Kassel hatte dazu ein interessantes Modellprojekt Ende der 90er Jahre, wo ein ganzer Stadtteil auf seinem mittelalterlichen Grundriss neu gebaut wurde.
Das Original, damals eher ein Ghetto, fiel dem letzten Krieg fast komplett zum Opfer; anschließend war dort jahrzehntelang stellenweise gar nichts, bzw. Schotter und Wiese, ab und zu für Veranstaltungen genutzt.
Die Planung wirkte auf den ersten Blick reizvoll:
Der Stadtteil sollte einen deutlichen Anreiz zum Auto-Verzicht bieten, stellenweise sollten überhaupt keine Autos geduldet werden und garnicht erst am Straßenrand stehen können.
Kein Architekt durfte dort mehr als zwei Gebäude planen, um Einheitlichkeit zu vermeiden.
Der Stadtteil sollte auch sozial gut durchmischt bewohnt werden, z.B. vor allem auch von radelnden Studenten.
Herausgekommen ist dabei ein Architekten-Wettstreit aus dem Bilderbuch mit irren Kosten und Mieten, aber wenig Platz für normale Leute. Die Bausubstanz war mancherorts schon nach wenigen Jahren erstaunlich schlecht.
Der "mittelalterliche Grundriss" wurde an vielen Stellen unverändert übernommen mit der Folge, dass dort zwar wirklich keine Autos parken können, aber dummerweise auch keine Einsatzfahrzeuge der Feuerwehr hinkommen. An mehreren Stellen haben moderne Rettungswagen bereits Probleme.
Die typische Zielgruppe der Bauherren, Käufer und späteren Bewohner ließ sich keineswegs zum Autoverzicht überreden und griff schon in der Planungsphase zu gemeinen Tricks wie Tiefgaragen und gestapelten Parkplätzen mit Aufzugsystemen.
Der tolle, moderne, radfreundliche Stadtteil voller wegweisendem Niedrigenergie-Hastenichgesehn wurde schnell zu einer Art Ghetto für Reiche und Lifestyler; die absurde bis lächerliche Verkehrsführung im Viertel und drumherum ist ausgerechnet für Radfahrer gefährlich (wenn auch nicht nur für diese) und führt aus guten Gründen zu einem spürbar erhöhten Aggressionspotential bei Verkehrsteilnehmern aller Art. Das wurde im Lauf der Jahre leider schlimmer, statt besser.
Ich meide diesen Stadtteil mittlerweile weitgehend, bin aber jahrelang auf dem Arbeitsweg mit dem Rad durchgefahren. Einmal morgens, einmal abends, nur ein paar Minuten jeweils. Das hat auch wirklich gereicht.
Als Student habe ich da gern auf der Wiese gesessen und gezeichnet. Oder, als Schüler noch, mit Gleichgesinnten auf den Schotterplätzen rumgehangen und gesoffen. Wenigstens.
Nordhessen im Allgemeinen und Kassel im Besonderen stechen schon seit dem Wiederaufbau wirklich heraus, wo immer es um (angeblich) moderne Verkehrsführung, Zukunftsvisionen und Modellprojekte geht.
Das prägt, das hat mich ausgesprochen skeptisch gemacht, wann immer ich derartiges anderswo höre oder lese.
Vielleicht zu Unrecht, vielleicht auch nicht.