Velothon180 Berlin 2017 - Rennbericht
Hier noch ein kurzer Bericht vom Velothon in Berlin dieses Jahr. Bin nicht der Profi-Spielberichterstatter, deshalb möge man mir unsaubere Details zu Windstärken, Kohlenhydratketten und Schmierstoffviskosität verzeihen.
Das Velothon ist ja nicht ganz unumstritten - in der "Szene" hat es als (stark kommerzialisiertes) (wirklich)Jedermannrennen einen zweifelhaften Ruf, bei den Jedermännern ironischerweise wegen zu hoher Hürden und Pseudo-Professionalisierung ebenfalls. Als Mindestgeschwindigkeit für die 180km war auch 35km/h angegeben, danach wurde zwar nicht vom Besenwagen aussortiert aber die langsameren Finisher wurden in der Ergebnisliste disqualifiziert. Das ist harsch (und irgendwie sinnlos, denn ein Quali-Rennen oder UCI-Punkte gab es nicht), aber hat den Druck schon einmal hochgehalten. Gefühlt waren deshalb auch nur halbwegs trainierte Leute am Start. Die Räder sahen auch verlässlich aus.
Der Velothon2017 hatte drei Distanzen, 60km, 120km und 180km, die 60er und 180er starteten gemeinsam. Die 180er sollten dann nach der ersten 60km Runde einfach weiter fahren. Von den 120ern hat man (wenn man nicht sehr langsam war) nichts gesehen. Es gab zwei Startblöcke für die 180km-Fahrer, B und C. In einem weiter vorne befindlichen Startblock A waren nur die schnellen Sprinter für die 60km Route. D, E und F waren dann die übrigen Teilnehmer für die 60km. Das war sinnvoll.
Noch kurz zur Ausrüstung (relevant für später): Ich hatte neben Bike (Felt Aero, noch recht neu) und Kit 1,6 Liter Flüssigkeit (eine große eine kleine Flasche, Waser bzw. Frubiase) dabei, 4 Gels, 4 Riegel und ein paar Salzkapseln. Letztere sind bei längeren Strecken für mich irgendwie gut: Magenberuhigend, ausgleichend, vielleicht ist es auch die Psyche. Wie Wasser aufgenommen wird, weiß ich (hier ein
Top-Beitrag) und deshalb auch, dass das fast zuviel des Guten ist mit den Gels/Riegeln, trotzdem hilft es bei mir. Unterm
Sattel das allerallernötigste:
Schlauch,
Reifenheber,
Multitool, Kreditkarte, Hausschlüssel. Minipumpe und ein paar Tempos im Trikot, go light, go far. Ich sehe viele Extra-Flaschen in den Trikottaschen bei den anderen und wundere mich etwas, aber dazu später.
Kettenhunde und so
Um 7.30 Uhr war dann Startschuss und Block für Block gings ins Rennen. Meine Nebenmänner sind ziemlich fit: ein Triathlet und ein ehemaliger Ligafahrer. Die anderen kann ich schwer einschätzen, aber Team-Kits sind allgegenwärtig, Waden sind definiert und braun und das Fahrverhalten ist eher Bereich ambitionierte Amateure als nur After-Work-Radler. Man fährt direkt sehr dicht, gibt Kommandos, hilft sich gegenseitig bei kleinen Sachen (dem Vordermann den
Sattel-Trinkflaschenhalter festschrauben, dem Nebenmann die Flasche aus der Trikottasche helfen usw.). Und Mädels sind keine in Sicht.
Wegen konservativer Schätzung hatte ich mich im Feld C gemeldet (mit 33 km/h Durchschnitt), deshalb musste ich aufholen. Das ging überraschend gut. Normalerweise hat man bei einem hinteren Startblock das Problem, dass die schnellen Gruppen weg sind, die langsamen Gruppen unter der eigenen Kapazität fahren aber das allleinige Aufholen fast unmöglich wird. Man braucht also einen kleinen, schnellen Trupp, der mit vorfährt. den hatte ich zum Glück gefunden, deshalb konnten wir vom Start weg drücken und hatten schnell zu einer größeren und zügigen Gruppe aufgeschlossen. Als ich merkte, dass diese aber beim ersten kleinen Berg langsamer wird und in der Geschwindigkeit schwankt, sind wir nochmal in den Wind und eine Gruppe weitergefahren.
Die fühlte sich ganz gut an. Die ersten 10k durch Berlin mit 45km/h, dann formiert sich ab Km15 im Havelwald auf der HavelChaussee und bei den ersten Steigungen langsam ein größerer Pulk, der noch Leute von weiter vorne einsammelt. Durchschnitt ist jetzt bei 35-38 km/h. Wetter ist top, warm, kaum Wind. Das ist allerdings auch der Strecke geschuldet: im Wald und in den Vororten ist alles windstill. Ein Team Skoda-Fahrer holt auf und legt nochmal ein schnelleres Tempo vor, wir hängen uns dran und fahren deshalb den großen Teil der ersten Rund fast kontinuierlich 41 km/h. Berlin rauscht schön vorbei, die Tour geht um den südlichen Teil herum und ist trotzdem eigentlich ereignislos, kann man fast sagen. Ein vor uns gestürzter wird verarztet, das war es auch. Positiv fällt auf, dass irgendwann kaum noch Fahrer eingesammelt werden - im Startblock A waren also fast nur gute Fahrer. Die wenigen werden ungefährlich umfahren, Signale wurden schön durchgereicht.
Nach einer herrlichen Runde über das windige Tempelhofer Feld dann schön runter nach Berlin Kreuzberg, zickzack bis an den Alex und über die großen Straßen durch Berlin Mitte bis wieder zurück zur Siegessäule. Zuschauer gibt es, aber nur wenige. Die meisten Berliner schauen eher neugierig und irritiert und wie man später im Netz liest, ärgern sie sich vor allem über die Verkehrsblockaden.
Überraschung: wir hören auf
Kurz vor der Siegessäule dann die Überraschung: bei der Felder-Gabelung biegen die meisten Fahrer ab - und sind nach 60km mit dem Rennen durch. Unsere Gruppe ist auf einmal nur noch ein kleines Team, 15 Mann stark. Ich werde nervös: sind wir zu schnell los? hätten wir uns von den (wie sich jetzt zeigt) 60er Fahren nicht so drängen lassen sollen? Meine Befürchtungen sind zum Glück unbegründet, es geht fast ungebremst weiter und ich fühle mich noch fit. Achilllessehne schmerzt nicht, linke Schultermuskulatur (wegen etwas zu kleinem Lenker sonst immer ein kleines Wewehchen ab 50km) ist fit. Während wir wieder in den Havel-Wald fahren sehe ich, dass sich hinter uns doch einige eingefunden haben, die sich dranhängen. Wir fahren weiterhin 40km/h. Ich bin meist im vorderen Drittel und gelegentlich im Wind, aber traue mich noch nicht, vorne Tempo zu machen. Bei Km90 war das noch eine weise Entscheidung.
In einem Wohngebiet in Steglitz nach einer Schwelle auf der Straße hinter mir ein "
Klonk". Klang nach fallender Trinkflasche, aber ich schaue instinktiv auf meine Satteltasche und sehe sie nicht. Oh no. Jetzt ein Anfängerfehler: ich schere nach links aus und bremse, um wenden zu können. Die anderen ziehen an mir vorbei. Nachdem ich weiter hinten nichts auf der Straße sehe und die Zuschauer auch nicht verstehen, warum ich zurückfahre, kommt erst jetzt der kontrollierende Griff unter den
Sattel: Tasche noch da.
Depp! Mein Feld ist natürlich weg und ich muss hinterher. Das kostet einige Energie und dauert fast 10 Minuten, die Gruppe fährt weiterhin 40km/h und ironischerweise kommt jetzt Wind auf. Heilfroh und zum ersten Mal bei dem Rennen im oberen Pulsbereich schließe ich auf und gönne mir 10 km in der Feldmitte.
Wasser oder Windschatten?
Wir sind jetzt über 100km unterwegs und auf einmal fällt mir auf, dass ich noch keinen einzigen Verpflegungsstand gesehen habe. Als Läufer ist das für mich ein Novum, aber ich erinnere mich, dass mehrere angekündigt wurden in den Unterlagen. Haben wir die einfach verpasst? Halten wir überhaupt an? Ich habe noch rund die Hälfte meiner Flüssigkeiten und bin damit auch noch eher im unteren Bereich: wie es ausschaut, haben meine Mitfahrer besser gehaushaltet. Ich rechne: Wir sind noch 80km unterwegs, das sind rund 2 Stunden. Dafür bräuchte ich mindestens 1 Liter im normalen Training, mit der Vorbelastung von 100km und der zunehmenden Hitze eher 1,5. Außerdem muss ich etwas Essen und will noch 1-2 Gels drücken. Dafür brauche ich unbedingt Wasser. Aber woher? Ich frage einen anderen Fahrer. "
Keen Plan!" Tatsächlich wird gerade dann ein Verpflegungsstand angekündigt. Als er kommt, bleibt die Abbiegespur für den Stand aber leer, fast alle fahren stur geradeaus. Ich zögere: Wasser oder Windschatten? Ich bleibe im Team und fahre weiter, Gruppenzwang. Mein Nebenmann grinst: "Na, keine Lust auf ein Bier?"
Jetzt sind wir bei km120 und es wird richtig heiß. So langsam macht sich die Anstrengung bemerkbar, der untere Rücken tut weh. Die Gruppe hat sich zu einer langen Schnur eingereiht, maximal Zweierreihen, meist Perlenkette. Wind im Wechsel von vorne und von der Seite. Ich will mich ablenken und fahre weiter vor, irgendwie beflügelt auch die Aussicht auf das Ende in 60km. Das ist genau so meine Feierabend-Trainingsrunde, allerdings in der Regel allein, mit 400HM inklusive und diversen Strava-Sprints. Hier ist alles topfeben und wir fahren in der Gruppe. Puls bei 145. Also eigentlich kein Grund zur Sorge, denke ich. Im Gegenteil. Jetzt könnte man eigentlich ballern. Die Tempomacher lassen sich zurückfallen, ich bin auf einmal vorne, und das läuft ganz ok. Auf dem Tacho stehen 39km/h. Ich habe keinen Wattmesser am Rad und ärgere mich schon den ganzen Tag darüber - das würde mich doch sehr interessieren, heute. Wir fahren zügig über Landstraßen, am Rand kaum Zuschauer. Nur an gesperrten Kreisverkehren ein paar Leute in der Sonne mit Bier und Campingstuhl. Der Gegenwind nimmt zu. Rund 10km mache ich den Windpflug, dann werde ich überholt. Wir sind jetzt nur noch 40km vor Ziel und fahren über eine gesperrte Bundesstraße, B101, das ist neu. Es gibt noch mehr Gegenwind Seitenwind und der Fahrbahnbelag nervt. Nicht wirklich holprig aber grobkörnig genug, um die inzwischen etwas lädierten Handgelenke nochmal ordentlich zu reizen. Man reiht sich instinktiv auf dem weißen Begrenzungsstreifen auf, Gleichgewichtskonzentration bei Mittagshitze. Die Beine sind noch frisch, frischer als das Gesäß, bei der geringsten Gelegenheit gehe ich aus dem
Sattel. Aber die Stimmung hält – unsere Gruppe ist gut drauf. Keine Wolke am Himmel, gut in der Zeit. Den Durst habe ich irgendwie vergessen.
Mensch vs. Material
Bei Kilometer 155 kommen wir wieder auf die Strecke der ersten Runde – und jetzt wird auf einmal allen klar, dass es eigentlich vorbei ist, denn diesen Teil kennen wir schon: Durch Tempelhof, übers Tempelhofer Feld, kleine Abfahrt nach Kreuzberg runter und durch die Stadt ins Ziel. Die Leute werden unruhig, das Tempo nimmt zu. Alleine die Zickzackroute durch Tempelhof verhindert, dass man wirklich aufdreht. Und kaum kommen wir aufs Tempelhofer Feld, passieren wir 160km und es geht los!
Jetzt noch 20 km richtig Vollgas. Dachte ich. Mein linkes Pedal fängt an zu wackeln. Fühlt sich an wie der Cleat, und ich versuche, den Tritt rund zu halten. Komischerweise wackelt es immer mehr. Dann macht es „
kling“ und auf einmal hängt der ganze Kurbelarm an meinem linken Schuh. WTF? Die anderen ziehen weiter – es hagelt Mitleid: „Oh no“. Ich lasse ausrollen und schau mir die Misere an: die Schraube ist einfach ausgedreht. Wie kann das sei? Vielleicht der Transport? Warum ist mir das nicht aufgefallen? Warum hab ich das nicht nachgezogen? Hätte ich das sehen können?
Ich bin sauer, und ziemlich enttäuscht, vor allem aber massiv verwirrt: Da fährt man bis eben in einer eigenen kleinen Wahrnehmungsblase, wo die Realität zwischen wenigen Zentimetern zu Vorder- und Hintermann spielt und man bei Windlärm und Pulsrauschen konzentriert schwitzt – und ein paar Augenblicke später steht man alleine, in völliger Stille auf einem alten Flugplatz. Bizarr. Was tun? An Reparatur war nicht zu denken,
Multitool ist nutzlos. Ein paar Streckenposten, die 200m weiter stehen haben keine Ahnung von Reparaturstationen. Einen Service-Wagen oder ähnliches habe ich den ganzen Tag noch nicht gesehen, warum also hier. Ich frage mich zwei Dinge: Wenn ich zu einer Tankstelle fahre, und das reparieren lasse, bin ich dann disqualifiziert? (das war der dumme Gedanke) Und: Wenn ich das nicht mache, wie komme ich von hier überhaupt nach Hause? (das war der nüchterne Gedanke). Die Lösung war einfach: Aufsitzen, weitermachen. Mit einem Bein eben. Zum Glück ist der linke Kurbelarm weg, so konnte ich den Fuß auf die linke Kettenstrebe stützen. Mit dem rechten Drücken und Ziehen. Ich probiere es aus, es geht überraschend gut. Natürlich sieht das merkwürdig aus und ich bin langsam, aber ein Blick auf den Tacho überrascht: 20 km/h. Damit fällt die Entscheidung: Ich fahre ins Ziel.
Einbeinig Piraten-Style
Inzwischen holt mich die nächste Gruppe ein, an ein Mitfahren ist nicht zu denken, aber ich erkenne einige Fahrer wieder und merke, dass wir noch ordentlich Puffer haben. Ich werde also bestimmt nicht letzter. Ich kann sogar noch den Besenwagen vermeiden, oder? Also schnell ausrechnen: die anderen sind in 30Min im Ziel – bei 40km/h Schnitt womöglich in unter 4:30 h gesamter Fahrtzeit. Wenn ich jetzt also noch eine Stunde brauche, könnte ich es noch in unter 5 h schaffen, das wäre noch immer deutlich schneller, als ich es am Anfang geplant hatte. Und mit Puffer auf den Besenwagen. Also geht’s los, Vollgas auf Halbmast. Einzylindermotor, quasi. Piratenstyle. Nach 5 km bin ich an der Oberbaumbrücke und es geht schön eben durch Berlin-Mitte. Kilometerrunterzählen. Ein paar Leute am Rand verstehen mein Problem, für die meisten bin ich einfach ein versprengter Fahrer mit komischem Fahrstil. Wer behauptet, die Stimmung sei famos, lügt. Klar, Zieleinlauf und ein paar Hotspots sind ok, aber sogar auf der Torstraße keine Menschenseele, außer den paar Touristen und Streckenposten, die sich das antun müssen. Mehrere kleine Buckel werden zum Problem, denn mehr als 100W kann ich nicht mehr drücken. Kein Krampf, kein ungesunder Schmerz, aber es ist jetzt schon eine Qual. Der rechte Oberschenkel brennt. Vor allem aber wird jetzt das Wasserthema wieder akut: ich habe noch eine halbe Flasche. Die ist schnell weg. Noch eine Gruppe überholt mich, laut schreiend, diesmal bin ich das Hindernis. Nach 175km wird die Brücke am Hauptbahnhof mit nur einem Bein fast zum K.O. - Kette (ganz weit) links. Ein paar hundert Meter und schon bin ich auf der Zielgeraden, Straße 17. Juni. Das ist jetzt echt ärgerlich, das hätte im Team und mit Speed wirklich Spaß gemacht. Hach. Jetzt strample ich alleine und ziemlich langsam da lang. Dann noch ein letzter Fehler: Ich verrechne mich mit den Kilometern, zudem waren es nur 178km und – das ist kein Scherz – verstehe deshalb gar nicht, dass die Ziellinie dort ist, wo sie ist. Irgendwie fehlen noch 3 km auf der Uhr und ich fahre weiter. Erst beim Verpflegungsstand und der Medaillenübergabe wird es mir dann bewusst: that’s it. Fast auf die Sekunde 5 h Fahrtzeit. Das war ein leckeres Hefeweizen. Die anderen sind zum Teil noch da und erzählen, dass es ab dem Tempelhofer Feld tatsächlich sehr schnell wurde. 4.20 h brauchte der Schnellste, nur 20 Minuten langsamer als der Sieger des Velothon180.
Fazit: ein Top Tag, eine schöne Sache, ein gutes Event und ein hervorragendes Training. Der Ärger über die Panne war irgendwann verpufft, das Erlebnis als solches und die Kopf-schlägt-Körper Erfahrung sind gute Stories. Als trainierter Sportler kann man den langen Velothon gut nutzen, um mal was auzuprobieren. Dann kann man mit den besseren mithalten und hat Spaß. 180km als blutiger Neuling und womöglich alleine will ich mir nicht vorstellen, das macht glaube ich keinen Spaß. Nur Sonnenbrand.
LG micha