Als ich mich heute früh aus meinem Krankenlager erhob, war noch nichts von alledem geplant. Vorsichtig bereitete ich meine Rückkehr ins zivilisierte Leben vor, indem ich den Staub von der seit einer Woche verwaist herumstehenden Kaffemaschine blies und sie in Gang setzte. Sie bedankte sich mit einem liebevollen Rrrrtz-gurgelgurgel-klackklack und kredenzte mir die ersehnte braune Brühe.
Geplant war eine Bahnfahrt nach Bernau, dort lockeres Rollern im REKOM bis Tempelfelde zur Zeitfahrstrecke und dann die Entscheidung entweder ganz bis zu Frau Kühn zu fahren mit den Langsamkeitsentdeckern und dabei meine Gesundheit zu riskieren wegen der weiten Reise, oder lieber doch nur zugucken beim Einzelzeitfahren und dann zurück. Damit ich nicht auf dumme Gedanken komme, hab ich vorsichtshalber mein Cervelo zuhause gelassen und bin mit dem Rennrad los.
Am Bahnhof Bernau war dann erstmal eine riesige Truppe ESKler zu sehen mit ein paar versprengten Höllentouristen mittendrin. Das waren mindestens doppelt soviele Leute wie bei der letzten Austragung es Zeitfahrens im April! Viel Zeit zum zählen blieb nicht, denn die Meute drängte zum Aufbruch. Der schwarze Block hielt nix vom gemütlichen Rollern oder er verstand was anderes drunter als ich. Egal, so viele Leute auf einmal, das gab nen Windschatten, auf den ich nicht verzichten wollte. Diesmal blieben uns sogar die randalierenden Kleinlasterfahrer erspart - die Kühn-FahrerInnen waren in Tempelfelde allerdings auch nicht mehr zu sehen. So war die Entscheidung gefallen, hier zu bleiben und ein paar Fotos zu machen.
Eine Horde unerschrockener ESK-Recken, Höllentouristen und einige wenige Parteilose standen bereit, hungrig in die Schlacht zu ziehen gegen den scheinbar einzigen Gegner, der die Menschheit in diesen Zeiten noch in Angst und Schrecken versetzen kann: die Zeit. Wildeste Gerätschaften wurden zu diesem Behufe aufgefahren und ich stand hier wimmernd, winselnd, weicheiernd und nichtmal willens, die paar Kilometerchen zur Schleusentreppe zu fahren.
Nein, so geht das nicht. Ich habe zwar seit einer Woche kein Fahrrad mehr angerührt, seit zwei Wochen kein Rennrad stehe hier immer noch mit erhöhtem Ruhepuls rotzend rum, kurzum: Ich habe keine Chance, aber ich werde sie nutzen!
Bevor ich mir der Tragweite dieser Entscheidung bewusst werden konnte, gings auch schon los. Großes Blatt liegt schon auf, nur noch reintreten wie ein Ochse. Es geht erstaunlich leicht - müsste da nicht gleich Wind von vorne kommen? Erstmal zeigt der Geschwindigkeitsmesser akzeptable Werte an: Bei 49km/h steht allerdings auch schon Puls 181 auf der Uhr. Mehr als 185 hatte ich im Leben noch nie gemessen. Lange kann das nicht mehr so weitergehen. Ein ordentlicher Hustenreiz meldet sich, die Nase will auch was loswerden - keine Zeit grad fuer sowas. Die sonst kaum merkliche Steigung am Ortsausgang strengt an: Tempo schon bei 44 und fallend, die Lunge möchte jetzt gern platzen.
Jetzt blos nicht das Tempo unter 40 fallen lassen, dann steht einer neuen Bestzeit nix mehr im Wege - das Pflaster bremst ja eh schon. An der Abzweigung in Grüntal möchte ich am liebsten absteigen, ich bin schon richtig kaputt. Blos nicht drüber nachdenken - wenigstens nimmt mir diesmal niemand die Vorfahrt und zwingt mich zu ner Vollbremsung. Kurz vor der zweiten Abzweigung kann ich dann den vor mir gestarteten MTB-Fahrer überholen.
Dann nochmal rechts. Aber was ist das? Es geht auf einmal so schwer! Das
muss der Gegenwind sein. Die Zeit bis zum Kopfsteinpflaster erscheint mir wie eine Ewigkeit. Sämtliche Träume von Bestzeiten sind zerplatzt, grausam zerschmettert vom unablässig blasenden Ostwind. Mittlerweile bin ich schon froh, wenn auf dem Tacho noch die drei vorne steht. Der Wind scheint immer schlimmer zu werden, dann kommt noch eine leichte Steigung dazu - ich fühle mich reif für ein Spenderherz. Warum wollte ich nochmal hier mitfahren? Puls ist immer noch fast am Anschlag, aber die Geschwindigkeit so bei 26. Endlich das ersehnte verhasste Pflaster.
Um die Kurve rum und hoffen auf den Rückenwind. Erstmal kommt er nur von der Seite und es geht so gut wie nix mehr. Das letzte Stück zieht sich endlos. Ich versuche nochmal Gas zu geben, aber viel will nicht mehr passieren. Der Wind verhöhnt mich: er kommt auch blos noch von der Seite. Nach schier endloser Fahrt bin ich endlich im Ziel angekommen. Wie ich jetzt schon ahne und später noch erfahren soll, bin ich noch ca. 20sek. langsamer gefahren als im April. Das schreit nach einer Wiederholung!
Bilder gibts ein paar bei mir im Album: