Historisch-kritische Aufbauten sind ja schön und gut, wenn es sich um Räder mit historischem oder persönlichem Wert handelt. Aber wenn da in irgendwelche zusammengestoppelten Trainingsräder eine "Historie" reininterpretiert wird, finde ich es eher lächerlich. Was geht es mich an, wenn sich vor 20 Jahren der Erstbesitzer keine ordentliche Ausstattung mehr leisten konnte, weil er alles für den Rahmen verbraten hat? Oder aus dem teuer bezahlten Topmodell dann eine Stadtgurke wurde, weil der Besitzer bald mal das Interesse verlor. So oder ähnlich war es in vielen Fällen, und ich sehe nicht was da erhaltenswert dran wäre.
Mich wundert ja schon ein bißchen, dass man sich offenkundig für alte/historische Fahrräder interessieren kann, und zwar durchaus in ihrer Rolle als "historische Zeugnisse" (denn sonst wäre ja der Katalogzustand irrelevant, und man könnte z. B. einfach ein schönes Fixie draus machen ...), aber nicht für ihre tatsächliche konkrete eigene Geschichte - das ist für mich letztlich eine a-historische Sichtweise, denn gerade, wenn - wie Du schreibst - viele Leute diese Fahrräder nachträglich verändert haben, dann sagt das ja z. B. auch, dass der "Ursprungsentwurf" offenbar seine Schwächen hatte, da er den Bedürfnissen der Käufer/Nutzer nicht gerecht geworden ist (in gewisser Weise gilt das sicherlich auch für perfekt erhaltene, da ungefahrene, seinerzeitige "Zahnarzträder", die offenbar nicht einmal als Statussymbole so recht funktioniert haben, denn sonst wären sie ja mehr gefahren worden - den Porsche hat man ja auch nicht nur, um ihn in der Garage zu verstecken, sondern doch eher, um damit z. B. die hiesige Leopoldstraße auf und ab zu fahren ...), insofern haben diese Änderungen dann eben durchaus etwas mit dem Katalogzustand zu tun, nur eben in einer vom Hersteller nicht vorhergesehenen bzw. nicht intendierten Weise ...
Insofern könnte man Deine Frage "Was geht es mich an [...] So oder ähnlich war es in vielen Fällen, und ich sehe nicht was da erhaltenswert dran wäre." mit gleicher Berechtigung auch anders herum stellen - warum sollte man überhaupt ein industrielles Produkt restaurieren bzw. auf den Katalogzustand zurückbauen, wenn es offenbar in genau dieser Ausführung nicht funktioniert hat, bzw. den Bedürfnissen seiner ursprünglichen Nutzer letztlich nicht entsprochen hat ? Das kommt mir nun wieder eher seltsam vor ...
Dieses Zurückführen auf einen (oft nur vermeintlichen, da historisch vielfach so gar nicht realisierten) Katalogzustand ist daher für mich oft eher ein Versuch, sich die Geschichte eines - in der Regel positiv interpretierten - Gegenstandes idealtypisch zurechtzubasteln, so, wie man sie gerne haben würde, nicht, wie sie wirklich war. Das ist natürlich wiederum nicht "verboten", oder auch nicht von vornherein unbedingt abzulehnen, aber es hat eben mit der vergangenen Wirklichkeit oft nur wenig zu tun.
Und es erinnert mich so ein bißchen an die Art und Weise, wie das 19. Jahrhundert mit der Vergangenheit umgegangen ist - zwar wurden ab etwa 1800 geschichtliche "Altertümer" überhaupt erst wieder wertgeschätzt und deswegen vor der Vernichtung gerettet, aber andererseits ging man dann relativ bald dazu über, die erhaltenen originalen Zeitzeugnisse im Sinne einer zeitgenössischen Idealvorstellung zu "korrigieren" und zu "verbessern", in dem man die "Fehler" der Baumeister der Vergangenheit beseitigte und bei den Bauwerken immer nach der "idealen Romanik" und der "idealen Gotik" strebte, auch, wenn das hieß, die unzweifelhaft originale Bausubstanz zu zerstören und zu entfernen. Alles, was später dazu gekommen war, musste natürlich sowieso weichen, auch, wenn es über Jahrhunderte hinweg den tatsächlichen erlebbaren Zustand dargestellt hatte - barocke Ausstattungen in gotischen Kirchen gingen gar nicht, also wurde vielfach aller "barocke Kram" herausgerissen, und eine "perfekte" Gotik hingestellt (bei der man heute sofort "...ah, das ist aus dem 19. Jahrhundert - schade eigentlich ..." denkt), oder es blieb eben kahl. In jedem Fall wurde damit ein Zustand erreicht, der weder dem (in der Regel im Detail nicht bekannten) gotischen, noch irgend einem späteren historischen Zustand entsprach - übrig blieb das, was man im 19. Jahrhundert schön und richtig fand, aber eben auch nur genau das, und das ist aus heutiger Sicht in der Regel nicht so sonderlich spannend ...
Heute sehen wir so etwas doch zu Recht eher kritisch (z. B. auch, dass der werte Herr Schliemann bedenkenlos und völlig undokumentiert sieben historische Bauzustände von Troja zerstörte, um an das "einzig wahre" und "ursprüngliche" Troja zu gelangen, und natürlich auch, um den Schatz des Priamos zu finden ...) und gehen mit den Dingen zum Glück inzwischen anders um, gerade auch in Bezug auf die früher (und dieses "früher" ist noch gar nicht so lange her - die Alltagsgeschichte wird erst seit wenigen Jahrzehnten in der akademischen Zunft ernst genommen, dokumentiert und beforscht ...) verachteten und ignorierten Alltagsgegenstände, zumal die aus Massenproduktion, die eine Bedeutung (wenn überhaupt) wirklich alleine durch ihre Nutzungsgeschichte und die entsprechenden konkreten Spuren am Objekt bekommen. Ansonsten - ohne den eigentlichen historischen Bezugsrahmen - ist es halt irgendwelches "alte Zeug", das nur zu dekorativen Zwecken taugt, aber - egal in welchem Zustand, ob nun verbraucht/verrostet oder "auf Neuwert" restauriert - keinerlei relevante historische Aussage zuläßt, außer: O. k., so etwas hat es also (auch) mal irgendwann und irgendwo gegeben.
Und das ist nun nicht bloß meine individuelle Meinung, wie die inzwischen geradezu radikal verwandelte Auffassung in Bezug auf die Patina bei alten Autos und Motorrädern zeigt (ich treibe mich seit 1987 in der "motorisierten" Oldtimer-Szene herum) - inzwischen übertreffen unrestaurierte Fahrzeuge mit sichtbaren Alterungs- und Gebrauchsspuren bei den Auktionsergebnissen die auf Hochglanz und "Besser-als-neu"-Zustand restaurierten Fahrzeuge deutlich, eben gerade weil da in den vergangenen Jahrzehnten so viel totrestauriert worden ist und die Oldtimerszene vielfach von hochglänzenden Vehikeln dominiert wird, die nur eben leider wenig historische Ausstrahlung haben (... und ja, das bemerken/begreifen durchaus auch Laien, die der entsprechenden Szene fernstehen). Den unrestaurierten bzw. nicht "verbesserten" originalen Erhaltungszustand gibt es halt nur einmal ...
Ich glaube, dass es wirklich so ist, dass letztlich (und langfristig) nur die tatsächliche, also die erlebte und "erfahrene" Geschichte interessant ist - wenn man die ignoriert, erzeugt man halt eigene Interpretationen (selbst, wenn man sich genau an einen bekannten Katalogzustand hält), und damit "Kunstobjekte" (in jeder Hinsicht), die zwar durchaus ihren eigenen Wert haben können, aber doch nur eine relativ begrenzte historische Aussage tragen, nämlich die, wie wir uns aus heutiger Sicht die damalige Vergangenheit vorstellen (oder wie wir sie eben gerne hätten), und ob diese spezielle Aussage jemanden in z. B. 50 Jahren noch interessieren wird, möchte ich mal eher bezweifeln - ganz im Gegensatz zum original erhaltenen "echt alten" Objekt ...
Diese Bemerkungen sollen aber selbstverständlich niemanden daran hindern, mit seinen Fahrrädern grundsätzlich nach Belieben umzugehen - ich tue das auch, allerdings in der Regel eher nur bei Rädern, bei denen sich die Frage nach einer Rekonstruktion des Katalogzustandes einfach nicht (mehr) stellt.