Etwas über das Wanderfahren.
Von August Geisser, Regensburg.
Kein Zweifel, das Tourenfahren ist einer der grossartigsten Genüsse ,werth, in den überschwänglichsten Tiraden herausgestrichen zu werden.
Diesen durchaus wahren Satz Friedrich Kallenbergs möchte ich meiner Plauderei als Leitwort vorsetzen.
Plauderei? Gewiss, denn zu einer streng aufgebauten, lehrhaften Abhandlung über eines der vielen Kapitel vom Tourenfahren ist an dieser Stelle weder Raum noch passender Platz.
Es ist durchaus wahr: das Wanderfahren ist unbedingt die duftigste, ja einzige Blüthe unseres an sich schon edlen Radsportes; es ist . . . aber ich will keine Tirade schreiben, brauch’s nicht; wer dies liest, ist selber Sportsmann, also wird er auch Tourenfahrer sein, und er wird am eigenen Leibe und Geiste erfahren haben, was Wanderfahren heisst und was es wirklich ist. —
Gäbe es denn noch immer Sportsgenossen, die das nicht wissen sollten?
Leider noch viele. —Sehen Sie nur Jenen auf der Landstrasse dahinschwirren, gleichsam mit verhängtem Zügel kommt er daher, vorn übergebeugt die beiden Hände nebeneinander an der Gabelkrone, oder auch freihändig: so sieht er „schneidig“ aus, und sein Blick zeigt es: er ist unternehmend wie der eines Menschen, der gar keine Ahnung hat, wie sehr blöde sein Thun den Vernünftigen vorkommen muss. So macht der die Strasse; er heisst sich auch Tourenfahrer, andere heissen ihn Kilometerfresser, und allfällig steht der Nutzen seiner Radreise in keinem Verhältniss zum angelegten Kapital an Zeit und Kraft. — Ein Anderer, noch recht unerfahren und dabei gleichgültig, begiebt sich auf die Fahrt nach einem fernen Ziel, ohne Tourenbuch, ohne Karte.
Er fragt sich durch, recht und schlecht, mehr noch letzteres und erwirbt zwar einen reichen Schatz von Enttäuschungen, aber auch Ärger und Verdruss, dass er vor sogar vielem „vorbei-gefahren“ ist. —
Ein Dritter fährt in die Welt hinaus mit Zahnbürste und Gummikragen. Ein Dutzend Hängerlinge, die sind angenäht an seiner Jacke; sie vergass er nicht. Aber die Bremse liess er daheim und, was nicht minder grimmig ist: die Werkzeugtasche sammt
Pumpe und
Flickzeug.
„Ach, mir ist bisher noch nichts passiert im Übrigen giebts überall auf der Strasse Radfahrer, die helfen mir schon im Nothfall.“
Doch stimmt die Rechnung nicht. 20 Kilometer von der nächsten Stadt, gerade bei hereinbrechender Dunkelheit, wird der
Reifen verletzt. Weitum kein Mensch, kein hilfsbereiter Kamerad. — Aus ist’s mit Fahrt und Vergnügen. —
Macht es ein Vierter besser? Er hat eine achttägige Tour vor; Schrank und Kasten werden geleert. Sein Rad erniedrigt er zu einem Gepäckwagen; ausser einer Rahmentasche findet sich auch noch ein schwerer Pack auf der Lenkstange, über welchen er gar nicht auf sein Vorderrad hinausblickt, zwei Werkzeugtaschen, eine schwere
Pumpe, bewaffnet ist er auch, als ginge es ins Transvaal oder nach Kuba.
Wie bald ist der Mann des Rades, Gepäcks und Fahrens müde!
No. 5 macht sich seinen Reiseplan. Tagelang zirkelt er herum und endlich stehen, fein säuberlich in Säulen geordnet die Stunden, zu denen er in X oder Z oder Y eintreffen wird. So stehts auf dem Papier. Er lässt sich von seinem Reiseplan in Fesseln schlagen. Trotz Wind und Wetter und Steigungen, — die sich auf seiner Mittelbach’schen Karte gar nicht so grimmig ansahen — kommt er sozusagen mit heraushängender Zunge am abendlichen Ziele an, aber er ist begreiflicherweise missmuthig, und wenn Du ihn fragst nach seinem Urtheil über das Wanderfahren, wird er sagen: es sei eine beschwerliche Arbeit. —
„Ich mache es besser wie Ihr Anderen!“ Und A. veranlasst seinen Sportsgenossen B., die Reise miteinander zu machen. Wie reizend, so nebeneinander fahrend, sich gemüthlich zu unterhalten. Freilich kennt A. den B. eigentlich nur von ein paar Bummelfahrten, aber — es wird sich schon machen. — Ja, aber wie. — Beide mögen für sich genommen Menschen von vorzüglichen Eigenschaften sein und trotzdem nicht zusammen passen. Das wissen sie auch selbst nach dem ersten Berge auf ihrer Fahrt. A., ein Mann in gesetzterem Alter, schiebt ihn zum Teil, B. aber fährt ihn hinauf und wartet oben auf den Nachzappelnden. Das Tempo ist ziemlich gleichmässig, solange es nicht durch Dörfer geht, denn dann tritt B. wie verrückt in die Pedale. Auch wenn er sich bemerkt sieht, ist's aus mit der Gemüthlichkeit. Dazu hat B., ein hagerer Mensch, das Glück fast nicht zu schwitzen, während A. es überreichlich muss. Folglich hat A. viel entwickelteren Sinn für flüssige Genüsse und, wenn A. der Noth Gehör giebt, fährt B. „langsam“ weiter. Endlich treffen sie doch wieder zusammen und auch B. bekommt Durst.
A. hat eine schmächtige Börse: er trinkt Milch; B. aber leistet sich eine Flasche vom besten und erhöht den Genuss durch gelegentliche mitleidige Blicke auf den Kameraden; der aber bemerkt die Blicke, und ich frage: Werden die beiden zusammen einträchtig heimkehren, wie sie hoffnungsvoll ausgezogen sind?
Sehr leicht liessen sich die Bilder vermehren. Man könnte den Mann hineinziehen, der seine Maschine nicht kennt und unfähig ist, die einfachsten Handgriffe an ihr vorzunehmen; oder den Unglücklichen, der sich den Genuss von vornherein unmöglich macht, weil er körperlich ganz ungenügend vorbereitet ist. Und so weiter. — Das Geschriebene genügt. — Die geschilderten Typen von Tourenfahrern sind wirklich Leute, wie man ihnen auf den Landstrassen begegnet und aus diesen Beispielen mag der Vernünftige ersehen, wie man es nicht machen darf, wenn man eine Wanderfahrt zu einer gelungenen machen will und man hernach auch seinerseits mit voller Ueberzeugung einstimmen will in den Spruch meines verehrten Sportskameraden und Mitstrebenden Kallenberg, welchen Spruch ich an die Spitze meiner Plauderei gestellt habe.
aus: Jahrbuch der deutschen Radfahrer-Vereine Bd. 2, 1897/98, S. 27-30
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Erscheinungsdatum 1897
Signatur Y. 8. 1481-2.1897/98
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