Neulich brauste ich auf den ersten 5 km meiner Feierabendrunde mit 35km/h noch innerhalb des Städtchens an einer kleinen Tankstelle vorbei. Ich freute mich, dass ich am Beginn der Ausfahrt war und folglich noch brausen konnte. Denn ab der Hälfte oder spätestens zwei Dritteln meiner Ausfahrten, bei denen mehr als ein knapper 27er-Schnitt vorläufig noch unerreichbar ist, ist mir dies meistens nicht mehr möglich. Etwaige Geschwindigkeitsräusche auf der Geraden gehen also nur in den ersten 10-15 Minuten.
Während ich also genussvoll brause, sehe ich im rechten Augenwinkel auf dem Tankstellengelände einen sonnengedörrten älteren Verkehrsteilnehmer mit raubvogelartigem Zeitfahrhelm auf dem Kopf und schwarzer Brille im Gesicht, gehüllt in seltsam anmutende Kunstfaser-Sportbekleidung, ungelenk Richtung Straße trampeln, mit den Armen rudern und laute Ausrufe von sich geben, deren Wortlaut sich mir wegen des gleichfalls brausenden Fahrtwindes vorläufig nicht erschließt.
Noch unsicher, ob ich mich angesprochen fühlen soll, beschließe ich anzuhalten und bremse mit innerem Bedauern ab, um meinerseits in das stark frequentierte Tankstellengelände einzufahren. Hoch erfreut darüber, dass mir die bremsenverdankte Beendigung meines Brausens unter gleichzeitigem unfallfreien Ausklicken und Absteigen gelingt, stehe ich unversehens einem auf den grillhuhnfarben gebräunten faserigen Extremitäten beeindruckend tätowierten abgemagerten offensichtlichen Triathlethen mit havarierter Cervelo-Zeitfahrmaschine gegenüber, der mich mit meinem zwar nur noch ansatzweise vorhandenen, aber immer noch sichtbaren Wohlstandsbauch und dem in meiner Begleitung befindlichen seniorengerechten langstreckenkomfortbetonten Holland-Rennrad ("mit dämpfenden Zertz-Einsätzen und gelgepolstertem
Lenkerband"
) recht unschlüssig mustert. (Die folgenden Dialogpassagen gebe ich der Exportfähigkeit halber ins Hochdeutsche übersetzt wieder...)
"Hier!" spricht er mich auf gut hessisch an; -"Hier! Super, dass du angehalten hast. Echt jetzt, super!" Ich erwidere, dass ich erfreut sei, seine Bekanntschaft zu machen und ob ich etwas helfen könne? "Tut mir ja leid, dass ich dich störe", erwidert der Senior, "- aber ich hab 'nen Platten; sach ma: Luftpumpe hast du keine?!" Ich weise auf das bescheidene rahmenmontierte Pümpchen am Unterrohr-
Flaschenhalter hin und erkläre, dass dieses, falls es etwas nütze, gern zu seiner Verfügung stünde. "Hier! Klasse!!!", entgegnet der so Beschiedene. "Aber du wirst wahrscheinlich keine Zeit haben und versaust dir jetzt extrem den Schnitt!"
Ich erkläre, dass ich noch in einer Trainingsphase stecke, wo ein solches Versauen praktisch ohnehin unmöglich und mir eine Pause auch am Beginn der Feierabendrunde hochwillkommen sei und ich überdies für eine Live-Lektion im Schlauchwechseln dankbar wäre. "Hier, super, Klasse, machen wir gleich. Ersatzschlauch habe ich ja, aber meine
Pumpe habe ich verloren." Wie ich nach und nach erfahre, muss es den Triathleten stylingpolizeilich (vielleicht auch zur Abgrenzung von Leuten wie mir) verboten sein, mit offensichtlichen fahrradmontierten Pannenhilfsmitteln umherzufahren, so dass Leute wie er die im Pannenfall hilfreiche
Pumpe in der Trikottasche mitführen (und anscheinend bisweilen verlieren).
Mein Staunen bleibt konstant hoch: Hinter dem
Sattel (aber dafür nicht am Rahmen) hatte der wieselflink schlauchwechselnde Halbbruder im Geiste in einer entsprechenden Halterung zwei Flaschen, eine Trink- und eine Werkzeugflasche. Worauf er der letzteren
Schlauch und
Reifenheber entnimmt, in wenigen Sekunden mit wenigen perfekt sitzenden Handgriffen damit das Notwendige vollzogen hat und den nunmehr fertig montierten Ersatzschlauch gekonnt platziert und aufpumpt. Ich stehe fasziniert dabei und lerne.
Ein von der Kasse aus auf sein Auto zusteuernder Jungspund wechselt, als er unserer ansichtig wird, die Richtung, kommt auf uns zu und erklärt dem pannengeplagten Athlethen und mir mit wissender Miene:
"Ihr braucht euch hier doch nicht mit der Handpumpe so abzuzappeln! Luft gibt's doch da drüben." Dazu deutet er vage in Richtung Wasch- und Saugeboxen, wo das bekannte Schild "Luft + Wasser" prangt.
Ich bin abermals perplex ob solcher Weisheit, und zugleich von der spontanen diplomatischen Reaktion des "Hier-Super-Klasse"-Cervelo-Fahrers angesichts meiner nicht geäußerten Gedanken zu dieser gigantischen Eröffnung aus Kraftfahrermund fast ein wenig beschämt: "Ja, das ist natürlich voll Super! Wenn man kein Rennrad, sondern Autoventile hat."
Dem habe ich nichts hinzuzufügen und halte meinen Mund. Der Jungspund verleiht kopfschüttelnd seiner Verwunderung Ausdruck, dass es noch immer Fahrräder ohne Autoventile gibt, und entfernt sich mit freundlichem Abendgruß samt BMW.
Plötzlich hält neben uns im Moment der Reparaturbeendigung ein dem Havaristen sehr ähnlicher Geselle mit seiner noch beeindruckenderen Zeitfahrmaschine, und ich darf aus nächster Nähe zum ersten Mal in freier Wildbahn diese Vollcarbon-Aero-Lightwight-Laufräder im milden mittelhessischen Tankstellen-Abendsonnenschein betrachten. Ich kann vor Aufregung gar nicht sprechen!
Er bedauert, dass wir den Cervelo-Kapitän schon wieder flott haben, denn ansonsten sei die Aktion mit seiner von ihm augenblicklich vorgewiesenen Kartuschenpumpe sicher leichter zu beenden gewesen. Da er jedoch in der Nähe wohne, biete er an, den vollen Betriebsluftdruck mit seinem zuhause befindlichen Stand-Rennkompressor wieder herzustellen, wozu sich die beiden zur gemeinsamen Weiterfahrt verabreden.
Der Tankstellen-Kassenmann schaut derweil schon immer wieder etwas misstrauisch durch seine Tankshop-Scheibe auf unsere offenbar für ihn nun schon besorgniserregende Zusammenrottung. Der Cervelo-Senior schlägt daher folgerichtig gut hessisch vor: "Ei. Dann mache mir ma fix los. Der da guckt schon alsfort so blöd aus sei'm Kabuff eraus!"
Sein Aero-Lightwight-Kollege konstatiert trocken: "Der soll net alsfort blöd gucke', dem hab' ich unnerweechs schon auf x Touren sein halbe' Lade' abgekauft!"
Unter allseitigem Dank und in allseitiger Harmonie verschwinden die beiden blitzartig in einer Staubwolke. Während ich sinnierend meine Luftpumpe wieder festschnalle, sind sie schon Richtung Horizont entschwunden.
Ich selbst gelange dagegen zwar nicht mehr zum vorherigen Brausen, aber bleibe für die restlichen 40 km meiner Runde dennoch heiter, aufgeräumt und harmonisch gestimmt zurück.