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Rücktrittbremsen in den Vogesen und andere Geschichten

Wernersberger

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Um den Thread https://www.rennrad-news.de/forum/threads/100-km-marke-knacken.151462/ nicht zuzumüllen ein neus Thema. Vielleicht hat noch jemand Lust, von kuriosen Ereignissen bei Radtouren zu berichten.

"Rücktrittbremsen in den Vogesen" wäre ein sehr schöner Buchtitel:D

Für einen Roman reicht es nicht ganz, aber eine (rückblickend) lustige Geschichte war’s schon.

Ausgangslage: 4 Jungs, 15 bzw. 16 Jahre alt, wollten ihre erste große Radtour machen. Nach Frankreich in die Vogesen sollte es gehen. Liegt quasi vor der Haustür, aber Ausland hört sich immer weit an, zumal man damals ja noch einen Perso vorzeigen musste. Die Ausrüstung entsprach dem Zeitgeist und dem verfügbaren Taschengeld. Billige Stahlrösser (185 DM löhnte ich für meins), Torpedo-3-Gang, billige Gepäcktasche aus dem Kaufhof, ebenso das 4-Kilo-Zelt und der schwere und sperrige, dafür wenig wärmende Schlafsack. Gaskocher, Isomatte und mein Stolz, die Spiegelreflex Exakta TL 1000 mussten auch noch irgendwo verzurrt werden. Der Knaller war aber Peter, selbsternannter „König der Berge“: Sein Lederfußball im an der Sattelstütze festgebundenen Netz wippte im Wiegetritt immer von der einen auf die andere Seite und über sein auf der Gepäcktasche festgeschnalltes Cassetten-Radio verbreitete Udo Lindenberg während der Fahrt Panik mit „Alles klar auf der Andrea Doria“. Der Untergang kam dann auch.

1. Etappe nach Straßburg

„Da gibt’s aber verdammt viele Orte, die Deviation heißen!“, maulte Peter. OK, er war Altsprachler, ohne Französisch-Unterricht. Und so klärten wir ihn behutsam auf, dass das „Umleitung“ heißt. Deviation auf Deviaton und die 100 km wurden geknackt. Gezeltet wurde im Garten der JH Straßburg wenige Meter neben dem Bahngleis – ganz toll.

2. Etappe nach Colmar

Sie verlief relativ ereignislos, sieht man von der teilweise wunderschönen Strecke auf der elsässischen „Route du vin“ ab. Zeltplatz in Horbourg-Wihr direkt an der Ill (je nach Schriftart sieht das lustig aus! Geschrieben wir's mit einem i und zwei L....) mit viel Platz für das Frisbee-Spiel. Wegen der nahen Ill verzichteten wir bald auf das Fußballspiel; mit dem Frisbee waren wir einfach zielsicherer. Ein Tag war für Colmar reserviert – ein wunderschönes Städtchen. Kulturbeflissen wie pubertierende Jungs nunmal sind, wollten wir natürlich ins berühmte Musée Unterlinden und den Isenheimer Altar bewundern. Wegen Renovierung geschlossen.

3. Etappe nach Belfort

Die erste Bergetappe. Es sollte auch die letzte sein. Kurz hinter Wintzenheim ging’s hoch zur „Route des cinq Châteaux“. Keine Ahnung, wer von uns auf diese Idee kam. Jedenfalls hatte derjenige keinen Schimmer, weder von den Fähigkeiten der Torpedo-Rücktrittbremse noch von der sportlichen Leistungsfähigkeit der Protagonisten. Und so quälten wir uns mehr schiebend als pedalierend hoch. Mit lächerlichen 30,3 Quäldich-Punkten wird die Nordanfahrt heutzutage auf dem einschlägigen Portal klassifiziert, aber hey, wir hatten Übergepäck! Am Col du Wilsbach angekommen war die Euphorie groß. Endlich abfahren!! Meine drei Kumpels waren schnell verschwunden. Ich hatte schon bald Schiss. Der reibradgetriebene VDO-Tacho zeigte ruckzuck 60 km/h an (bei 70 war der Anschlag), doch der wild hin- und herschlackernde Lenker verhinderte, dass ich mich über die höchste jemals erreichte Geschwindigkeit freute. Unwucht nennt man das wohl. Bremsen!! Allein ….. von hinten unten kamen schon bald spratzelnde, zischende Geräusche und ein kurzer Kontrollblick bei rasend-schlackernder Fahrt ergab, dass da eine schwarze Flüssigkeit aus der Nabe spritzte. Handbremse!!! Die hatte ich soweit erinnerlich noch nie benutzt und war auch nicht sonderlich überrascht, dass die Bremswirkung marginal war. Wer bremst denn mit sowas? Aber immerhin, ich wurde etwas langsamer, konnte mich gerade so noch im Sattel halten und schoss auf die letzte Linkskurve kurz vor dem Örtchen Husseren-les-Châteaux zu. Schemenhaft sah ich, dass ich dabei an den Kumpels vorbeischoss. Das wahre Ausmaß erkannte ich erst nachdem ich im Ort gewendet hatte und wieder zurückfuhr: Peter lag im Graben, lachend. Martin hatte blitzschnell reagiert und den kurzen Feldweg genommen, der statt ins Dorf geradeaus und aufwärts zu einer Holzhütte führte. Da er gerade noch bremsen konnte, stand er direkt vor der Hütte, nur ganz knapp nicht drin. Wulf hatte es am schlimmsten erwischt. Fast hätte es für die Kurve noch gereicht, aber dann siegte doch die Zentrifugalkraft und beförderte ihn in einen mit Brenneseln überwucherten Haufen von Pflastersteinen. Da lag er nun, glücklicherweise grinsend. Nur Schrammen und Kratzer. Sein Vorderrad sah schlimmer aus. Geflickt war es recht schnell, aber bis wir den Achter (Wulf: „Mindestens ein Sechzehner!“) mit Hilfe eines Pflastersteins aus der Felge gedengelt hatten, dauerte es. Nicht reparieren konnten wir das Tretlager. Das rechte Pedal sackte bei jeder Kurbelumdrehung ein paar Zentimeter durch und sorgte für rhythmische Begleitgeräusche auf dem ganzen restlichen Weg nach Belfort – immerhin noch 75 km.

Das Ende: Gleich am Stadtrand von Belfort begann es zu regnen. Einige Zeit zögerten wir das Aufstellen der Zelte hinaus, aber irgendwann muss man halt. Am nächsten Morgen war alles durchgeweicht. Zum Glück war es nicht weit zum Bahnhof und genügend Geld für die Zugtickets hatten wir auch noch.

Epilog: 2014 kehrte ich an den Ort des Geschehens zurück, als die Profis bei der TdF die „Route des cinq Châteaux“ fuhren. Tony Martin kam als Zweiter oben an und gewann anschließend die Etappe in Mulhouse. Am gleichen Abend wurde Deutschland Fußball-Weltmeister, aber das nur am Rande.

Ach ja, noch was. Wenn schon jemand daraus einen Roman machen sollte, dann Peter.
https://www.lovelybooks.de/autor/Peter-Dell/
 
Zuletzt bearbeitet:
Am 22.2.2018, am vorletzten Tag einer dreimonatigen Reise durch Frankreich, Spanien und Portugal, ereignete sich folgendes:
Nachdem ich einige Tage gegen den eiskalten Mistral angestrampelt hatte, habe ich mein Lager etwa 30km vor Besancon errichtet und fing gerade an, Nudeln zu kochen, als eine freundliche Dame vorbeikam. Aufgrund meiner mangelhaften Französischkenntnisse gestaltete sich unser Gepsräch etwas schwierig, und ich verstand einfach nicht, weshalb sie sich ständig über Couverture unterhalten wollte, die ich nur von Kuchen kannte.

Kurz nachdem wir uns verabschiedet hatten, kam eine Freundin von ihr, die mir auf englisch erklärte daß ich dort nicht schlafen könne, weil ich sonst erfrieren würde. Es sollten zwar nur -6° C. werden, allerdings dultete sie keine Widerrede, schließlich war sie Krankenschwester und könne meinen Erfrierungstod nicht verantworten.

So ließ ich mich überreden, mich in die nahegelegene Dorfkapelle einquartieren zu lassen. Inzwischen war auch die Dame von vorhin wieder zurückgekommen, diesmal mit Auto, und während ich mein Lager zusammenpackte, kam ein weiteres Auto mit ihrem Mann. So wurde ich von 3 Autos in das nahegelegene Dorf eskortiert und mit einer Unzahl an Decken und Pullovern, einer reichhaltigen Vespertüte, einem Heizlüfter und dem Schlüssel in die Kapelle versorgt wurde.

Meine Nudeln hatten sich inzwischen zu einem festen Brocken verdichtet, der den ganzen Topf ausfüllte, und so kam es, daß ich von der Familie zum Abendessen eingeladen wurde.

In einem bescheidenen sympathischen Häuschen wurde ich Gast der freundlichen Familie, die mich mit einem sehr leckeren, improvisierten Abendessen verwöhnte. Ihr Mann, der keine Gelegenheit ausließ, die Gläser zu füllen, sprach immerhin ein paar Worte Deutsch und ihr Sohn, mit dem ich zwischendurch einen Joint rauchte, war dem Englischen einigermaßen mächtig, und so konnte man sich viele Geschichten erzählen und verstand sich blendend.

Deshalb bot mir die Frau an, doch lieber bei ihnen im Haus zu übernachten, schließlich sei die Kapelle auch nicht sonderlich warm. Das missfiel ihrem Manne, der inzwischen recht ordentlich einen hinter der Binde hatte, aber ganz außerordentlich, schließlich sei ich immernoch ein Fremder. Das widerum erboste den Sohn ganz ausgesprochen, der seinen Vater prompt als senilen aten Mann und Alkoholiker beschimpfte. Zwar verbot man mir von Seiten des Sohnes und der Mutter das Haus zu verlassen, aber bevor sich der immer dynamischere Familienstreit allzusehr zuspitzen konnte gelang es mir doch meinen Standpunkt durchzusetzen, daß ich die NAcht in der Kapelle nähmlich sehr zu schätzen wisse. Allerdings nicht ohne zu versprechen, am nächsten Morgen zum Frühstück vorbeizuschauen.

Was ich dann auch tat, nach einer eindrücklichen Nacht in dieser kleinen, hübschen Kapelle. Inzwischen waren alle Meinungsverschiedenheiten beigelegt und der Rausch ausgeschlafen, und nachdem wir ein üppiges freundliches und vorzügliches Frühstück zelebriert hatten machte ich mich auch wieder auf den Weg. Etliche Geschenke wie Pullover, Jacken, den Heizlüfter und vieles mehr musste ich aufgrund meiner begrenzten Transportmöglichkeiten ausschlagen, nur noch eine zweite, wundervolle Vespertüte mit einem riesigen Stück des leckersten Comté, den ich je kosten durfte, nahm ich dankend an.

Glücklich und zufrieden strampelte ich die Doubs aufwärts und sann darüber nach, warum es wohl immer Menschen aus ärmlichen Verhältnissen sind, die mich so überherzlich aufnehmen und besonders reich beschenken. Jedenfalls rundete diese Erlebnis ganz zum Schluss meiner Reise diese Abenteuer auf unübertreffliche Weise ab.
 
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