Der Plan war früh ins Bett zu gehen, weil wir den frühen Start für die 135km Runde erwischen wollen. Als wir beim Frühstück gefragt werden, welche Runde wir am Sonntag fahren werden, damit das Hotel weiß wieviele Frühstückspakete sie früh morgens bereitstellen müssen (die waren echt auf Zack), kann ich meinen großen Bruder nur mit Mühe davon abhalten, es den Dänen nachzutun und für alle vernehmlich “twohundredandnine” heraus zu posaunen. Also es bleibt bei einhunderfünfunddreißig Kilometern mit knapp zweitausend Höhenmetern. Mein durchtrainierter Bruder freut sich drauf, ich, der ich zwar täglich zur Arbeit radle, aber ansonsten eher Touren höchstens halber Länge mit einem Viertel der Höhenmeter mache und danach in der Regel platt bin, habe Angst. Letztes Jahr war ich irgendwie fitter, hatte aber nach 25km das Schaltwerk bei rasanter Abfahrt und dem Versuch rechtzeitig für die folgende Steigung runter zu schalten, voll in die Speichen gehauen und mich so vor der 135er-Erfahrung gedrückt. An die 75km vor drei Jahren konnte ich mich noch schwach erinnern und die Erinnerung flüstert leise (“war fies,… war steil”).
Jedenfalls wird der Plan früh zu schlafen von einer Flasche Benromach und der englischen Gruppe vereitelt, mit denen wir uns festquatschen und wieder einmal feststellen, dass die meisten Fans alter Eisen rund um den Globus tolle, humorvolle Menschen sind. Briten sind höflich. Ihre VW-Frotzeleien halten sich in Grenzen.
Sonntag - Der Tag
Wecker 5:15. Stockdunkel und leichter Nieselregen, der aber aufhört, während wir die bereitgestellten Frühstückspakete vertilgen. Fünf Kilometer leichte, schnelle Abfahrt nach Gaiole. Zum Glück habe ich eine ordentliche LED Lampe am Lenker, nur mit so einer Knog “Nichts-sehen-nur-gesehen-werden-Funzel” wie mein Bruder sie hat, wäre das ungemütlich geworden. Kurz vor Gaiole kommen uns schon haufenweise frühere Starter entgegen und am Start ist es dann doch etwas voller als gedacht, aber dann sind wir auf der Strecke.
Wie immer ist der Anstieg zur Burg Brolio durch die Allee mit Fackeln rechts und links, während sich langsam am Horizont der Himmel rötlich färbt, ein unvergessliches Erlebnis, auch jetzt bei bedecktem Himmel. Mein Bruder, der mir hoch und heilig versprochen hat, auch bei den langen Steigungen bei mir zu bleiben, wird das Opfer einer perfiden Technik der anderen Teilnehmer. Immer wenn uns eine schnellere Gruppe überholt, wird er von einem unsichtbaren Gummiband, das die Schnelleren nach ihm auswerfen, hinter ihnen hergezogen, so dass er zeitgleich mit ihnen den nächsten Gipfel erreicht. Aber dort wartet er wenigstens auf mich. Die Abfahrten auf den Schotterstrecken gehen besser als erwartet. Durch das feuchte Wetter der letzten Tage und den trockenen Samstag ist die Oberfläche fest und trocken, aber kein bisschen staubig. Die Mafacs mit neuen Koolstop Belägen
bremsen wunderbar und die 26mm der Grand Bois
Reifen, die ich -ehrlich gesagt aus rein optischen Gründen- den breiteren Challenge
Reifen vorgezogen habe, sind völlig ausreichend breit. Auffallend ist die große Zahl von Pannenopfern am Straßenrand. Gefühlt steht alle paar Meter jemand am Weg und wechselt
Reifen oder fummelt an der Schaltung herum. An einer Stelle überholen wir einen Schiebenden, der kurz zuvor noch vor uns fuhr und dessen Kette plötzlich verschwunden ist, komplett weg. Ein Meilenstein ist die Stelle meiner letztjährigen “Heldentat". Diesmal schnurre ich die 14% ohne Probleme runter – ich liebe dieses Rad.
Die erste Verpflegungspause ist wie gewohnt perfekt organisiert, gut bestückt mit dem typischen Eroica Angebot (z.B. in Rotwein getränktes und mit Zucker bestreutes Weißbrot, aber auch Obst, Kuchen und Schinkenbrote) und wird von gut gelaunten Freiwilligen bedient, die mit sichtbarem Spaß bei der Sache sind. Alles prima, wir sind voll im Eroica Feeling. Jetzt muss nur noch das Wetter halten.
Tut es aber nicht.
So gar nicht.
Es fängt erst leicht an zu regnen, dann zu Regnen, REgnen, REGNEN. Zum Glück habe ich mir noch auf der Hinfahrt eine dünne Regenjacke gekauft. Leider der klassischen Optik wegen extra eine altmodische, nicht atmungsaktive aus dünnem gelben Plastik. Leider, weil kalt ist es nicht. Und so dampfe ich, langsam durch eigene Säfte von innen vollkommen durchnässt, die Hügel im strömenden Regen rauf und runter. Es folgt ein Wechselbad von trockenen Passagen, bei denen sogar der Himmel aufreißt und phantastische Ausblicke erlaubt und heftigen Regenschauern. Und die Schotterpisten sind leider nicht mehr fest und trocken und gut fahrbar, sondern werden langsam matschig. Aber noch komme ich auch die steileren Steigungen fahrend rauf und muss nicht absteigen. An solch einer Stelle flitzt der fast 20 Jahre ältere Klaus Peter Thaler in einer Geschwindigkeit an mir vorbei, dass ich denke, ich rolle gerade rückwärts den Berg hinunter. Auch er kann diesen Gummibandtrick mit meinem Bruder. Aber es reißt doch recht schnell.
Auf dem Weg zur Kontrollstelle in einem Kloster auf einem Hügel, in der als Mönche verkleidete Einheimische uns begrüßen, ist’s dann aber mit dem Fahren vorbei. Es wird so steil und matschig, dass nichts mehr geht. Noch schlimmer ist die Abfahrt über einen Weg, der bei Trockenheit als ausgetrocknetes Bachbett bezeichnet werden könnte und einen schönen, anspruchsvollen Singletrail fürs vollgefederte MTB darstellen würde. Aber es ist nicht trocken. Es ist kein Bachbett, es ist ein Schlammbach und ich sitze nicht auf einem MTB sondern einem 40 Jahre alten Rennrad mit viel zu dünnen
Reifen, die teilweise samt Felge im glitschigen Schlamm verschwinden. Ich beginne am Sinn der Veranstaltung zu zweifeln.
@Bianchi-Hilde hat recht, die Jungs hier übertreiben es mit den Schotterpisten. So hat man das auch früher nicht gemacht. Ein paar Kilometer gut fahrbare Strade Bianche sind ja in Ordnung, der Historie und des Lokalkolorits wegen. Aber über Wege DIESES KALIBERS hat auch in den 30er oder 50er Jahren niemals jemand ein Radrennen fahren lassen. Niemals. Das ist nämlich Ganz. Große. KACKE. Geht nicht. Voll daneben. Und dann auch noch diese unseligen viel zu steilen Steigungen auf unbefestigter Strecke. Das Ziel nicht abzusteigen, fiel schon vorher. Aber nun latschen wir alle nur noch den Matsch rauf und es will kein Ende nehmen. Meine Füße tun weh. Ich habe keine Lust mehr. Und ich tue dieses kund. Meine leise gemurmelten Beschimpfungen der Organisatoren und -wegen meiner Jammerei vorausgefahrener- Familienmitglieder werden langsam lauter. Nie wieder mach' ich diesen Scheiß mit.
Plötzlich wieder fester Asphalt, es geht leicht bergab, noch regnet es, aber nicht mehr so schlimm und es läuft…Kurve an Kurve… Ha, doch gar nicht so schlecht, wen stören schon so ein paar Regentropfen. Mädchen und Weicheier!
Leider surren unsere Räder nicht mehr, sie schreien krachend, ratternd mit kreischender Kette nach einem Bad und einem Tröpfchen Öl. Das silberne Peugeot und dunkelblaue Gios sind unter einer Schlammschicht verschwunden und kaum noch auseinanderzuhalten. Wir fahren extra mit Schwung durch tiefe Pfützen, um so die Räder etwas “abzuwaschen”. Ich halte an und opfere das komplette Wasser in der Trinkflasche, um das Schaltwerk und die Ritzel wenigstens etwas vom Schlamm zu befreien. Wie Kara Ben Nemsi in der Wüste: Erst das Pferd, dann der Reiter. Und es hilft. Mein geliebtes PY leidet nicht mehr ganz so laut.
Ich habe Durst. Und Hunger. Ich hatte mich extra bei den ersten Verpflegungsstationen zurückgehalten, um nicht mit vollem Bauch vom Rad zu fallen. Ziemlich blöd, wenn man bedenkt, dass ich seit der letzten Station bestimmt eine Million Kalorien verbraucht habe. Mindestens. Ich bin gerade bereit, einen offensichtlich vor langer Zeit plattgefahrenen und im Regen wieder aufgeweichten Frosch von der Straße zu klauben und zu verschlingen, da kommt die letzte Verpflegungsstation und wir entscheiden uns doch lieber für toskanischen heißen Eintopf. Phantastisch!
Es geht weiter. Regnet es? Ich merke es gar nicht. Es geht wieder bergauf aber ich bin warm und es läuft. Auf einer Bergkuppe begrüßt uns ein Schotte im tiefsten Akzent mit “Wait, there’s more to suffer” und zeigt in die Ferne, wo weit voraus eine bunte Perlenkette von Radfahrern langsam eine lange Steigung erklimmt, aber irgendwie habe ich das Gefühl, das Schlimmste ist vorbei. Und so jagt uns auch die aus dem schönen
Artikel von Don Alphonso in der FAZ bekannte Stelle, an der es nicht geradeaus nach Gaiole sondern noch einmal zur Burg Brolio hinauf geht, keinen Schrecken mehr ein. Der Gedanke zu schummeln und einfach geradeaus abzukürzen blitzt nur kurz auf. Aber könnten wir uns dann noch in die Augen sehen? Und den anderen Helden? Nichts da, rauf zur Burg. Die Steigung zieht sich noch ziemlich aber von da oben ist es eine lange, lange wunderbare Abfahrt bis Gaiole ins Ziel, wo zur gleichen Zeit die ersten Bewältiger der 209km einfahren und von Kameras umringt werden.
Hmm, Zweihundertneun? Vielleicht...
Bei bei der anschließenden Pasta-Party fällt wieder die gute Laune der Helfer auf. Auch noch dem viertausendsten Teilnehmer mit einem Augenzwinkern einen Schlag Nudeln mehr zu überreichen, zeugt von echter Begeisterung. Wir bummeln noch völlig verdreckt durch den Ort, treffen wieder den schnellen Ex- Cross-Weltmeister, der erzählt, dass er noch ein PX10 für sich sucht, weil das sein erstes richtiges Rennrad war (das wäre doch eine Aufgabe für’s Forum, dem Thaler zu einem PX10 zu verhelfen?). Auf die Frage, ob er wirklich die ganze Strecke ohne Regenjacke gefahren ist, meint er nur "Sind wir hier bei einem Radrennen oder auf einem Kindergeburtstag?". Mit Blick auf die vielen schmutzigen feiernden Jungs mit ihren Spielzeugen rund um uns herum, fällt die Antwort leicht. Kindergeburtstag. Eindeutig Kindergeburtstag.
Abends fahren wir noch ein letztes Mal zum Hotel hoch, was in der Euphorie, die Strecke geschafft zu haben, locker von der Hand geht.
Ganz habe ich es nicht geschafft nichts zu kaufen, aber ähnlich den mittelalterlichen Mönchen, die ungeborene Hasen zu Fischen erklärt haben, um sie in der Fastenzeit essen zu können, erkläre ich Schuhe, Bücher und Trinkflaschen zu Nicht-Fahrradteilen. Die Beute im einzelnen:
- Die 135km Plakette
- Endlich eine heile originale TA-Contrex Buddel für das PY. Auf allen Bildern, die Thevenet bei seinem 1975er Toursieg auf dem PY10 zeigen, ist diese Flasche zu sehen, die es angeblich nie zu kaufen gab, sondern nur bei der Tour verwendet wurde. Fragt nicht, was ich bezahlt habe! Bitte nicht.
- Das neue wunderbare Buch "Legends of Steel” von und mit fantastischen Fotos von Bengt Stiller, der dort einen kleinen Stand hatte. Und ein netter Kerl ist er auch noch.
- Endlich, endlich Detto Pietros in Größe 50 (=echte 48). NOS. Alt. Schwarz. Stark.
Epilog
Nach glatter ungestörter Rückfahrt finde ich lediglich einen einzelnen Brief auf meinem Schreibtisch vor, der während meiner Abwesenheit angekommen ist. Er ist von meiner Krankenkasse und mein "persönlicher" (nicht sehr sportlich aussehender) Berater ist darin freundlich lächelnd abgebildet, der mich zu einem Fitness-Beratungsgespräch einlädt und mir gratis einen Schrittzähler anbietet, der überprüfen soll, ob ich mich auch so viel bewege, wie er für notwendig hält. Da steht zwar nicht wortwörtlich "Bewege mal Deinen fetten Hintern etwas, damit Du uns später nicht auf der Tasche liegst" aber die Formulierung ist nah dran. Ich überlege, ob ich ihm kommentarlos das von allen Seiten durchtränkte Sitzpolster meiner Helden-Radhose schicken soll, aber die Waschmaschine läuft bereits...