An der Kreuzung selbst ist dann allerdings keinerlei bauliches oder pflanzliches oder sonstiges Hindernis, dass einen Auto- oder LKW-Fahrer daran hindern würde, einen Radfahrer mit Vorfahrt zu sehen. Wer hier jemanden "übersieht", hat von Anfang an nicht den Versuch unternommen, zu schauen.
Wenn man weiß, wie LKW beim Abbiegen "funktionieren", dann weiß man auch, dass der Fahrer trotz 'nem halben Duzend Spiegel und größtem Willen, etwas sehen zu wollen, trotzdem ca. 90% des Abbiegevorgangs rechts blind ist. Nämlich ab dem Moment, wenn das Fahrzeug nur leicht aus der vollständigen "Geradeaus-Position" eingeschwenkt ist. Da die Spiegel mitschwenken, verschiebt sich deren Blickfeld weg von der Straßenseite hin zur Straßenmitte. Bei
Sattel- oder Anhängerzügen sieht man dann bis zum wieder völligen geradeziehen des Zuges nach dem Abbiegen nur seine eigene Sattelauflieger- / Anhängerplane - mehr nicht.
Wenn man weiß, dass ein LKW-Fahrer beim Abbiegen noch ein gutes Duzend weiterer Ecken und Situationen rund ums Fahrzeug mit beobachten muss (je enger die Straßensituation, desto mehr), weiß man auch, dass er nicht ausschließlich in den rechten Spiegel zur Radfahrerbeobachtung sehen kann. "Ich habe den Radfahrer nicht gesehen" ist daher in aller Regel keine Ausrede des Fahrers- sondern lediglich eine sachliche Beschreibung des Moments.
Wenn man auch weiß, dass bei modernen PKW der Schulterblick meist nichts mehr bringt, weil der Fahrer nach rechts hinten nur Kopfstützen, dicke Airbag-Verkleidungen, breite B- und C-Dachsäulen -als Karosserie-Designelemente- sieht, verlässt man sich ebenfalls nicht "blind" auf sein "Vorfahrtsrecht". Auch hier gilt, dass im Moment des Schulterblicks tatsächlich kein Radfahrer zu sehen sein muß - und auch hier gilt, dass ein PKW-Fahrer beim Abbiegen nicht nur nach hinten über die Schulter blickt, er muß auch noch ein paar andere Ecken im Fahrweg beobachten.
Wenn man dann täglich sieht, wie sich Radfahrer mit völliger Dösbaddeligkeit, Dummheit, Unwissenheit, blindem Ich-habe-ja-Vorfahrt-Glauben, etc. mutig vor abbiegende LKW / PKW werfen, ist es ein Wunder, dass nicht mehr passiert.
Radfahren ist Teilnahme am Straßenverkehr. Da bin ich nicht alleine. Also muss ich mich als Radfahrer auch mit dem "Funktionieren" des Straßenverkehrs und den "Problemen" der anderen Verkehrsteilnehmer und den Gefahren, die sich daraus in verschiedensten Verkehrssituationen ergeben können, auseinandersetzen. Der § 1 StVO gilt nicht nur für KFZ-Fahrer gegenüber Radfahreren - er gilt in erster Linie als Radfahrer gegenüber mir selbst. Wenn ich das nicht kann oder will, muss ich die Folgen auch akzeptieren.
In dem Maße, wie den KFZ-Lenkern unterstellt wird, sie würden sich nicht um Radfahrer scheren, muß man den Radfahrern unterstellen, sich um die Gefahren nicht zu scheren. Ich bin ja der gute, schützenswerte Radfahrer - mir darf keiner was, ist die falsche Einstellung.
Ich breche mir keinen Zacken aus der Krone, wenn ich in unklaren Situationen zurückstecke und den Druck vom Pedal nehme - danach kann ich ja wieder bolzen.
Matze