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Wunder(bare) Brevetberichte

Wie machst du das mit dem Übernachten? Welche "App, Seite oder dergleichen benutzt du und wie läuft das ab bezüglich Bezahlung und dergleichen. Herzlichen Gruß Bernhard
Ich nutze die Apps von booking.com und airbnb. Ich suche mir zuerst eine Region aus, sagen wir z.B. „Nähe St. Moritz“. Dann gucke ich in beiden Apps was es gibt und lasse mir das auf der Karte anzeigen um Umwege zu vermeiden, als nicht zu weit ab vom Track. Dann gucke ich nach Check-In Zeiten und schreibe die Anbieter an, wie das mit Late-Checkin (und manchmal auch dem Rad mitnehmen) aussieht.
Zahlung immer über die Apps selbst, Paypal oder Visa, meist ist ja niemand wach wenn ich ankomme. Self-Checkin-Hotels haben aber meist auch Zahlung am Computerterminal.
Du kannst mir auch gerne eine PN schicken wenn du das detaillierter wissen magst 🙂
 
Ich nutze die Apps von booking.com und airbnb. Ich suche mir zuerst eine Region aus, sagen wir z.B. „Nähe St. Moritz“. Dann gucke ich in beiden Apps was es gibt und lasse mir das auf der Karte anzeigen um Umwege zu vermeiden, als nicht zu weit ab vom Track. Dann gucke ich nach Check-In Zeiten und schreibe die Anbieter an, wie das mit Late-Checkin (und manchmal auch dem Rad mitnehmen) aussieht.
Zahlung immer über die Apps selbst, Paypal oder Visa, meist ist ja niemand wach wenn ich ankomme. Self-Checkin-Hotels haben aber meist auch Zahlung am Computerterminal.
Du kannst mir auch gerne eine PN schicken wenn du das detaillierter wissen magst 🙂
Herzlichen Dank für die schnelle Antwort, das reicht mir soweit. Spätestens ab nächstem Jahr möchte ich auch die ein oder andere zusätzliche längere Tour fahren. 🙏 Weiterhin gute unfallfreie Fahrten.
 
Hanze 6-9-6: Ein Brevet in sechs Akten
Das Lesen der Berichte anderer hat mich lange inspiriert, aber nun wird es Zeit, selbst einen zu verfassen – auch dank des freundlichen Anstoßes von Dasulf. Hier ist mein Erlebnisbericht vom Hanze 6-9-6 (1200 km).

Anfang September führte mich mein Weg voller Aufregung nach Deventer (Niederlande). 1215 Kilometer, rund 3800 Höhenmetern. Die Strecke (grob Deventer – Köln – Fritzlar – Hann. Münden – Hildesheim – Bremen – Groningen – Deventer). Meine Vorbereitung viel leider nicht so aus, wie ich es geplant hatte und so stand ich nun in Deventer mit gut 1500km weniger als im letzten Jahr vom PBP. Trotzdem war ich guter Dinge, stellte mein Zelt auf und genoss das gemeinsame Abendessen der Veranstalter. Am nächsten Morgen, um 9:00 Uhr, stand ich mit etwa 50 anderen Fahrern am Start. (Weitere 50 Fahrer begaben sich auf die 2100-km-Strecke.)

1. Akt: Guter Start, harte Landung (Kilometer 0-60)
Die Wettervorhersage war super, allerdings mit Gegenwind auf den ersten 200 Kilometern. Mein Plan: die ersten 200 Kilometer in unter 10 Stunden, um einen ordentlichen Zeitpuffer zu haben. Die Gruppen waren mir zu nervös und so fuhr ich meinen Stifel. Lief gut, die ersten 50km mit einem 30er Schnitt.

Ich näherte mich einer älteren E-Bikerin von hinten und wollte sie überholen. Als ich hochschaltete, erschrak sie offenbar durch das Geräusch und beschleunigte plötzlich. Dadurch gelang es mir nicht, an ihr vorbeizuziehen, und so fuhren wir nebeneinander in eine Kurve. Leider schien sie mit der Geschwindigkeit überfordert, driftete nach außen und ich versuchte, ihr Platz zu machen. Der Radweg war jedoch an dieser Stelle sehr sandig – vermutlich die einzige Stelle der Strecke.

Das Resultat: Ich stürzte. Knie und Ellbogen bluteten, meine Kleidung war zerrissen. Die E-Bikerin und andere Tourenfahrer waren sofort sehr bemüht und besorgt. Ich beruhigte alle und stellte klar, dass die E-Bikerin keine Schuld trug – es war meine Entscheidung, zu überholen; ich hätte besser warten und bremsen sollen.

Nachdem sich die aufgeregte Menge etwas beruhigt und verstreut hatte, entschied ich, im nächsten Café eine Pause zu machen. Ich wollte aufs Rad und stellte fest, dass mit dem Lenker etwas nicht stimmt. Die üblichen Schläge gegen die STI brachten nichts – der rechte war deutlich zu weit oben und ich realisierte, dass war kein kleiner Sturz.

2. Akt: Vernunft vs. Wille (Kilometer 60)
Ich rollte langsam weiter. Ein Café war nicht in Sicht. Sollte ich aufhören? Vernünftiger wäre es. Ein so harter Sturz, keine Ahnung, was ich mir wirklich davongezogen habe. Reizvoller ist es aber weiter zu fahren. Einfach versuchen? Dieser Zwiespalt begleitete mich auf den Weg nach Nijmegen. Ich wollte einen Radladen nutzen, um meinen Lenker zu richten. Dort stellte sich allerdings heraus, dass er gebrochen war. Wow, ein so harter Sturz? Aber wenn ich aufhören würde, müsste ich in Deventer zwei Tage rumgammeln, den die Dopbags würden erst in zwei Tagen zurück fahren.

So richtig konnte ich keine Entscheidung treffen, und so bemühte ich das Schicksal. Wenn ich einen neuen Lenker zu einem vernünftigen Preis finden, probiere ich es. Dies war jedoch nicht wirklich einfach. Ein E-Bike-Laden folgte dem anderen. Schließlich wurde mir ein Rennradladen auf der Karte gezeigt, aber auch dieser hatte keine Lenker: Er würde nur ganze Räder verkaufen. Berühert von meinem Schicksal telefonierte er jedoch engagiert und fand einen Laden, der einen Lenker hätte – allerdings ohne Mechaniker.

Ich fuhr zu ihm, ein großer TREK-Shop. Zunächst wurde mir ein 490€ Teurer Carbon-Lenker angeboten. Äh, nein. In der Werkstadt fand sich dann ein normaler Alu-Lenker für 90 Euro. Mittlerweile spürte ich meine Verletzungen stärker, besonders das Gehen fiel mir zunehmend schwer. Die Hüfte schwoll ein wenig an, am Rücken machte sich mindestens eine Prellung bemerkbar. Aber in Ruhe konnte ich alle Bewegungen ausführen – vermutlich also nix gebrochen.

Mitten im Laden begann ich nun meinen Lenker zu montieren – die Werkstadt durfte ich ja nicht nutzen. Mach viel hin- und her bekam ich dann doch einen ordendlichen Inbus (oder wie er auch immer korrekt heißt). Das Montieren viel aber schwer, insbesondere das wickeln des Lenkerbands führte zu erheblichen Schmerzen.

Vier Stunden nach dem Sturz war das Rad wieder gerichtet, mein Blick auf den Zeitplan zeigte: Kein Polster, sondern drei Stunden hinter her. Egal – ich beschloss, es einfach zu versuchen und zu sehen, wie weit ich kommen würde. Zur Not gab es schließlich immer noch Züge, die mich zurückbringen konnten.

3. Akt: Hart am Wind, das Zeitlimit im Nacken (Kilometer 60-480)
Eines vorweg: Ich bin nicht der Schnellste. Unter optimalen Bedingungen wäre vielleicht eine Gesamtzeit von 86 Stunden möglich. Doch nun, mit all den Verzögerungen und Hindernissen, begann ich wild zu rechnen. Unterwegs traf ich auf eine „unangekündigte Kontrolle“, die mich überraschend aufmunterte. Die hilfsbereiten Leute vor Ort versorgten mich mit aufbauenden Worten, wiesen mich darauf hin, dass meine Trikotaschen kaum noch existierten (ich solle da besser nix reinstecken) und steckten mir eine Cola zu. Ich sei auch nicht der letzte, irgendwie eine motivierende Information. Mit neuer Energie fuhr ich weiter.

Doch meine Berechnungen ließen nichts Gutes erahnen: Es würde knapp werden, sehr knapp. Zeit für Schlaf würde kaum bleiben. Mein neuer Plan: die erste Nacht komplett durchzufahren und dann am Morgen zu sehen, wo ich lande. Trotz dieses Vorhabens ließ mich der Stress mit dem Zeitlimit und die Frage, ob es nicht doch vernünftiger wäre, aufzuhören, nicht los.

Als ich gegen 22:00 Uhr Köln erreichte (ca. 200 km), schloss ich zu einem anderen Fahrer auf – ein Moment, der mich sehr motivierte. Wer weiß, vielleicht hätte ich ohne diesen Kontakt tatsächlich in Köln aufgegeben, ich stand sehr dicht davor. Nach einem schnellen Imbiss und einer Grundversorgung an einer Tankstelle ging es in die Nacht.

Die Veranstalter hatten nach Köln angenehmen und gut zu fahrenden Anstiegen gewählt. Immer wieder sah ich Mitfahrer:innen am Straßenrand schlafen, doch ich rollte unbeirrt durch die warme Nacht. Schließlich erreichte ich zum Sonnenaufgang die Tankstelle in Kreuztal (ca. 340 km). Meine körperliche Verfassung war mittlerweile eindeutig: Auf dem Rad fühlte ich mich halbwegs gut, aber Absteigen und Gehen fielen mir zunehmend schwerer. Entsprechend irritiert schaute der Tankwirt: „Wirklich alles gut?“.

Ich gönnte mir eine längere Pause, wechselte meine Kleidung – ein für mich sehr hilfreiches Ritual, um Wundscheuern vorzubeugen– und machte mich wieder auf den Weg, denn Müdigkeit war weiterhin kein Thema.

Der Weg führte nun lange Zeit an der Eder entlang, einer Bundesstraße, die leider alles andere als angenehm zu fahren war. Es war einer der wenigen Momente, in denen ich die Streckenwahl nicht sonderlich gelungen fand. Aus reiner Vernunft legte ich am Edersee eine Pause ein. Über 30 Stunden ohne Schlaff, ne, dass geht nicht. Jetzt einfach mal hinlegen. Ich nickte 20 Minuten weg und war wieder hellwach. Ein wenig nach rechts und links rollen, nein ich war wach und das hin- und herrollen tat richtig weh.

Doch dann passierte das nächste Missgeschick: Beim Beladen des Rads – oder irgendwann dazwischen – muss ich auf den falschen Knopf meines Garmin gedrückt haben. Plötzlich meldete es sich mit der Nachricht, dass es kein GPS-Signal mehr empfange. Ich klickte verzweifelt hin und her, startete es neu, hielt es gen Himmel und schimpfte. Nichts half! Eine verzweifelte Googleanfrage brachte Hilfe: In Profileinstellungen kann GPS ausgestellt werden und offenbar hatte ich ein Profil aktiviert, in dem dies der Fall war. Hallo Garmin, wozu soll den diese Funktion gut sein? Ein Navi, dass nicht weiß wo es ist?

Nachdem ich das Problem behoben hatte, wussten mein Garmin und ich wieder, wo wir waren. Die Reise konnte weitergehen. Am frühen Nachmittag erreichte ich Fritzlar (ca. 480 km). Lief ok, also einfach weiterfahren.

4. Akt: Schlafmanagement und soziales Pflichtgefühl (Kilometer 480 – 660)
Die Route führte mich nun an die Fulda, südlich von Kassel; vertrautes Revier. Mit kräftigem Rückenwind flog ich über den Fulda-Radweg und erreichte Hann. Münden (ca. 540 km) am frühen Abend. Die Frage war nun: Wie weiter? Eine zweite Nacht ohne Schlaf? Das klang wenig vernünftig. Ein Hotel in Hann. Münden und dann nachts weiterfahren? Klingt klug, aber das günstigste Hotel kostete über 160 Euro. Da ich eine Isomatte und Schlafsack dabei hatte, entschied ich weiter zu fahren. Wenn ich müde werde, könnte ich mich ja immer noch irgendwo hinlegen. Zudem war der nächste Kontrollpunkt besetzt und bot Betten an – eine gute Option. Auf die WetterApp hatte ich allerdings nicht geschaut – warum auch, es war ja Super das Wetter.

Kurz nach Hann. Münden schloss ich zu einem Mitfahrer auf, dessen Navi nicht mehr funktionierte. Wir vermuteten, dass es die Batterie war, und ich bot an, dass wir erstmal gemeinsam weiterfahren könnten, damit er sein Gerät in Ruhe laden konnte. Kurz darauf begann es heftig zu regnen. Die Strecke führte von der Weser weg Richtung Göttingen – wer die Gegend kennt weiß, da ist nicht viel. Der Regen wurde kräftiger und ich schaute in der Wetter-App nach: Regen bis 3:00 Uhr morgens bei gleichbleibender Intensität.

Also Regenhose und Regenjacke raus. Wasserdichte Cap und wetterfeste Handschuhe an. Das Navi meines Mitfahrers gab endgültig den Geist auf – vermutlich durch nasse Kontakte – und er war nur mit einer Regenjacke unterwegs. Die Temperaturen sanken spürbar und er begann heftig zu frieren. Ein weiterer Mitfahrer gesellte sich zu uns. Ihm ging es nicht besser.

Unsere Route sollte nach Nörten-Hardenberg über den Harz führen. Ich fand dies für die beiden keine gute Idee. Bei gutem Wetter eine traumhafte Strecke, aber jetzt? Ohne Regenhose, ohne Handschuh, ohne Cap? Dort oben wird es sicher 4-5 Grad kälter sein, zudem ist die Abfahrt nach Lengelsheim knapp 30km lang. Und als wäre das nicht genug, würden wir mitten in die Auflösung des Sonntagsfahrverbots für LKWs geraten, da wir nicht vor 23:00 Uhr oben sein würden.

Ich berichtete von meiner Streckenkenntnis, die beiden blieben jedoch bei Ihrem Plan bis (Burg)Lutter zu fahren. Dort wäre schließlich um 10:00 Uhr Kontrollschluss. Ich versuchte, die Idee eines Hotels ins Spiel zu bringen, keinen Erfolg. Vielleicht war ich zu diplomatisch, aber wer bin ich, anderen in ihr Brevet reinzureden? Doch gleichzeitig ärgerte mich mein eigener Ehrgeiz. Mit diesen beiden war ich deutlich langsamer unterwegs. Hätte ich alleine weitergemacht, wäre ich sicher gegen 1:00 Uhr in (Burg)Lutter gewesen und hätte 5-6 Stunden Schlaf gehabt. Aber war es sozial akzeptabel, sich zu verabschieden, wenn mindestens einer in der Gruppe friert und erschöpft war?

Ich schrieb dem Veranstalter eine SMS, ob wir bei diesem Wetter eine alternative Route „untenrum“ fahren dürften. Ich kannte den Weg und könnte die beiden sicher nach (Burg)Lutter führen. Zunächst gab es keine klare Antwort, und so schlug ich vor, erstmal nach Nörten-Hardenberg zu fahren – dort ist ein 24h-Rasthof. Auf dem Weg dahin verabschiedete sich der hinzugekommene und eine Stunde später erreichten wir das Zwischenziel.

Der Veranstalter hatte inzwischen die Freigabe für die alternative Route erklärt, es regnete aber weiterhin wie aus Eimern. Mein Mitstreiter gab deutlich zu erkennen, dass er weiterfahren wird, meine Sorgen wurden dadurch nicht geringer. Ich improvisierte aus meiner Rettungsdecke Wärmesocken und Einlagen für die Beinlinge. Und so setzten wir den Weg über Northeim und Seesen fort. Ich kenne die Gegend ganz gut. Das gab Sicherheit. Aber wie lange würden wir brauchen? Das Tempo nahm Stunde für Stunde ab und neben der Kälte machte sich auch die Müdigkeit bei meinem Mitfahrer bemerkbar. Ich versuchte, ihn zu motivieren, teilte meine Handschuhe und Cap mit ihm, gab ihm Süßigkeiten, quatschte ihn voll, sang. Doch am Ende krochen wir mit 7 km/h durch die Landschaft.

Irgendwann um 5:00 Uhr morgens erreichten wir schließlich den Kontrollpunkt in (Burg)Lutter (ca. 660 km). Erschöpft und innerlich unsortiert, ob ich nun wegen mir, meinem Mitfahrer, dem Wetter oder der Weltlage grummelte, fokussierte ich mich auf das Wesentliche: eine heiße Dusche und endlich Schlaf.

5. Akt: Business as usual - es läuft wie es soll (Kilometer 660 - 900)
Nach 3,5 Stunden Schlaf stand ich wieder auf, bereit, mich auf den Weg zu machen. Das Wetter war wieder perfekt, und mein Rad lief wie geschmiert. Hildesheim (700 km) war schnell erreicht. Der Weg nach Hannover war mir vertraut und ließ sich zügig bewältigen – auch wenn die vielen Ampeln ziemlich nervten. Gegen 13:00 Uhr machte ich schließlich vor der Uni Hannover (740 km) meine nächste längere Pause.

Als ich hier mein Garmin prüfte, stellte ich genervt fest, dass die Teilstrecke nach Bremen nicht geladen war. (Ich teile den Track immer in einzelne Etappen).Noch ärgerlicher: Garmin weigerte sich hartnäckig, sich mit meinem Handy zu verbinden, sodass ich den Track nicht nachladen konnte (Anmerkung: Die Aufzeichnung war beendet, es muss also ein anderer Fehler gewesen sein). Trotz mehrerer Versuche brachte ich es nicht zum Laufen. Mein Frust stieg weiter, als der Gesamttrack, den ich als Backup auf dem Garmin hatte, das Gerät zum Absturz brachte. Nach einer Stunde erfolglosen Herumprobierens entschied ich mich mit meinem Handy zu navigieren. Im Grunde war mir der Weg nach Bremen ja bekannt: über die Hauptstraße zum Flughafen, dann nach Mandelsloh, von dort über Rethem nach Verden. Wieso hatte ich also eine Stunde lang gefummelt, ich kenne die Gegend doch! Selbstvorwürfe helfen aber nicht weiter, also wieder Fokus bilden und weiter fahren.

Im Großen und Ganzen lief es gut und das Wetter war super. Es reichte hin und wieder aufs Handy zu schauen, um sich zu vergewissern, dass man auf dem richtigen Weg unterwegs war Nur den Umweg über Steimke hatte ich verpasst. Als Einheimischer weiß man, dass die Strecke über Neudorf geht – wer kann den mit Steimke rechnen?. Es lief flüssig und es zeichnete sich ab, dass ich zwischen 20 und 21 Uhr in Bremen sein würde. Zeit also, über das Schlafmanagement nachzudenken.

Klar war, dass ich spätestens in der übernächsten Nacht um 3:00 Uhr im Ziel sein musste. Es machte also keinen Sinn die übernächste Nacht zu schlafen. Wenn, dann in dieser Nacht. Doch wo? Bremen? Oldenburg? Oder irgendwo dazwischen? Biwak oder Hotel?

Von Bremen wären es noch gut 400 km. Ausgeschlafen sollte das in 24 Stunden machbar sein. Ich müsste also um 3:00 Uhr in Bremen los. Nach kurzer Hotelrecherche entschied ich mich für eine Unterkunft kurz vor Bremen, den Nachts würde ich zügiger Durch Bremen kommen.

Gegen 19:30 Uhr erreichte ich das Hotel. Der Wirt war sichtlich irritiert, dass ich weder am Frühstück noch an den Restaurants der Gegend interessiert war – ich wollte nur so schnell wie möglich ins Bett. Um 20:00 Uhr lag ich frisch geduscht unter der Decke und genoss einen wirklich erholsamen Schlaf. Um 1:00 Uhr wachte ich von selbst auf und freute mich über meinen Plan, Bremen (850 km) bei Nacht klappt super.

Noch vor Morgengrauen erreichte ich Oldenburg (900 km) und seine 24-Stunden-Tankstelle. Dort traf ich einen anderen Mitfahrer, und wir gönnten uns ein ausgiebiges Frühstück. Mit frischer Energie ging es weiter Richtung Leer. Keine 300 km mehr und über 20 Stunden Zeit – das Ziel war greifbar!

6. Akt: Wind, Regen und eine Lektion zum Kopfkino (Kilometer 900 - 1215)
Der Wind wurde zunehmend stärker und kam direkt von vorn. Kein Problem, als Norddeutscher bin ich das gewohnt. Die Sonne schien weiterhin, und dank der ausgiebigen Hotelübernachtung fühlte ich mich fit.

In Leer (960 km), legte ich eine gemütliche Café-Pause ein. Dabei warf ich dann doch mal einen Blick auf die Wettervorhersage. Oh ha. Der Wind würde bis zum Ziel von vorn kommen, weiter zunehmen und ab Groningen gab es kräftigen Regen dazu. Gut, nun weiß ich was da kommt, ändern tut es aber nix. Mit guter Musik auf den Ohren ging es fröhlich weiter. Auf den niederländischen Radwegen staunte ich über die vielen innovativen, teils kuriosen, formen der Streckengestaltung. Bei einigen erschloss sich mir der Sinn nicht wirklich. Manche waren sehr irritieren. Es gab z.B. eine Kreuzung, in der alle Radfahrer für alle Richtungen gleichzeitig grün hatten und alle Autos stehen blieben. Ok, muss man erstmal verstehen – ich brauchte zwei Grünphasen.

Am frühen Nachmittag kam ich in Groningen (ca. 1040 km) an und gönnte mir ein ausgiebiges, wirklich hervorragendes Essen. Kaum wieder auf dem Rad, traf ich auf den Mitfahrer, den ich nach (Burg) Lutter begleitet hatte. Es ging ihm gut und er fuhr zusammen mit einem weiteren Randonneur in ruhigem Tempo in Richtung Zwolle. Obwohl ich normalerweise lieber allein fahre, schien mir die Gesellschaft bei diesem heftigen Gegenwind eine gute Idee.

Kurze Zeit später setzte der erwartete Starkregen ein. Mein Mitstreiter wurde merklich langsamer und begann erneut zu frieren. Ich fuhr also von vorn und passte mein Tempo an. Innerlich rechnete ich. Spätestens in Zwolle (ca. 80 km vor dem Ziel) die Gruppe verlassen und mein Tempo erhöhen, wenn ich noch im Zeitlimit ankommen möchte. Doch erneut plagte mich das schlechte Gewissen: Kann man so etwas machen? Mitten in der Nacht, im strömenden Regen jemanden zurücklassen? Was, wenn es ihm wieder schlechter geht?

Als er mich bat, aus einer Rettungsfolie erneut improvisierte Socken und Beinwärmer zu basteln, wurde mir klar, wie ernst es ihm war. Wir machten Halt in einer urigen Bar, deren Besitzer wohl überrascht waren, Radfahrer bei diesem Unwetter zu sehen. Trotz des Chaos, das wir mit unseren nassen Klamotten verursachten, wurden wir freundlich aufgenommen. Pommes und Kaffee taten ihr Übriges, um die Stimmung zu heben.

Schließlich wagte ich es, das Thema anzusprechen. Spätestens in Zwolle müsse ich schneller fahren, damit ich noch das Zeitlimit erreiche. Meine beiden Mitfahrer schauten mich etwas irritiert an. Klar, und was ist die Frage? Schon doof, wenn man sich mit seinem eigenen Kopfkino rumplagt.

Wir setzten unseren Weg fort, das Tempo blieb wie es war. 115km vor dem Ziel errechnete ich einen notwendigen Schnitt von 22 km/h fürs Zeitlimit. Ich entschied mich aber noch nicht los zu fahren, 115 war keine schöne Zahl. 99 Kilometer vor dem Ziel war dann der Moment gekommen. Ein Mitfahrer entschied, es mit mir zu versuchen, während der andere, mit Rettungsdeckensocken und meiner Mütze in Ruhe bis Zwolle fahren würde, um dort mit dem Zug weiter zu reisen.

Nun musste ich einen knapper 24er-Schnitt her. Bis Zwolle funktionierte dies gut, trotz des unglaublichen Regens. In Zwolle verabschiedete sich dann schließlich auch der zweite Mitfahrer. Er sei vollkommen Durchnässt und durchgefroren. Der Zug wäre nun sein weg.

Ich fuhr alleine weiter und war wieder in meinem Element: Gute Musik, kein Verkehr und eine Fahrt durch die Nacht. Wunderbar! Meine Regenhose und -jacke taten, was sie sollten. Die Kontrollpunkte in Kampen und Elburg waren schnell abgehakt. Auf den letzten 50 Kilometern gab ich noch einmal alles. Wie immer versuchte ich, den letzten Abschnitt so schnell wie möglich zu bewältigen. Am Ende erreichte ich einen Schnitt von 30 km/h und konnte mir noch einen Zeitpuffer herausfahren.

Überglücklich erreichte ich kurz vor 3:00 Uhr das Ziel und wurde dort von den Mitgliedern des niederländischen Clubs herzlich empfangen. Ein grandioser Abschluss einer Tour, die viel in meinem Kopf bewegt hat.

Was bleibt?
Es ist immer wieder erstaunlich, wozu mein doch schon älterer Körper in der Lage ist. Dabei vergleiche ich mich nicht mit den beeindruckenden Leistungen anderer, sondern mit meinem Alltagserleben. Auch zwei Wochen nach der Tour Jammer ich über meine Verletzungen. Auf der Tour war es objektiv doller, aber Gefühl eben nicht. Den Fokus, den ich während der Tour entwickeln konnte habe ich in meinem Berufsalltag nicht. Zu schnell lenken Kleinigkeiten wie Kollegen oder der nächste Kaffee ab. Schnell gebe ich mich mit einem Kompromiss zu frieden. Sieben Stunden Schlaf in vier Tagen? Im Alltag undenkbar – ich schlafe jede Nacht mehr und könnte morgens trotzdem liegen bleiben.

Ich liebe solche Erlebnisse als Kontrastprogramm zu meinem sonstigen Leben. Sie zeigen mir, was alles möglich wäre – aber nur weil man etwas kann, muss man es ja nicht immer tun. Es ist aber gut zu wissen, dass es gehen würde. Eine weitere Erkenntnis dieser Tour: Ich könnte besser mit den Bildern im Kopf umgehen. Nicht alle Probleme, die ich zu sehen glaube, existieren wirklich.

Was mir jedoch am meisten in Erinnerung bleibt, sind die Veranstalter! Es ist unglaublich, mit wie viel Liebe sie dieses Brevet organisiert haben. Eine herzliche Begrüßung am Vorabend, ein gemütlicher Start mit Kaffee und Kuchen, eine unerwartet besetzte Kontrollstation, die Mut zuspricht, und fantastische Menschen in (Burg)Lutter, die mitten in der Nacht Nudeln kochen und Betten zuweisen. Anders als bei vielen anderen Brevets kommst du hier nicht allein ins Ziel – selbst mitten in der Nacht warten dort Menschen auf dich.

Im Vergleich zu PBP ist dieses Brevet deutlich einsamer. Die Begegnungen mit anderen Fahrern beschränken sich auf wenige, flüchtige Momente. Dies ist eine eigene Form von Herausforderung. Vielleicht vielen mir die besetzten Kontrollpunkte deshalb so auf. Ob und wann die Hanze 6-9-6 noch einmal ausgetragen wird, weiß ich nicht. Aber ich kann sie jedem ans Herz legen, der Höhenmeter scheut und sich intensiver mit sich selbst auseinandersetzen möchte.
 
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Hanze 6-9-6: Ein Brevet in sechs Akten
Das Lesen der Berichte anderer hat mich lange inspiriert, aber nun wird es Zeit, selbst einen zu verfassen – auch dank des freundlichen Anstoßes von Dasulf. Hier ist mein Erlebnisbericht vom Hanze 6-9-6 (1200 km).

Anfang September führte mich mein Weg voller Aufregung nach Deventer (Niederlande). 1215 Kilometer, rund 3800 Höhenmetern. Die Strecke (grob Deventer – Köln – Fritzlar – Hann. Münden – Hildesheim – Bremen – Groningen – Deventer). Meine Vorbereitung viel leider nicht so aus, wie ich es geplant hatte und so stand ich nun in Deventer mit gut 1500km weniger als im letzten Jahr vom PBP. Trotzdem war ich guter Dinge, stellte mein Zelt auf und genoss das gemeinsame Abendessen der Veranstalter. Am nächsten Morgen, um 9:00 Uhr, stand ich mit etwa 50 anderen Fahrern am Start. (Weitere 50 Fahrer begaben sich auf die 2100-km-Strecke.)

1. Akt: Guter Start, harte Landung (Kilometer 0-60)
Die Wettervorhersage war super, allerdings mit Gegenwind auf den ersten 200 Kilometern. Mein Plan: die ersten 200 Kilometer in unter 10 Stunden, um einen ordentlichen Zeitpuffer zu haben. Die Gruppen waren mir zu nervös und so fuhr ich meinen Stifel. Lief gut, die ersten 50km mit einem 30er Schnitt.

Ich näherte mich einer älteren E-Bikerin von hinten und wollte sie überholen. Als ich hochschaltete, erschrak sie offenbar durch das Geräusch und beschleunigte plötzlich. Dadurch gelang es mir nicht, an ihr vorbeizuziehen, und so fuhren wir nebeneinander in eine Kurve. Leider schien sie mit der Geschwindigkeit überfordert, driftete nach außen und ich versuchte, ihr Platz zu machen. Der Radweg war jedoch an dieser Stelle sehr sandig – vermutlich die einzige Stelle der Strecke.

Das Resultat: Ich stürzte. Knie und Ellbogen bluteten, meine Kleidung war zerrissen. Die E-Bikerin und andere Tourenfahrer waren sofort sehr bemüht und besorgt. Ich beruhigte alle und stellte klar, dass die E-Bikerin keine Schuld trug – es war meine Entscheidung, zu überholen; ich hätte besser warten und bremsen sollen.

Nachdem sich die aufgeregte Menge etwas beruhigt und verstreut hatte, entschied ich, im nächsten Café eine Pause zu machen. Ich wollte aufs Rad und stellte fest, dass mit dem Lenker etwas nicht stimmt. Die üblichen Schläge gegen die STI brachten nichts – der rechte war deutlich zu weit oben und ich realisierte, dass war kein kleiner Sturz.

2. Akt: Vernunft vs. Wille (Kilometer 60)
Ich rollte langsam weiter. Ein Café war nicht in Sicht. Sollte ich aufhören? Vernünftiger wäre es. Ein so harter Sturz, keine Ahnung, was ich mir wirklich davongezogen habe. Reizvoller ist es aber weiter zu fahren. Einfach versuchen? Dieser Zwiespalt begleitete mich auf den Weg nach Nijmegen. Ich wollte einen Radladen nutzen, um meinen Lenker zu richten. Dort stellte sich allerdings heraus, dass er gebrochen war. Wow, ein so harter Sturz? Aber wenn ich aufhören würde, müsste ich in Deventer zwei Tage rumgammeln, den die Dopbags würden erst in zwei Tagen zurück fahren.

So richtig konnte ich keine Entscheidung treffen, und so bemühte ich das Schicksal. Wenn ich einen neuen Lenker zu einem vernünftigen Preis finden, probiere ich es. Dies war jedoch nicht wirklich einfach. Ein E-Bike-Laden folgte dem anderen. Schließlich wurde mir ein Rennradladen auf der Karte gezeigt, aber auch dieser hatte keine Lenker: Er würde nur ganze Räder verkaufen. Berühert von meinem Schicksal telefonierte er jedoch engagiert und fand einen Laden, der einen Lenker hätte – allerdings ohne Mechaniker.

Ich fuhr zu ihm, ein großer TREK-Shop. Zunächst wurde mir ein 490€ Teurer Carbon-Lenker angeboten. Äh, nein. In der Werkstadt fand sich dann ein normaler Alu-Lenker für 90 Euro. Mittlerweile spürte ich meine Verletzungen stärker, besonders das Gehen fiel mir zunehmend schwer. Die Hüfte schwoll ein wenig an, am Rücken machte sich mindestens eine Prellung bemerkbar. Aber in Ruhe konnte ich alle Bewegungen ausführen – vermutlich also nix gebrochen.

Mitten im Laden begann ich nun meinen Lenker zu montieren – die Werkstadt durfte ich ja nicht nutzen. Mach viel hin- und her bekam ich dann doch einen ordendlichen Inbus (oder wie er auch immer korrekt heißt). Das Montieren viel aber schwer, insbesondere das wickeln des Lenkerbands führte zu erheblichen Schmerzen.

Vier Stunden nach dem Sturz war das Rad wieder gerichtet, mein Blick auf den Zeitplan zeigte: Kein Polster, sondern drei Stunden hinter her. Egal – ich beschloss, es einfach zu versuchen und zu sehen, wie weit ich kommen würde. Zur Not gab es schließlich immer noch Züge, die mich zurückbringen konnten.

3. Akt: Hart am Wind, das Zeitlimit im Nacken (Kilometer 60-480)
Eines vorweg: Ich bin nicht der Schnellste. Unter optimalen Bedingungen wäre vielleicht eine Gesamtzeit von 86 Stunden möglich. Doch nun, mit all den Verzögerungen und Hindernissen, begann ich wild zu rechnen. Unterwegs traf ich auf eine „unangekündigte Kontrolle“, die mich überraschend aufmunterte. Die hilfsbereiten Leute vor Ort versorgten mich mit aufbauenden Worten, wiesen mich darauf hin, dass meine Trikotaschen kaum noch existierten (ich solle da besser nix reinstecken) und steckten mir eine Cola zu. Ich sei auch nicht der letzte, irgendwie eine motivierende Information. Mit neuer Energie fuhr ich weiter.

Doch meine Berechnungen ließen nichts Gutes erahnen: Es würde knapp werden, sehr knapp. Zeit für Schlaf würde kaum bleiben. Mein neuer Plan: die erste Nacht komplett durchzufahren und dann am Morgen zu sehen, wo ich lande. Trotz dieses Vorhabens ließ mich der Stress mit dem Zeitlimit und die Frage, ob es nicht doch vernünftiger wäre, aufzuhören, nicht los.

Als ich gegen 22:00 Uhr Köln erreichte (ca. 200 km), schloss ich zu einem anderen Fahrer auf – ein Moment, der mich sehr motivierte. Wer weiß, vielleicht hätte ich ohne diesen Kontakt tatsächlich in Köln aufgegeben, ich stand sehr dicht davor. Nach einem schnellen Imbiss und einer Grundversorgung an einer Tankstelle ging es in die Nacht.

Die Veranstalter hatten nach Köln angenehmen und gut zu fahrenden Anstiegen gewählt. Immer wieder sah ich Mitfahrer:innen am Straßenrand schlafen, doch ich rollte unbeirrt durch die warme Nacht. Schließlich erreichte ich zum Sonnenaufgang die Tankstelle in Kreuztal (ca. 340 km). Meine körperliche Verfassung war mittlerweile eindeutig: Auf dem Rad fühlte ich mich halbwegs gut, aber Absteigen und Gehen fielen mir zunehmend schwerer. Entsprechend irritiert schaute der Tankwirt: „Wirklich alles gut?“.

Ich gönnte mir eine längere Pause, wechselte meine Kleidung – ein für mich sehr hilfreiches Ritual, um Wundscheuern vorzubeugen– und machte mich wieder auf den Weg, denn Müdigkeit war weiterhin kein Thema.

Der Weg führte nun lange Zeit an der Eder entlang, einer Bundesstraße, die leider alles andere als angenehm zu fahren war. Es war einer der wenigen Momente, in denen ich die Streckenwahl nicht sonderlich gelungen fand. Aus reiner Vernunft legte ich am Edersee eine Pause ein. Über 30 Stunden ohne Schlaff, ne, dass geht nicht. Jetzt einfach mal hinlegen. Ich nickte 20 Minuten weg und war wieder hellwach. Ein wenig nach rechts und links rollen, nein ich war wach und das hin- und herrollen tat richtig weh.

Doch dann passierte das nächste Missgeschick: Beim Beladen des Rads – oder irgendwann dazwischen – muss ich auf den falschen Knopf meines Garmin gedrückt haben. Plötzlich meldete es sich mit der Nachricht, dass es kein GPS-Signal mehr empfange. Ich klickte verzweifelt hin und her, startete es neu, hielt es gen Himmel und schimpfte. Nichts half! Eine verzweifelte Googleanfrage brachte Hilfe: In Profileinstellungen kann GPS ausgestellt werden und offenbar hatte ich ein Profil aktiviert, in dem dies der Fall war. Hallo Garmin, wozu soll den diese Funktion gut sein? Ein Navi, dass nicht weiß wo es ist?

Nachdem ich das Problem behoben hatte, wussten mein Garmin und ich wieder, wo wir waren. Die Reise konnte weitergehen. Am frühen Nachmittag erreichte ich Fritzlar (ca. 480 km). Lief ok, also einfach weiterfahren.

4. Akt: Schlafmanagement und soziales Pflichtgefühl (Kilometer 480 – 660)
Die Route führte mich nun an die Fulda, südlich von Kassel; vertrautes Revier. Mit kräftigem Rückenwind flog ich über den Fulda-Radweg und erreichte Hann. Münden (ca. 540 km) am frühen Abend. Die Frage war nun: Wie weiter? Eine zweite Nacht ohne Schlaf? Das klang wenig vernünftig. Ein Hotel in Hann. Münden und dann nachts weiterfahren? Klingt klug, aber das günstigste Hotel kostete über 160 Euro. Da ich eine Isomatte und Schlafsack dabei hatte, entschied ich weiter zu fahren. Wenn ich müde werde, könnte ich mich ja immer noch irgendwo hinlegen. Zudem war der nächste Kontrollpunkt besetzt und bot Betten an – eine gute Option. Auf die WetterApp hatte ich allerdings nicht geschaut – warum auch, es war ja Super das Wetter.

Kurz nach Hann. Münden schloss ich zu einem Mitfahrer auf, dessen Navi nicht mehr funktionierte. Wir vermuteten, dass es die Batterie war, und ich bot an, dass wir erstmal gemeinsam weiterfahren könnten, damit er sein Gerät in Ruhe laden konnte. Kurz darauf begann es heftig zu regnen. Die Strecke führte von der Weser weg Richtung Göttingen – wer die Gegend kennt weiß, da ist nicht viel. Der Regen wurde kräftiger und ich schaute in der Wetter-App nach: Regen bis 3:00 Uhr morgens bei gleichbleibender Intensität.

Also Regenhose und Regenjacke raus. Wasserdichte Cap und wetterfeste Handschuhe an. Das Navi meines Mitfahrers gab endgültig den Geist auf – vermutlich durch nasse Kontakte – und er war nur mit einer Regenjacke unterwegs. Die Temperaturen sanken spürbar und er begann heftig zu frieren. Ein weiterer Mitfahrer gesellte sich zu uns. Ihm ging es nicht besser.

Unsere Route sollte nach Nörten-Hardenberg über den Harz führen. Ich fand dies für die beiden keine gute Idee. Bei gutem Wetter eine traumhafte Strecke, aber jetzt? Ohne Regenhose, ohne Handschuh, ohne Cap? Dort oben wird es sicher 4-5 Grad kälter sein, zudem ist die Abfahrt nach Lengelsheim knapp 30km lang. Und als wäre das nicht genug, würden wir mitten in die Auflösung des Sonntagsfahrverbots für LKWs geraten, da wir nicht vor 23:00 Uhr oben sein würden.

Ich berichtete von meiner Streckenkenntnis, die beiden blieben jedoch bei Ihrem Plan bis (Burg)Lutter zu fahren. Dort wäre schließlich um 10:00 Uhr Kontrollschluss. Ich versuchte, die Idee eines Hotels ins Spiel zu bringen, keinen Erfolg. Vielleicht war ich zu diplomatisch, aber wer bin ich, anderen in ihr Brevet reinzureden? Doch gleichzeitig ärgerte mich mein eigener Ehrgeiz. Mit diesen beiden war ich deutlich langsamer unterwegs. Hätte ich alleine weitergemacht, wäre ich sicher gegen 1:00 Uhr in (Burg)Lutter gewesen und hätte 5-6 Stunden Schlaf gehabt. Aber war es sozial akzeptabel, sich zu verabschieden, wenn mindestens einer in der Gruppe friert und erschöpft war?

Ich schrieb dem Veranstalter eine SMS, ob wir bei diesem Wetter eine alternative Route „untenrum“ fahren dürften. Ich kannte den Weg und könnte die beiden sicher nach (Burg)Lutter führen. Zunächst gab es keine klare Antwort, und so schlug ich vor, erstmal nach Nörten-Hardenberg zu fahren – dort ist ein 24h-Rasthof. Auf dem Weg dahin verabschiedete sich der hinzugekommene und eine Stunde später erreichten wir das Zwischenziel.

Der Veranstalter hatte inzwischen die Freigabe für die alternative Route erklärt, es regnete aber weiterhin wie aus Eimern. Mein Mitstreiter gab deutlich zu erkennen, dass er weiterfahren wird, meine Sorgen wurden dadurch nicht geringer. Ich improvisierte aus meiner Rettungsdecke Wärmesocken und Einlagen für die Beinlinge. Und so setzten wir den Weg über Northeim und Seesen fort. Ich kenne die Gegend ganz gut. Das gab Sicherheit. Aber wie lange würden wir brauchen? Das Tempo nahm Stunde für Stunde ab und neben der Kälte machte sich auch die Müdigkeit bei meinem Mitfahrer bemerkbar. Ich versuchte, ihn zu motivieren, teilte meine Handschuhe und Cap mit ihm, gab ihm Süßigkeiten, quatschte ihn voll, sang. Doch am Ende krochen wir mit 7 km/h durch die Landschaft.

Irgendwann um 5:00 Uhr morgens erreichten wir schließlich den Kontrollpunkt in (Burg)Lutter (ca. 660 km). Erschöpft und innerlich unsortiert, ob ich nun wegen mir, meinem Mitfahrer, dem Wetter oder der Weltlage grummelte, fokussierte ich mich auf das Wesentliche: eine heiße Dusche und endlich Schlaf.

5. Akt: Business as usual - es läuft wie es soll (Kilometer 660 - 900)
Nach 3,5 Stunden Schlaf stand ich wieder auf, bereit, mich auf den Weg zu machen. Das Wetter war wieder perfekt, und mein Rad lief wie geschmiert. Hildesheim (700 km) war schnell erreicht. Der Weg nach Hannover war mir vertraut und ließ sich zügig bewältigen – auch wenn die vielen Ampeln ziemlich nervten. Gegen 13:00 Uhr machte ich schließlich vor der Uni Hannover (740 km) meine nächste längere Pause.

Als ich hier mein Garmin prüfte, stellte ich genervt fest, dass die Teilstrecke nach Bremen nicht geladen war. (Ich teile den Track immer in einzelne Etappen).Noch ärgerlicher: Garmin weigerte sich hartnäckig, sich mit meinem Handy zu verbinden, sodass ich den Track nicht nachladen konnte (Anmerkung: Die Aufzeichnung war beendet, es muss also ein anderer Fehler gewesen sein). Trotz mehrerer Versuche brachte ich es nicht zum Laufen. Mein Frust stieg weiter, als der Gesamttrack, den ich als Backup auf dem Garmin hatte, das Gerät zum Absturz brachte. Nach einer Stunde erfolglosen Herumprobierens entschied ich mich mit meinem Handy zu navigieren. Im Grunde war mir der Weg nach Bremen ja bekannt: über die Hauptstraße zum Flughafen, dann nach Mandelsloh, von dort über Rethem nach Verden. Wieso hatte ich also eine Stunde lang gefummelt, ich kenne die Gegend doch! Selbstvorwürfe helfen aber nicht weiter, also wieder Fokus bilden und weiter fahren.

Im Großen und Ganzen lief es gut und das Wetter war super. Es reichte hin und wieder aufs Handy zu schauen, um sich zu vergewissern, dass man auf dem richtigen Weg unterwegs war Nur den Umweg über Steimke hatte ich verpasst. Als Einheimischer weiß man, dass die Strecke über Neudorf geht – wer kann den mit Steimke rechnen?. Es lief flüssig und es zeichnete sich ab, dass ich zwischen 20 und 21 Uhr in Bremen sein würde. Zeit also, über das Schlafmanagement nachzudenken.

Klar war, dass ich spätestens in der übernächsten Nacht um 3:00 Uhr im Ziel sein musste. Es machte also keinen Sinn die übernächste Nacht zu schlafen. Wenn, dann in dieser Nacht. Doch wo? Bremen? Oldenburg? Oder irgendwo dazwischen? Biwak oder Hotel?

Von Bremen wären es noch gut 400 km. Ausgeschlafen sollte das in 24 Stunden machbar sein. Ich müsste also um 3:00 Uhr in Bremen los. Nach kurzer Hotelrecherche entschied ich mich für eine Unterkunft kurz vor Bremen, den Nachts würde ich zügiger Durch Bremen kommen.

Gegen 19:30 Uhr erreichte ich das Hotel. Der Wirt war sichtlich irritiert, dass ich weder am Frühstück noch an den Restaurants der Gegend interessiert war – ich wollte nur so schnell wie möglich ins Bett. Um 20:00 Uhr lag ich frisch geduscht unter der Decke und genoss einen wirklich erholsamen Schlaf. Um 1:00 Uhr wachte ich von selbst auf und freute mich über meinen Plan, Bremen (850 km) bei Nacht klappt super.

Noch vor Morgengrauen erreichte ich Oldenburg (900 km) und seine 24-Stunden-Tankstelle. Dort traf ich einen anderen Mitfahrer, und wir gönnten uns ein ausgiebiges Frühstück. Mit frischer Energie ging es weiter Richtung Leer. Keine 300 km mehr und über 20 Stunden Zeit – das Ziel war greifbar!

6. Akt: Wind, Regen und eine Lektion zum Kopfkino (Kilometer 900 - 1215)
Der Wind wurde zunehmend stärker und kam direkt von vorn. Kein Problem, als Norddeutscher bin ich das gewohnt. Die Sonne schien weiterhin, und dank der ausgiebigen Hotelübernachtung fühlte ich mich fit.

In Leer (960 km), legte ich eine gemütliche Café-Pause ein. Dabei warf ich dann doch mal einen Blick auf die Wettervorhersage. Oh ha. Der Wind würde bis zum Ziel von vorn kommen, weiter zunehmen und ab Groningen gab es kräftigen Regen dazu. Gut, nun weiß ich was da kommt, ändern tut es aber nix. Mit guter Musik auf den Ohren ging es fröhlich weiter. Auf den niederländischen Radwegen staunte ich über die vielen innovativen, teils kuriosen, formen der Streckengestaltung. Bei einigen erschloss sich mir der Sinn nicht wirklich. Manche waren sehr irritieren. Es gab z.B. eine Kreuzung, in der alle Radfahrer für alle Richtungen gleichzeitig grün hatten und alle Autos stehen blieben. Ok, muss man erstmal verstehen – ich brauchte zwei Grünphasen.

Am frühen Nachmittag kam ich in Groningen (ca. 1040 km) an und gönnte mir ein ausgiebiges, wirklich hervorragendes Essen. Kaum wieder auf dem Rad, traf ich auf den Mitfahrer, den ich nach (Burg) Lutter begleitet hatte. Es ging ihm gut und er fuhr zusammen mit einem weiteren Randonneur in ruhigem Tempo in Richtung Zwolle. Obwohl ich normalerweise lieber allein fahre, schien mir die Gesellschaft bei diesem heftigen Gegenwind eine gute Idee.

Kurze Zeit später setzte der erwartete Starkregen ein. Mein Mitstreiter wurde merklich langsamer und begann erneut zu frieren. Ich fuhr also von vorn und passte mein Tempo an. Innerlich rechnete ich. Spätestens in Zwolle (ca. 80 km vor dem Ziel) die Gruppe verlassen und mein Tempo erhöhen, wenn ich noch im Zeitlimit ankommen möchte. Doch erneut plagte mich das schlechte Gewissen: Kann man so etwas machen? Mitten in der Nacht, im strömenden Regen jemanden zurücklassen? Was, wenn es ihm wieder schlechter geht?

Als er mich bat, aus einer Rettungsfolie erneut improvisierte Socken und Beinwärmer zu basteln, wurde mir klar, wie ernst es ihm war. Wir machten Halt in einer urigen Bar, deren Besitzer wohl überrascht waren, Radfahrer bei diesem Unwetter zu sehen. Trotz des Chaos, das wir mit unseren nassen Klamotten verursachten, wurden wir freundlich aufgenommen. Pommes und Kaffee taten ihr Übriges, um die Stimmung zu heben.

Schließlich wagte ich es, das Thema anzusprechen. Spätestens in Zwolle müsse ich schneller fahren, damit ich noch das Zeitlimit erreiche. Meine beiden Mitfahrer schauten mich etwas irritiert an. Klar, und was ist die Frage? Schon doof, wenn man sich mit seinem eigenen Kopfkino rumplagt.

Wir setzten unseren Weg fort, das Tempo blieb wie es war. 115km vor dem Ziel errechnete ich einen notwendigen Schnitt von 22 km/h fürs Zeitlimit. Ich entschied mich aber noch nicht los zu fahren, 115 war keine schöne Zahl. 99 Kilometer vor dem Ziel war dann der Moment gekommen. Ein Mitfahrer entschied, es mit mir zu versuchen, während der andere, mit Rettungsdeckensocken und meiner Mütze in Ruhe bis Zwolle fahren würde, um dort mit dem Zug weiter zu reisen.

Nun musste ich einen knapper 24er-Schnitt her. Bis Zwolle funktionierte dies gut, trotz des unglaublichen Regens. In Zwolle verabschiedete sich dann schließlich auch der zweite Mitfahrer. Er sei vollkommen Durchnässt und durchgefroren. Der Zug wäre nun sein weg.

Ich fuhr alleine weiter und war wieder in meinem Element: Gute Musik, kein Verkehr und eine Fahrt durch die Nacht. Wunderbar! Meine Regenhose und -jacke taten, was sie sollten. Die Kontrollpunkte in Kampen und Elburg waren schnell abgehakt. Auf den letzten 50 Kilometern gab ich noch einmal alles. Wie immer versuchte ich, den letzten Abschnitt so schnell wie möglich zu bewältigen. Am Ende erreichte ich einen Schnitt von 30 km/h und konnte mir noch einen Zeitpuffer herausfahren.

Überglücklich erreichte ich kurz vor 3:00 Uhr das Ziel und wurde dort von den Mitgliedern des niederländischen Clubs herzlich empfangen. Ein grandioser Abschluss einer Tour, die viel in meinem Kopf bewegt hat.

Was bleibt?
Es ist immer wieder erstaunlich, wozu mein doch schon älterer Körper in der Lage ist. Dabei vergleiche ich mich nicht mit den beeindruckenden Leistungen anderer, sondern mit meinem Alltagserleben. Auch zwei Wochen nach der Tour Jammer ich über meine Verletzungen. Auf der Tour war es objektiv doller, aber Gefühl eben nicht. Den Fokus, den ich während der Tour entwickeln konnte habe ich in meinem Berufsalltag nicht. Zu schnell lenken Kleinigkeiten wie Kollegen oder der nächste Kaffee ab. Schnell gebe ich mich mit einem Kompromiss zu frieden. Sieben Stunden Schlaf in vier Tagen? Im Alltag undenkbar – ich schlafe jede Nacht mehr und könnte morgens trotzdem liegen bleiben.

Ich liebe solche Erlebnisse als Kontrastprogramm zu meinem sonstigen Leben. Sie zeigen mir, was alles möglich wäre – aber nur weil man etwas kann, muss man es ja nicht immer tun. Es ist aber gut zu wissen, dass es gehen würde. Eine weitere Erkenntnis dieser Tour: Ich könnte besser mit den Bildern im Kopf umgehen. Nicht alle Probleme, die ich zu sehen glaube, existieren wirklich.

Was mir jedoch am meisten in Erinnerung bleibt, sind die Veranstalter! Es ist unglaublich, mit wie viel Liebe sie dieses Brevet organisiert haben. Eine herzliche Begrüßung am Vorabend, ein gemütlicher Start mit Kaffee und Kuchen, eine unerwartet besetzte Kontrollstation, die Mut zuspricht, und fantastische Menschen in (Burg)Lutter, die mitten in der Nacht Nudeln kochen und Betten zuweisen. Anders als bei vielen anderen Brevets kommst du hier nicht allein ins Ziel – selbst mitten in der Nacht warten dort Menschen auf dich.

Im Vergleich zu PBP ist dieses Brevet deutlich einsamer. Die Begegnungen mit anderen Fahrern beschränken sich auf wenige, flüchtige Momente. Dies ist eine eigene Form von Herausforderung. Vielleicht vielen mir die besetzten Kontrollpunkte deshalb so auf. Ob und wann die Hanze 6-9-6 noch einmal ausgetragen wird, weiß ich nicht. Aber ich kann sie jedem ans Herz legen, der Höhenmeter scheut und sich intensiver mit sich selbst auseinandersetzen möchte.
Da ist ein Daumen hoch, für mich, zu wenig. Danke, dass Du uns auf Deiner Reise mitgenommen hast und schön, dass Du nicht nur Reiseerlebnisse mitnehmen konntest.
 
Hanze 6-9-6: Ein Brevet in sechs Akten
Das Lesen der Berichte anderer hat mich lange inspiriert, aber nun wird es Zeit, selbst einen zu verfassen – auch dank des freundlichen Anstoßes von Dasulf. Hier ist mein Erlebnisbericht vom Hanze 6-9-6 (1200 km).

Anfang September führte mich mein Weg voller Aufregung nach Deventer (Niederlande). 1215 Kilometer, rund 3800 Höhenmetern. Die Strecke (grob Deventer – Köln – Fritzlar – Hann. Münden – Hildesheim – Bremen – Groningen – Deventer). Meine Vorbereitung viel leider nicht so aus, wie ich es geplant hatte und so stand ich nun in Deventer mit gut 1500km weniger als im letzten Jahr vom PBP. Trotzdem war ich guter Dinge, stellte mein Zelt auf und genoss das gemeinsame Abendessen der Veranstalter. Am nächsten Morgen, um 9:00 Uhr, stand ich mit etwa 50 anderen Fahrern am Start. (Weitere 50 Fahrer begaben sich auf die 2100-km-Strecke.)

1. Akt: Guter Start, harte Landung (Kilometer 0-60)
Die Wettervorhersage war super, allerdings mit Gegenwind auf den ersten 200 Kilometern. Mein Plan: die ersten 200 Kilometer in unter 10 Stunden, um einen ordentlichen Zeitpuffer zu haben. Die Gruppen waren mir zu nervös und so fuhr ich meinen Stifel. Lief gut, die ersten 50km mit einem 30er Schnitt.

Ich näherte mich einer älteren E-Bikerin von hinten und wollte sie überholen. Als ich hochschaltete, erschrak sie offenbar durch das Geräusch und beschleunigte plötzlich. Dadurch gelang es mir nicht, an ihr vorbeizuziehen, und so fuhren wir nebeneinander in eine Kurve. Leider schien sie mit der Geschwindigkeit überfordert, driftete nach außen und ich versuchte, ihr Platz zu machen. Der Radweg war jedoch an dieser Stelle sehr sandig – vermutlich die einzige Stelle der Strecke.

Das Resultat: Ich stürzte. Knie und Ellbogen bluteten, meine Kleidung war zerrissen. Die E-Bikerin und andere Tourenfahrer waren sofort sehr bemüht und besorgt. Ich beruhigte alle und stellte klar, dass die E-Bikerin keine Schuld trug – es war meine Entscheidung, zu überholen; ich hätte besser warten und bremsen sollen.

Nachdem sich die aufgeregte Menge etwas beruhigt und verstreut hatte, entschied ich, im nächsten Café eine Pause zu machen. Ich wollte aufs Rad und stellte fest, dass mit dem Lenker etwas nicht stimmt. Die üblichen Schläge gegen die STI brachten nichts – der rechte war deutlich zu weit oben und ich realisierte, dass war kein kleiner Sturz.

2. Akt: Vernunft vs. Wille (Kilometer 60)
Ich rollte langsam weiter. Ein Café war nicht in Sicht. Sollte ich aufhören? Vernünftiger wäre es. Ein so harter Sturz, keine Ahnung, was ich mir wirklich davongezogen habe. Reizvoller ist es aber weiter zu fahren. Einfach versuchen? Dieser Zwiespalt begleitete mich auf den Weg nach Nijmegen. Ich wollte einen Radladen nutzen, um meinen Lenker zu richten. Dort stellte sich allerdings heraus, dass er gebrochen war. Wow, ein so harter Sturz? Aber wenn ich aufhören würde, müsste ich in Deventer zwei Tage rumgammeln, den die Dopbags würden erst in zwei Tagen zurück fahren.

So richtig konnte ich keine Entscheidung treffen, und so bemühte ich das Schicksal. Wenn ich einen neuen Lenker zu einem vernünftigen Preis finden, probiere ich es. Dies war jedoch nicht wirklich einfach. Ein E-Bike-Laden folgte dem anderen. Schließlich wurde mir ein Rennradladen auf der Karte gezeigt, aber auch dieser hatte keine Lenker: Er würde nur ganze Räder verkaufen. Berühert von meinem Schicksal telefonierte er jedoch engagiert und fand einen Laden, der einen Lenker hätte – allerdings ohne Mechaniker.

Ich fuhr zu ihm, ein großer TREK-Shop. Zunächst wurde mir ein 490€ Teurer Carbon-Lenker angeboten. Äh, nein. In der Werkstadt fand sich dann ein normaler Alu-Lenker für 90 Euro. Mittlerweile spürte ich meine Verletzungen stärker, besonders das Gehen fiel mir zunehmend schwer. Die Hüfte schwoll ein wenig an, am Rücken machte sich mindestens eine Prellung bemerkbar. Aber in Ruhe konnte ich alle Bewegungen ausführen – vermutlich also nix gebrochen.

Mitten im Laden begann ich nun meinen Lenker zu montieren – die Werkstadt durfte ich ja nicht nutzen. Mach viel hin- und her bekam ich dann doch einen ordendlichen Inbus (oder wie er auch immer korrekt heißt). Das Montieren viel aber schwer, insbesondere das wickeln des Lenkerbands führte zu erheblichen Schmerzen.

Vier Stunden nach dem Sturz war das Rad wieder gerichtet, mein Blick auf den Zeitplan zeigte: Kein Polster, sondern drei Stunden hinter her. Egal – ich beschloss, es einfach zu versuchen und zu sehen, wie weit ich kommen würde. Zur Not gab es schließlich immer noch Züge, die mich zurückbringen konnten.

3. Akt: Hart am Wind, das Zeitlimit im Nacken (Kilometer 60-480)
Eines vorweg: Ich bin nicht der Schnellste. Unter optimalen Bedingungen wäre vielleicht eine Gesamtzeit von 86 Stunden möglich. Doch nun, mit all den Verzögerungen und Hindernissen, begann ich wild zu rechnen. Unterwegs traf ich auf eine „unangekündigte Kontrolle“, die mich überraschend aufmunterte. Die hilfsbereiten Leute vor Ort versorgten mich mit aufbauenden Worten, wiesen mich darauf hin, dass meine Trikotaschen kaum noch existierten (ich solle da besser nix reinstecken) und steckten mir eine Cola zu. Ich sei auch nicht der letzte, irgendwie eine motivierende Information. Mit neuer Energie fuhr ich weiter.

Doch meine Berechnungen ließen nichts Gutes erahnen: Es würde knapp werden, sehr knapp. Zeit für Schlaf würde kaum bleiben. Mein neuer Plan: die erste Nacht komplett durchzufahren und dann am Morgen zu sehen, wo ich lande. Trotz dieses Vorhabens ließ mich der Stress mit dem Zeitlimit und die Frage, ob es nicht doch vernünftiger wäre, aufzuhören, nicht los.

Als ich gegen 22:00 Uhr Köln erreichte (ca. 200 km), schloss ich zu einem anderen Fahrer auf – ein Moment, der mich sehr motivierte. Wer weiß, vielleicht hätte ich ohne diesen Kontakt tatsächlich in Köln aufgegeben, ich stand sehr dicht davor. Nach einem schnellen Imbiss und einer Grundversorgung an einer Tankstelle ging es in die Nacht.

Die Veranstalter hatten nach Köln angenehmen und gut zu fahrenden Anstiegen gewählt. Immer wieder sah ich Mitfahrer:innen am Straßenrand schlafen, doch ich rollte unbeirrt durch die warme Nacht. Schließlich erreichte ich zum Sonnenaufgang die Tankstelle in Kreuztal (ca. 340 km). Meine körperliche Verfassung war mittlerweile eindeutig: Auf dem Rad fühlte ich mich halbwegs gut, aber Absteigen und Gehen fielen mir zunehmend schwerer. Entsprechend irritiert schaute der Tankwirt: „Wirklich alles gut?“.

Ich gönnte mir eine längere Pause, wechselte meine Kleidung – ein für mich sehr hilfreiches Ritual, um Wundscheuern vorzubeugen– und machte mich wieder auf den Weg, denn Müdigkeit war weiterhin kein Thema.

Der Weg führte nun lange Zeit an der Eder entlang, einer Bundesstraße, die leider alles andere als angenehm zu fahren war. Es war einer der wenigen Momente, in denen ich die Streckenwahl nicht sonderlich gelungen fand. Aus reiner Vernunft legte ich am Edersee eine Pause ein. Über 30 Stunden ohne Schlaff, ne, dass geht nicht. Jetzt einfach mal hinlegen. Ich nickte 20 Minuten weg und war wieder hellwach. Ein wenig nach rechts und links rollen, nein ich war wach und das hin- und herrollen tat richtig weh.

Doch dann passierte das nächste Missgeschick: Beim Beladen des Rads – oder irgendwann dazwischen – muss ich auf den falschen Knopf meines Garmin gedrückt haben. Plötzlich meldete es sich mit der Nachricht, dass es kein GPS-Signal mehr empfange. Ich klickte verzweifelt hin und her, startete es neu, hielt es gen Himmel und schimpfte. Nichts half! Eine verzweifelte Googleanfrage brachte Hilfe: In Profileinstellungen kann GPS ausgestellt werden und offenbar hatte ich ein Profil aktiviert, in dem dies der Fall war. Hallo Garmin, wozu soll den diese Funktion gut sein? Ein Navi, dass nicht weiß wo es ist?

Nachdem ich das Problem behoben hatte, wussten mein Garmin und ich wieder, wo wir waren. Die Reise konnte weitergehen. Am frühen Nachmittag erreichte ich Fritzlar (ca. 480 km). Lief ok, also einfach weiterfahren.

4. Akt: Schlafmanagement und soziales Pflichtgefühl (Kilometer 480 – 660)
Die Route führte mich nun an die Fulda, südlich von Kassel; vertrautes Revier. Mit kräftigem Rückenwind flog ich über den Fulda-Radweg und erreichte Hann. Münden (ca. 540 km) am frühen Abend. Die Frage war nun: Wie weiter? Eine zweite Nacht ohne Schlaf? Das klang wenig vernünftig. Ein Hotel in Hann. Münden und dann nachts weiterfahren? Klingt klug, aber das günstigste Hotel kostete über 160 Euro. Da ich eine Isomatte und Schlafsack dabei hatte, entschied ich weiter zu fahren. Wenn ich müde werde, könnte ich mich ja immer noch irgendwo hinlegen. Zudem war der nächste Kontrollpunkt besetzt und bot Betten an – eine gute Option. Auf die WetterApp hatte ich allerdings nicht geschaut – warum auch, es war ja Super das Wetter.

Kurz nach Hann. Münden schloss ich zu einem Mitfahrer auf, dessen Navi nicht mehr funktionierte. Wir vermuteten, dass es die Batterie war, und ich bot an, dass wir erstmal gemeinsam weiterfahren könnten, damit er sein Gerät in Ruhe laden konnte. Kurz darauf begann es heftig zu regnen. Die Strecke führte von der Weser weg Richtung Göttingen – wer die Gegend kennt weiß, da ist nicht viel. Der Regen wurde kräftiger und ich schaute in der Wetter-App nach: Regen bis 3:00 Uhr morgens bei gleichbleibender Intensität.

Also Regenhose und Regenjacke raus. Wasserdichte Cap und wetterfeste Handschuhe an. Das Navi meines Mitfahrers gab endgültig den Geist auf – vermutlich durch nasse Kontakte – und er war nur mit einer Regenjacke unterwegs. Die Temperaturen sanken spürbar und er begann heftig zu frieren. Ein weiterer Mitfahrer gesellte sich zu uns. Ihm ging es nicht besser.

Unsere Route sollte nach Nörten-Hardenberg über den Harz führen. Ich fand dies für die beiden keine gute Idee. Bei gutem Wetter eine traumhafte Strecke, aber jetzt? Ohne Regenhose, ohne Handschuh, ohne Cap? Dort oben wird es sicher 4-5 Grad kälter sein, zudem ist die Abfahrt nach Lengelsheim knapp 30km lang. Und als wäre das nicht genug, würden wir mitten in die Auflösung des Sonntagsfahrverbots für LKWs geraten, da wir nicht vor 23:00 Uhr oben sein würden.

Ich berichtete von meiner Streckenkenntnis, die beiden blieben jedoch bei Ihrem Plan bis (Burg)Lutter zu fahren. Dort wäre schließlich um 10:00 Uhr Kontrollschluss. Ich versuchte, die Idee eines Hotels ins Spiel zu bringen, keinen Erfolg. Vielleicht war ich zu diplomatisch, aber wer bin ich, anderen in ihr Brevet reinzureden? Doch gleichzeitig ärgerte mich mein eigener Ehrgeiz. Mit diesen beiden war ich deutlich langsamer unterwegs. Hätte ich alleine weitergemacht, wäre ich sicher gegen 1:00 Uhr in (Burg)Lutter gewesen und hätte 5-6 Stunden Schlaf gehabt. Aber war es sozial akzeptabel, sich zu verabschieden, wenn mindestens einer in der Gruppe friert und erschöpft war?

Ich schrieb dem Veranstalter eine SMS, ob wir bei diesem Wetter eine alternative Route „untenrum“ fahren dürften. Ich kannte den Weg und könnte die beiden sicher nach (Burg)Lutter führen. Zunächst gab es keine klare Antwort, und so schlug ich vor, erstmal nach Nörten-Hardenberg zu fahren – dort ist ein 24h-Rasthof. Auf dem Weg dahin verabschiedete sich der hinzugekommene und eine Stunde später erreichten wir das Zwischenziel.

Der Veranstalter hatte inzwischen die Freigabe für die alternative Route erklärt, es regnete aber weiterhin wie aus Eimern. Mein Mitstreiter gab deutlich zu erkennen, dass er weiterfahren wird, meine Sorgen wurden dadurch nicht geringer. Ich improvisierte aus meiner Rettungsdecke Wärmesocken und Einlagen für die Beinlinge. Und so setzten wir den Weg über Northeim und Seesen fort. Ich kenne die Gegend ganz gut. Das gab Sicherheit. Aber wie lange würden wir brauchen? Das Tempo nahm Stunde für Stunde ab und neben der Kälte machte sich auch die Müdigkeit bei meinem Mitfahrer bemerkbar. Ich versuchte, ihn zu motivieren, teilte meine Handschuhe und Cap mit ihm, gab ihm Süßigkeiten, quatschte ihn voll, sang. Doch am Ende krochen wir mit 7 km/h durch die Landschaft.

Irgendwann um 5:00 Uhr morgens erreichten wir schließlich den Kontrollpunkt in (Burg)Lutter (ca. 660 km). Erschöpft und innerlich unsortiert, ob ich nun wegen mir, meinem Mitfahrer, dem Wetter oder der Weltlage grummelte, fokussierte ich mich auf das Wesentliche: eine heiße Dusche und endlich Schlaf.

5. Akt: Business as usual - es läuft wie es soll (Kilometer 660 - 900)
Nach 3,5 Stunden Schlaf stand ich wieder auf, bereit, mich auf den Weg zu machen. Das Wetter war wieder perfekt, und mein Rad lief wie geschmiert. Hildesheim (700 km) war schnell erreicht. Der Weg nach Hannover war mir vertraut und ließ sich zügig bewältigen – auch wenn die vielen Ampeln ziemlich nervten. Gegen 13:00 Uhr machte ich schließlich vor der Uni Hannover (740 km) meine nächste längere Pause.

Als ich hier mein Garmin prüfte, stellte ich genervt fest, dass die Teilstrecke nach Bremen nicht geladen war. (Ich teile den Track immer in einzelne Etappen).Noch ärgerlicher: Garmin weigerte sich hartnäckig, sich mit meinem Handy zu verbinden, sodass ich den Track nicht nachladen konnte (Anmerkung: Die Aufzeichnung war beendet, es muss also ein anderer Fehler gewesen sein). Trotz mehrerer Versuche brachte ich es nicht zum Laufen. Mein Frust stieg weiter, als der Gesamttrack, den ich als Backup auf dem Garmin hatte, das Gerät zum Absturz brachte. Nach einer Stunde erfolglosen Herumprobierens entschied ich mich mit meinem Handy zu navigieren. Im Grunde war mir der Weg nach Bremen ja bekannt: über die Hauptstraße zum Flughafen, dann nach Mandelsloh, von dort über Rethem nach Verden. Wieso hatte ich also eine Stunde lang gefummelt, ich kenne die Gegend doch! Selbstvorwürfe helfen aber nicht weiter, also wieder Fokus bilden und weiter fahren.

Im Großen und Ganzen lief es gut und das Wetter war super. Es reichte hin und wieder aufs Handy zu schauen, um sich zu vergewissern, dass man auf dem richtigen Weg unterwegs war Nur den Umweg über Steimke hatte ich verpasst. Als Einheimischer weiß man, dass die Strecke über Neudorf geht – wer kann den mit Steimke rechnen?. Es lief flüssig und es zeichnete sich ab, dass ich zwischen 20 und 21 Uhr in Bremen sein würde. Zeit also, über das Schlafmanagement nachzudenken.

Klar war, dass ich spätestens in der übernächsten Nacht um 3:00 Uhr im Ziel sein musste. Es machte also keinen Sinn die übernächste Nacht zu schlafen. Wenn, dann in dieser Nacht. Doch wo? Bremen? Oldenburg? Oder irgendwo dazwischen? Biwak oder Hotel?

Von Bremen wären es noch gut 400 km. Ausgeschlafen sollte das in 24 Stunden machbar sein. Ich müsste also um 3:00 Uhr in Bremen los. Nach kurzer Hotelrecherche entschied ich mich für eine Unterkunft kurz vor Bremen, den Nachts würde ich zügiger Durch Bremen kommen.

Gegen 19:30 Uhr erreichte ich das Hotel. Der Wirt war sichtlich irritiert, dass ich weder am Frühstück noch an den Restaurants der Gegend interessiert war – ich wollte nur so schnell wie möglich ins Bett. Um 20:00 Uhr lag ich frisch geduscht unter der Decke und genoss einen wirklich erholsamen Schlaf. Um 1:00 Uhr wachte ich von selbst auf und freute mich über meinen Plan, Bremen (850 km) bei Nacht klappt super.

Noch vor Morgengrauen erreichte ich Oldenburg (900 km) und seine 24-Stunden-Tankstelle. Dort traf ich einen anderen Mitfahrer, und wir gönnten uns ein ausgiebiges Frühstück. Mit frischer Energie ging es weiter Richtung Leer. Keine 300 km mehr und über 20 Stunden Zeit – das Ziel war greifbar!

6. Akt: Wind, Regen und eine Lektion zum Kopfkino (Kilometer 900 - 1215)
Der Wind wurde zunehmend stärker und kam direkt von vorn. Kein Problem, als Norddeutscher bin ich das gewohnt. Die Sonne schien weiterhin, und dank der ausgiebigen Hotelübernachtung fühlte ich mich fit.

In Leer (960 km), legte ich eine gemütliche Café-Pause ein. Dabei warf ich dann doch mal einen Blick auf die Wettervorhersage. Oh ha. Der Wind würde bis zum Ziel von vorn kommen, weiter zunehmen und ab Groningen gab es kräftigen Regen dazu. Gut, nun weiß ich was da kommt, ändern tut es aber nix. Mit guter Musik auf den Ohren ging es fröhlich weiter. Auf den niederländischen Radwegen staunte ich über die vielen innovativen, teils kuriosen, formen der Streckengestaltung. Bei einigen erschloss sich mir der Sinn nicht wirklich. Manche waren sehr irritieren. Es gab z.B. eine Kreuzung, in der alle Radfahrer für alle Richtungen gleichzeitig grün hatten und alle Autos stehen blieben. Ok, muss man erstmal verstehen – ich brauchte zwei Grünphasen.

Am frühen Nachmittag kam ich in Groningen (ca. 1040 km) an und gönnte mir ein ausgiebiges, wirklich hervorragendes Essen. Kaum wieder auf dem Rad, traf ich auf den Mitfahrer, den ich nach (Burg) Lutter begleitet hatte. Es ging ihm gut und er fuhr zusammen mit einem weiteren Randonneur in ruhigem Tempo in Richtung Zwolle. Obwohl ich normalerweise lieber allein fahre, schien mir die Gesellschaft bei diesem heftigen Gegenwind eine gute Idee.

Kurze Zeit später setzte der erwartete Starkregen ein. Mein Mitstreiter wurde merklich langsamer und begann erneut zu frieren. Ich fuhr also von vorn und passte mein Tempo an. Innerlich rechnete ich. Spätestens in Zwolle (ca. 80 km vor dem Ziel) die Gruppe verlassen und mein Tempo erhöhen, wenn ich noch im Zeitlimit ankommen möchte. Doch erneut plagte mich das schlechte Gewissen: Kann man so etwas machen? Mitten in der Nacht, im strömenden Regen jemanden zurücklassen? Was, wenn es ihm wieder schlechter geht?

Als er mich bat, aus einer Rettungsfolie erneut improvisierte Socken und Beinwärmer zu basteln, wurde mir klar, wie ernst es ihm war. Wir machten Halt in einer urigen Bar, deren Besitzer wohl überrascht waren, Radfahrer bei diesem Unwetter zu sehen. Trotz des Chaos, das wir mit unseren nassen Klamotten verursachten, wurden wir freundlich aufgenommen. Pommes und Kaffee taten ihr Übriges, um die Stimmung zu heben.

Schließlich wagte ich es, das Thema anzusprechen. Spätestens in Zwolle müsse ich schneller fahren, damit ich noch das Zeitlimit erreiche. Meine beiden Mitfahrer schauten mich etwas irritiert an. Klar, und was ist die Frage? Schon doof, wenn man sich mit seinem eigenen Kopfkino rumplagt.

Wir setzten unseren Weg fort, das Tempo blieb wie es war. 115km vor dem Ziel errechnete ich einen notwendigen Schnitt von 22 km/h fürs Zeitlimit. Ich entschied mich aber noch nicht los zu fahren, 115 war keine schöne Zahl. 99 Kilometer vor dem Ziel war dann der Moment gekommen. Ein Mitfahrer entschied, es mit mir zu versuchen, während der andere, mit Rettungsdeckensocken und meiner Mütze in Ruhe bis Zwolle fahren würde, um dort mit dem Zug weiter zu reisen.

Nun musste ich einen knapper 24er-Schnitt her. Bis Zwolle funktionierte dies gut, trotz des unglaublichen Regens. In Zwolle verabschiedete sich dann schließlich auch der zweite Mitfahrer. Er sei vollkommen Durchnässt und durchgefroren. Der Zug wäre nun sein weg.

Ich fuhr alleine weiter und war wieder in meinem Element: Gute Musik, kein Verkehr und eine Fahrt durch die Nacht. Wunderbar! Meine Regenhose und -jacke taten, was sie sollten. Die Kontrollpunkte in Kampen und Elburg waren schnell abgehakt. Auf den letzten 50 Kilometern gab ich noch einmal alles. Wie immer versuchte ich, den letzten Abschnitt so schnell wie möglich zu bewältigen. Am Ende erreichte ich einen Schnitt von 30 km/h und konnte mir noch einen Zeitpuffer herausfahren.

Überglücklich erreichte ich kurz vor 3:00 Uhr das Ziel und wurde dort von den Mitgliedern des niederländischen Clubs herzlich empfangen. Ein grandioser Abschluss einer Tour, die viel in meinem Kopf bewegt hat.

Was bleibt?
Es ist immer wieder erstaunlich, wozu mein doch schon älterer Körper in der Lage ist. Dabei vergleiche ich mich nicht mit den beeindruckenden Leistungen anderer, sondern mit meinem Alltagserleben. Auch zwei Wochen nach der Tour Jammer ich über meine Verletzungen. Auf der Tour war es objektiv doller, aber Gefühl eben nicht. Den Fokus, den ich während der Tour entwickeln konnte habe ich in meinem Berufsalltag nicht. Zu schnell lenken Kleinigkeiten wie Kollegen oder der nächste Kaffee ab. Schnell gebe ich mich mit einem Kompromiss zu frieden. Sieben Stunden Schlaf in vier Tagen? Im Alltag undenkbar – ich schlafe jede Nacht mehr und könnte morgens trotzdem liegen bleiben.

Ich liebe solche Erlebnisse als Kontrastprogramm zu meinem sonstigen Leben. Sie zeigen mir, was alles möglich wäre – aber nur weil man etwas kann, muss man es ja nicht immer tun. Es ist aber gut zu wissen, dass es gehen würde. Eine weitere Erkenntnis dieser Tour: Ich könnte besser mit den Bildern im Kopf umgehen. Nicht alle Probleme, die ich zu sehen glaube, existieren wirklich.

Was mir jedoch am meisten in Erinnerung bleibt, sind die Veranstalter! Es ist unglaublich, mit wie viel Liebe sie dieses Brevet organisiert haben. Eine herzliche Begrüßung am Vorabend, ein gemütlicher Start mit Kaffee und Kuchen, eine unerwartet besetzte Kontrollstation, die Mut zuspricht, und fantastische Menschen in (Burg)Lutter, die mitten in der Nacht Nudeln kochen und Betten zuweisen. Anders als bei vielen anderen Brevets kommst du hier nicht allein ins Ziel – selbst mitten in der Nacht warten dort Menschen auf dich.

Im Vergleich zu PBP ist dieses Brevet deutlich einsamer. Die Begegnungen mit anderen Fahrern beschränken sich auf wenige, flüchtige Momente. Dies ist eine eigene Form von Herausforderung. Vielleicht vielen mir die besetzten Kontrollpunkte deshalb so auf. Ob und wann die Hanze 6-9-6 noch einmal ausgetragen wird, weiß ich nicht. Aber ich kann sie jedem ans Herz legen, der Höhenmeter scheut und sich intensiver mit sich selbst auseinandersetzen möchte.
Schöner Bericht. Und ich wünsche dir gute Besserung
 
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