es um Entscheidungen in Sekunden geht und nicht nur die berechenbaren Wattwerte am Berg zählen, ist fraglich. Aber wie bei Deceuninck-Quick-Step ist auch bei Sky die Mannschaft sehr stark besetzt. Gianni Moscon und Christian Knees aus Deutschland dürften wertvolle Hilfen sein. Unser Tipp ist Luke Rowe, der bei Paris-Nizza die Lokomotive der Windstaffeln war. RN-PRB Favoriten-Sterne: 4 von 5.
12. Fernando Gaviria (UAE Emirates): Gaviria hat sich zwar in diesem Frühjahr noch nie ganz vorne gezeigt, war aber oft sehr nah dran. Zwar ist sein Teamkollege Alexander Kristoff auf dem Papier der bessere Klassikerjäger, hat bereits Gent-Wevelgem gewonnen und bei der Ronde den Sprint der Verfolger. Aber dass Gaviria mitfährt, deutet schon auf eine mögliche taktische Variante hin. Der Kolumbianer kann sich gut in schwierigen Situationen behaupten und ist im Sprint kaum zu schlagen. Ein Geheimtipp: RN-PRB Favoriten-Sterne: 3,5 von 5.
13. Bahrain-Merida: In den Reihen des Teams gibt es einige Fahrer, die sich Chancen ausrechnen können. Für die Rot-Blauen spricht, dass mit Heinrich Haussler und Marcel Sieberg sehr erfahrene und harte Klassikerfahrer am Start stehen werden. Der Deutsche Phil Bauhaus könnte bei einem Sprint gute Chancen haben. Matej Mohoric wäre ein Kandidat für eine Fluchtgruppe auf den Pavés. RN-PRB Favoriten-Sterne für das Team: 4 von 5.
14. André Greipel (Arkea-Samsic): Der Sprinter aus Hürth bei Köln war bei Paris-Roubaix oft schon in aussichtsreicher Position, konnte aber nie als Erster im Stadion über die Linie fahren. Sein bestes Resultat erzielte der 37jährige in jüngster Zeit. Er wurde 7. in 2017. Bei Arkea-Samsic hat er in dieser Saison eine neue Heimat gefunden. Aus den Augen zu lassen ist er in jedem Fall nicht. RN-PRB Favoriten-Sterne: 3,5 von 5.
15. Max Walscheid (Team Sunweb): Sunweb geht nicht mit ganz großen Namen an den Start bei Paris-Roubaix, aber ist nicht zu unterschätzen. Das deutsche Team richtet sich eigentlich eher an Rundfahrtspezialist Tom Dumoulin aus. Aber man gibt den Talenten aus Deutschland eine große Chance. Max Walscheid holte sich gerade erst am Mittwoch Platz 2 beim stark besetzten Scheldeprijs. Er hat gute Fahrer an seiner Seite, die, wie Bettiol, zu einer aufstrebenden Generation gehören. Im Auge zu behalten ist zum Beispiel Joris Nieuwenhuis, der in der CX-Saison oft unter die ersten 10 bei den großen Rennen fuhr – und CX Fahrer haben bei Paris-Roubaix schon häufig sehr gute Ergebnisse gehabt. Auch Nikias Arndt ist durchaus etwas zuzutrauen. RN-PRB Favoriten-Sterne: 3,5 von 5.
Fehlen noch Mitfavoriten aus eurer Sicht? Was glaubt ihr, wer am Sonntag den Pflasterstein in den Händen hält?