Jedermann-Rennen - Wen ich die Beiträge, im Forum, zu diesem Thema lese kommen mir immer wieder Gedanken an eine solche Veranstaltung, die ich vor Jahren mitgefahren bin. Damals habe ich einen Bericht für die Vereins-News geschrieben. Er ist zwar lang (hoffentlich nicht zu lang), dennoch versuche ich den mal in diesen Thread zu stellen.
1.Rominger Classic -1. August 1994
Ein Rennen? Nein, überhaupt nicht. Eine Ausfahrt für Hobbyfahrer, unter Führung von einigen namhaften Profis. Strecke: Vevey-St.Maurice-Riddes-Sion-Montana – 102 Km, 1120m Höhenunterschied.
Mein Bruder überredet mich, mit ihm teilzunehmen, obwohl ich mir geschworen habe, keine Startnummer mehr, an mein Trikot zu heften. Davon habe ich genug gehabt.
Was habe ich da zu suchen? Eine Meute von einigen hundert Fahrern. Da gibt es doch viele die nicht geradeaus, geschweige gewohnt sind, in einem grossen Fahrerfeld, fahren zu können. Nichtsdestotrotz liess ich mich überreden. Es soll ja in erster Linie ein Plausch sein. Wer weiss vielleicht trifft man auch alte Bekannte.
Sonntag, 31. Juli – Startnummernausgabe in Vevey. Von überall tauchen Autos auf, mit Rennrädern auf den Dächern. Die Meldung geht um, dass 3000 Personen teilnehmen. Ich kann das nicht glauben. Das ist sicher nur ein Reklametrick. Denkste, spätestens beim Betreten der Markthalle in Vevey, scheint sich diese Meldung zu bestätigen. Auf der Suche meiner zugeteilten Nummer 1456, sehe ich Abschrankungen mit der Markierung 1500-2000, 2001-2500, 2501-3000. Dahinter stehen Leute Schlange, wie das Vieh, welches zur Abschlachtung geführt wird. Halt, hier das Gehege für 1001-1500, aber kein Mensch. Bin ich richtig? Weshalb ist da niemand? Offensichtlich Glück gehabt. Ich erhalte problemlos einen Plastiksack ausgehändigt, mit 1 Renntrikot, 1 Hose. Wieder an der frischen Luft, ein kurzes Anstehen für 1 Bidon mit Getränk und 2 Riegel. Alles ist erledigt und zurück geht’s nach Hause (Bruder wohnt oberhalb Lausanne). Die Organisation hat für’s erste gut geklappt.
Die vielen Fahrer geben schon zu denken. Immer wieder kommt unser Gespräch auf die bevorstehende ‚Plauschfahrt’. Unbedingt im Feld vorne fahren, wegen der Sturzgefahr. Ich rede mir immer wieder ein, das ich es gemütlich nehme, usw. Ist das vielleicht Nervosität?
Die Meute wird in 6 Gruppen aufgeteilt und steht jeweils unter Leitung/Begleitung von 2 namhaften Profis. Jede Gruppe hat ihren eigenen Sponsor wie Mapei, Volksbank, Tissot, HCB, etc. Wir sind in der 3. Gruppe, Tissot. Gruppenleitung: Claudio Chiapucci und Charly Mottet.
Wir entscheiden uns am anderen Morgen per Rad von Le Mont (Lausanne) nach Vevey zu fahren.
Am Montag, 1. August (CH-Nationfeiertag), ist es bedeckt, aber es regnet nicht, noch nicht. Auf einer Höhenstrasse fahren wir über dem See Richtung Vevey. Eine fantastische Aussicht, aber immer wieder rauf und runter. Werden wir diese Steigungen und die bereits gefahrenen 30 Km im Aufstieg nach Montana zu spüren bekommen? Es ist ja nur eine Plauschfahrt....
Geplant ist, dass die Spitze, Gruppe Mapei-Clas, unter Führung von Toni Rominger, mit einem Tempo von 25-27 Km fährt. In Riddes soll angehalten und die Profis sollen vorgelassen werden und dann wird das Rennen, halt, es ist ja nur eine Plauschfahrt, freigegeben. Wie wird das wohl werden, bei dieser Meute von 3000 Fahrern???
In Vevey, 1 Stunde vor Start. Die Radfahrer kommen aus allen Richtungen und Löchern. Die Fahrer stellen sich in 6 verschiedenen Gruppen, entlang dem See, auf. Die Profi werden vorgängig vorgestellt. Es sind dies: Rominger, Olano, Zülle, Dufaux, Richard, Müller, Järmann, Chiapucci, Mottet, Kelly Bugno.
Gleichzeitig gelten unsere Beobachtungen auch den ‚Konkurrenten’. Was man da nicht alles zu sehen bekommt! Der Letzte, der in Montana ankommt, werde ich mit Sicherheit nicht sein. Sieh den dort! In Turnschuhen, schwarze Socken, eine Rahmentasche. Hat er wohl das Picknick dabei? Ein Bauch, wie eine Schwangere im 7. Monat. Nein, das gibt es wohl nicht... genüsslich zieht er an einer Cigarette. Ob er wohl im Aufstieg nach Montana ans Rauchen denkt? Vielleicht ans abgewöhnen.... Man sieht einige komische Gestalten. Doch es ist ja schliesslich ein Jedermannanlass.
Aber jetzt ab in die Startzone. Schliesslich will ich schon beim Start vorne sein. Der Blick Richtung Rhônetal verheisst nichts Gutes und prompt fängt es an zu regnen. Ab unter einen schützenden Baum. Dort kommt Chiapucci! Er setzt sich an den Strassenrand, locker und aufgestellt, sofort umringt von vielen Leuten. Ein Kerl zum Anfassen.
Kurz nach 9 Uhr setzt sich die Gruppe vor uns in Bewegung. Kurz danach auch die Gruppe ‚Tissot’. Es kann losgehen.
Mit Regenschutz versehen, versuche ich sofort, in die vordersten Positionen zu gelangen. Über die ganze Strassenbreite kommt die Gruppe, wie eine Walze, daher. Ich getraue mich nicht, nach hinten zu schauen. In zweiter Reihe angekommen, versuche ich meine Position zu halten, inTuchfühlung mit Chiapucci und Mottet und im Windschatten des 1. Gliedes. Lass diese nur vorne fahren, aber immer mit wachsamem Auge was vorne geschieht, um nötigenfalls reagieren zu können.
Kaum gestartet wird das Tempo immer schneller. Die Fahrer drängen links und rechts neben dem Führungsauto nach vorne. Unter entsprechenden Sprüchen gegenüber Chiapucci und Mottet bleibt auch diesen, wie auch dem Begleitauto nichts anderes übrig, als das Tempo zu erhöhen. Bereits vor Montreux holen wir die ersten abgehängten Fahrer der vorderen Gruppe ein. Es wird ein erstes Mal gefährlich, beim Überholen der langsamen Fahrer. Chiapucci und Mottet, als auch aus dem Begleitauto wird vorbildlich auf Gefahren, wie langsamere Fahrer, Baustellen, Schienen, Strasseninseln aufmerksam gemacht. Die Erfahrung und das wachsame Auge des Profis lassen grüssen.
Das Tempo wird immer schneller. Wie war das mit den 25-27 Km/h? Ich wirble bereits mit einer Übersetzung von 53x16. Eine leichte Steigung bei Villeneuve geht schon schön an die Schmerzgrenze. Wie soll das noch weitergehen? In horrendem Tempo geht es weiter. Die Spitze der Gruppe formiert sich langsam zu einem Keil. Es wird eingereiht. In horrendem Tempo geht es weiter. Wenn das nur gut geht! So kommen viele nie in Montana an. Vorne, in einiger Distanz, sieht man, insbesondere bei leichten Anstiegen, eine imposante Fahrermeute, -schlange, -lawine. Imposant. Nach hinten wage ich gar nicht zu schauen. Viel zu gefährlich. Da plötzlich Rotlicht! Ein Bahnübergang! Der Zug kommt von Links (Schmalspurbahn nach Bex). Achtung –
Bremsen! Nein, überhaupt nicht. Mit Volldampf geht es auf den Bahnübergang zu. Die Bahn hält und lässt die ‚Lawine’-Tissot vorbei. Wann habe ich das erlebt, dass ein Zug wegen Radrennfahrern anhält? Inzwischen sind auch meine Rennschuhe mit Wasser gefüllt. Nichtsdestotrotz wird gefahren wie die Feuerwehr. Achtung, da vorne liegen ein paar Fahrer am Strassenrand. Ein Sturz in der vorderen Gruppe. 2-3 Fahrer, darunter eine Frau, scheinen nur mit Mühe wieder hochzukommen. Hoffentlich hat sie es nicht bös erwischt. Wir fahren in vollem Tempo vorbei, überholen mehr und mehr abgehängte Fahrer. Plötzlich ein wildes Fuchteln der Rennleiterin aus dem Begleitfahrzeug. Lentement, lentement! Wir haben zur vorderen Gruppe aufgeschlossen. Endlich kehrt Ruhe ein. Uff, wir können es endlich gemütlicher nehmen. Über die ganze Strassenbreite verteilt, rollen wir in angenehmen Tempo das Wallis hinauf. Gleichzeitig erhöhen sich dadurch aber auch die Gefahren. Ich halte mich immer im 2.-3. Glied auf. Aber der da vorne, gleich neben Chiapucci, einen Riesengang tretend, macht immer wieder gefährliche Schwenker. Wenn das nur gut geht. Geradeausfahren muss auch gelernt sein. Trotz verschiedenen Bemerkungen und Zurufen lässt er sich nichts anmerken. Er hat wohl ‚Weihnacht’, dass er neben Chiapucci fahren und mit ihm Plaudern darf. Zum Glück verschwindet er nachher von der Bildfläche. Ein anderer Fahrer, mit nur einem Arm! Ich habe meine Bedenken und all das in diesem grossen ‚Kuchen’. Er fährt vorbildlich, geht aus dem
Sattel. Ich staune, der beherrscht sein Rad. Später fahre ich für längere Zeit direkt am Hinterrad von Chiapucci, da bin ich wohl am sichersten. Eigentlich ein unscheinbarer, symphatischer Kerl. Er fährt klein übersetzt, einen abgestuften Kranz, ein ‚Fadenspüeli’(Ritzel) und zu meiner grossen Überraschung vorne 3-fach.
Der Regen hat zum Glück aufgehört. Ich fahre kurz vor das Feld und entledige mich des Regenschutzes. Nass ist man ja allemal. Essen nicht vergessen! 2 Stengel (Marke sei nicht erwähnt – keine Schleichwerbung, werde leider dafür auch nicht bezahlt). Das angespannte Fahren im Feld ermüdet. Langsam spüre ich etwas die Beine. Wo ist mein Bruder? Wohl ganz in der Nähe. Aber zurückschauen, inmitten der Meute, wäre zu gefährlich. Einem fällt der
Helm herunter, dann liegen wieder Bidons auf der Strasse. Nicht ungefährlich für die nachfolgenden Fahrer. Scharenweise halten Fahrer an der Strassenseite. Das Wasser drückt, auch bei Alex Zülle. Auch gibt es relativ viele Defekte. War die Materialvorbereitung wohl schlecht? Meine Collés sollten eigentlich halten. Ich habe mich ja schliesslich erst kürzlich bei einer Clubausfahrt im Colléwechsel geübt.
Riddes! Chiapucci und Mottet legen kurz den grossen Gang ein, aus dem
Sattel und ein Antritt mit voller Wucht und weg sind sie. Von hinten brausen die anderen Profis auf der linken Seite vorbei, um nach vorne zu kommen. Eigentlich hiess es, dass der ganze Tross, 3000 Fahrer, in Riddes angehalten und dann, mit Zeitnahme, losgelassen wird. Von allem nichts! Es wird immer schneller. Von hinten kommen Fahrer um Fahrer. Aus ist es mit der friedlichen Fahrt. Ich schliesse mich einem Schnellzug an, selbstverständlich gut gedeckt im Windschatten. Rechts vom Hinterrad gibt’s den besten Schutz. Weshalb fährt der Vordermann wohl links?? Auf der grossen Brücke nach Riddes das grosse Klirren. 2 Massenstürze. Mit Glück komme ich daran vorbei. Wir überholen Fahrer um Fahrer. Übersetzung 53x14, volles Rohr. Fahrer No. 566 fährt und fährt, ohne abzulösen. Chapeau! Der Grossteil der vorderen beiden Gruppen ist überholt. Das hat Spass gemacht. Für den bevorstehenden Aufstieg nach Montana wohl nicht das Allerbeste. Wir sind in Sion. Ich befinde mich sicher in den ersten 100 Fahrer. Der lange Aufstieg nach Montana, das lange Leiden, kann beginnen. Noch schnell meinen ‚Wurst’-
Helm vom Kopf, den brauche ich im Aufstieg nicht. In der überhasteten Aktion fällt mir die Sonnenbrille herunter. Sch... Anhalten? Nein, unmöglich, das hätte wohl unweigerlich einen ‚Haufen’ gegeben und ich zuunterst. Die erste Rampe ist recht steil. Bald schalte ich auf 39x28, der Aufstieg ist lang, es gilt Kraft zu sparen. Fahrer um Fahrer rauscht an mir vorbei. Ich verdränge dies mit dem Gedanken, dass diese alle viel jünger sind.
Der Zuschaueraufmarsch hinauf nach Montana ist enorm. Applaus und Anfeuerung. Ich gehöre offenbar doch zum ‚Vergänglichen’, resp. zum alten Eisen. Die, welche mich überholen, sind nicht zu zählen, es scheinen mir Hunderte zu sein. Auch scheinen mir die Leute am Strassenrand, beim Anblick des ‚Alten’ vermehrt mit Anfeuerungsrufen und Applaus, Mut zu machen. Ich versuche meinen kleinsten Gang, locker und rund zu treten. Dennoch, die Beine schmerzen. Es ist mühsam. Warum mach ich das alles? Warum tu ich mir das an? Hatte ich nicht schon mal, am selben Berg, ähnliche Gedanken? Schweizermeisterschaft 1964 in Sion. Auch damals nichts Erfreuliches.
Eine kurze Abfahrt. Herrlich, mit gutem Tempo durch die Kurven zu ziehen. Im Nu überhole ich wieder einige Fahrer, andere werden in den Kurven um Längen deponiert. Wäre die Ankunft in Sion, hätte ich wohl wieder eine Chance, weiter vorne zu sein. Doch schon geht es wieder aufwärts.
Da walzt ein Brocken von einem Kerl an mir vorbei. Heh! Das ist doch der Ruedi – ‚Sali Ruedi – fahr numme wiiter, muesch nit uff mi warte’. Ehrlich, ich hätte auch nicht schneller fahren können und es geht immer noch etwa 10 Km den Berg hinauf. Auch einige ‚Senioren’ fahren an mir vorbei. Es tut weh – muss das sein? Einige, auch Jüngere, sieht man später wieder. Sie haben sich übernommen. Da kurz vor Montana, ist das nicht wieder der Ruedi. Heh komm, fahr mit! Hat er Defekt? Ich glaube, ihm ist wohl die Luft ausgegangen, aber weniger in den
Reifen. Durch Menschenspaliere geht es bis zum Ziel in Montana. – Geschafft, einmalig, gewaltig!
Noch Stunden später sind Fahrer in Montana eingetroffen, jeder nach seinem Leistungsvermögen, aber teilweise auch überfordert Hat es der Kerl mit der Rahmentasche und den Turnschuhen wohl geschafft?
Ohne angemessenes Training geht auch eine ‚Rominger Classic’ nicht. Meine eigene Empfehlung an mich: mehr Training und zumindest einige Fahrten mit längeren Anstiegen.
Die Startnummer 1456