Das mit der 1,5m Regel sehe ich jedoch etwas weiter gefasst: natürlich ist das erstmal nur eine schnöde Zahl, durchaus hoch angesetzt.
Wie hoch, erkennt man gut im internationalen Vergleich: 26 der 50 US-Bundesstaaten haben mittlerweile die 3-Fuß-Regel in ihre lokale "StVO" übernommen (das sind nur 90cm!), auch in Australien gelten schon 1m innerorts/1,5m außerorts als hinreichend verkehrssicher.
Ein Abstand, den
100% aller Überholer in
100% aller Überholvorgänge einhalten würden, ist sehr eindeutig vollkommen überdimensioniert. Rein logisch macht eine Vorgabe, die als "Sicherheitsabstand" gelabelt ist, keinen Sinn, wenn der als Reserve vorgesehene Bereich nicht wenigstens hin und wieder in Anspruch genommen wird. Wir sollten uns hüten, die Abstände sklavisch als Naturkonstante zu betrachten. Das ist aus mehrerlei Gründen unsinnig:
- Kein Überholer hat Nostradamus-Fähigkeiten. Niemand kann vorhersehen, was der Überholte während der Parallelfahrt so alles treiben wird. Abgesehen vom kategorischen Verzicht auf jegliches Überholen bleibt daher nur die Prognose der künftigen Fahrlinie des Rades anhand der Beobachtung der Fahrweise des Radfahrers lange vor dem Ausscheren: wie stark schwankt er, kurbelt er gleichmäßig, schaut er sich um oder gibt es sonst einen Anlass für die Annahme, dass er gleich einen Spurwechsel machen könnte?
- Parallel zu dieser Analyse gilt es für den Überholer, auch den Gegen- und Querverkehr zu beobachten, sowie sich durch doppelten Schulterblick und Rückspiegelschau nach hinten zu vergewissern, dass er nicht seinerseits überholt wird.
- Gleichzeitig muss er die Geschwindigkeitsvektoren seines Fahrzeuges und des Fahrrades fehlerfrei verrechnen, um das Timing fürs rechtzeitige Aus- und Einscheren festzulegen.
- Kein Auto hat ein digitales Distanz-o-Meter im Armaturenbrett, das vor und während der Nebeneinanderfahrt live und zentimetergenau den Abstand zum überholten Objekt angibt. Während der Parallelfahrt wie das Kaninchen auf die Schlange nach rechts zu gucken, um das Verhalten des Radfahrers fortwährend zu verfolgen, ist ebenfalls sinn- und nutzlos. Einerseits, weil ein mehrspuriges KFZ sowieso nicht so flexibel seitlich auslenken kann wie das Fahrrad und zweitens, weil man tunlichst auch nach vorne, links und hinten schaut, wo der übrige Verkehr ja auch noch Aufmerksamkeit fordert.
Risiken beim Überholvorgang, die den vorgewählten Abstand teilweise aufbrauchen könnten können sich aus folgenden Ursachen ergeben:
- plötzliche erratische Schwankungen des Fahrrades (Überholter)
- unangekündigte überraschende Spurwechsel oder Abbiegemanöver des Fahrrades (Überholter)
- Fehleinschätzung beim Timing zum Ausscheren (Überholer)
- Fehleinschätzung beim Timing zum Einscheren (Überholer)
- Fehleinschätzung bei der eigenen Fahrzeugbreite (Überholer)
- Fehleinschätzung bei der Breite des Fahrrades (Überholer)
- unzureichende Beobachtung des übrigen Verkehrs, die ein Ausweichen in Richtung des Überholten bedingt (Überholer)
Quintessenz: den Seitenabstand kann der Überholer prinzipiell nur
vor dem eigentlichen Manöver einplanen. Sobald es einmal läuft, hilft quasi nur noch Beten. Gerade wegen der unzähligen Möglichkeiten, die zu einer seitlichen Annäherung führen könnten, wurde der Abstand so üppig gewählt. Er ist damit gerade kein Wert, auf dessen jederzeitige Einhaltung der Überholte nachträglich einen einklagbaren Rechtsanspruch hätte - das gilt schon allein deswegen, weil er selbst ja jederzeit mühelos jede Anstrengung seines Hintermannes zur Makulatur werden lassen kann.
Zu guter Letzt: Schwere Unfälle durch von-hinten-in-die-Hacken-Fahren resultieren nicht aus vorsätzlich oder schlampig zu niedrig gewähltem Seitenabstand, sondern aus vollständigem Nicht-Wahrnehmen des vorausfahrenden langsamen Objektes durch Ablenkung, Alkohol, Übermüdung, Sichtverhältnisse.
Der ganze Bohei um die Seitenabstände ist sicherheitstechnisch müßig. Wäre dem anders, müsste es erstens wesentlich mehr
leichte Auffahr-/Streifunfälle geben, als das tatsächlich der Fall ist, und die Auffahr-/Streifunfälle müssten sich dort häufen, wo viele Radfahrer auf viele Autofahrer treffen (also innerorts und tagsüber). Es ist aber im Gegenteil so, dass es erstens -wenn es denn selten mal knallt- gleich sehr böse endet, und zweitens die Auffahrunfälle typischerweise da auftreten wo und wann nix los ist (außerorts, einsame Kreisstraßen, wenn auf größeren Bundes-/Landesstraßen, dann nachts oder sonst bei Verkehrsstille).