AW: Gibt´s noch Hersteller von gemufften Stahlrennern?
Einen vollkommen unwesentlichen bedeutungslosen Punkt haste übersehen: Was der Markt anbietet.
Wie könnte ich das übersehen bei all den Fürchterlichkeiten für die Plastikbomberfraktion - schluchz!!! Geschmacklosigkeit wird ja geradezu massiv gezüchtet. Wie käme es sonst zu all den rollenden Litfaßsäulen und den ganzen Schrecklichkeiten im Zubehörmarkt drummerum? Hübsche, stilvolle Teile musst Du ja mit Lupe und Pinzette suchen! Schau Dir doch mal allein die Entgleisungen in Sachen Lackierung an. Beispiel Colnago. Erst fing Ernesto an, die Rohre völlig sinnfrei zu zerdetschen - nur um irgendwie anders zu sein und besser zu verkaufen. (Dass es physikalisch keinen Sinn macht, Rohre zu zerknautschen, ist ja mittlerweile vielfach nachgewiesen). Aber dann ging es weiter mit Vielfarbenlackierungen und gipfelte schließlich darin, dass jede freie Fläche am Rahmen vollgepflastert wurde und Ernesto es toll fand, sogar Spinnenweben aufzulackieren. Lackierte Spinnenweben auf dem Rahmen? Ja geht's noch? (Dass er inzwischen so zweifelhafte Sachen macht wie in der Ukraine rumkriechen, um da das brüchige Russentitan einzukaufen oder Rahmen in Taiwan herstellen lässt und dann sein Label draufpappt, will ich hier nicht einmal bewerten).
Aber ich würde gerne einige wesentliche Bemerkungen zu meiner speziellen Philosophie anbringen, weil ich den Eindruck habe, dass gerade hier in unserem Thread einige (nicht-schreibende) Foris mitlesen, die noch am Überlegen und dankbar sind für die eine oder andere Anregung.
Soweit ich sehe, gibt es 2 Hauptströmungen: den Massenmainstream, der auf den "Neuerungen" basiert, die der Markt Jahr für Jahr ausspuckt, und ohne die der deutsche Michel auf gar keinen Fall auf die Trainingsstrecke gehen kann. Dass etwa 95 % der Leute mit ihren statistisch nachgewiesenen 4-5.000 km Jahresleistung mit einem besseren Klapprad (Scherz!!!) bestens und ausreichend ausgestattet wären, steht auf einem anderen Blatt. Andererseits finanziert diese Gruppe die Kosten der Neuentwicklungen MIT (Hauptteil der Finanzierung stammt natürlich aus dem Massenmarkt der Billiggruppen).
Die andere "Strömung" ist die ständig wachsende Retrowelle, deren Vertreter sich mit allem Recht der Welt der wunderschönen, eleganten Edelrenner erinnern, die den Radsport berühmt gemacht haben und untrennbar mit unseren Heroes wie Coppi, Merckx und den vielen anderen großartigen Persönlichkeiten verbunden sind. Und ich vermute, dass bei dieser Gruppe, die sich der Pflege dieser wunderbaren Maschinen verschrieben haben, ein Gen eine große Rolle spielt, das ich bei mir (leider) vermisse: das Sammler-Gen (falls es so etwas im engeren biologischen Sinn überhaupt gibt - im soziologischen Sinne schon!). Schaut Euch doch nur mal die Leckerbissen der Autoren hier in diesem Thread an - wen das nicht mitten ins Herz trifft, der hat keins!
Nun zu meiner speziellen Variante: Ich stelle bei mir zwei dominierende Impulse fest. Der eine ist das Herztuckern, wenn mir auf der Straße einer dieser fantastischen Oldtimer begegnet - die Schönheit und Faszination, die von diesen Rennern nun einmal ausgeht. Andererseits liebe ich es, Technik zu bedienen, die leicht, unhörbar und problemlos funktioniert. Also moderne Technik. So schön die alten Record-Gruppen waren - das Rasseln der Schaltung, die zahllosen verbogenen Umwerfer und die nicht ziehenden
Bremsen werde ich auch niemals vergessen. Und ich erinnere mich, dass die Leistungsfahrer, die ich kannte, oft ihre Campa-Schaltungen abgebaut und durch eine
Shimano-Schaltung ersetzt haben, weil die Campas sich unter Voll-Last am Berg einfach verbogen haben.
Und das macht die Wahl zu einem Eiertanz. Wenn man unbedingt einen dieser schönen Stahlrahmen fahren will, ohne erst einen alten Rahmen zu ersteigern und mühsam zu restaurieren und wenn man wie ich auch die neuen Stähle schätzt, wird man bei etlichen der führenden Hersteller auch heute noch, d.h. mit neuen Rahmen fündig. Immerhin hat das ja den Vorteil, dass man - so wie die Plastikbomber-Fahrer auch - einen Rahmen bekommt, der eine moderne Geometrie besitzt und sich mit den modernsten Materialien und dem nur unwesentlich höheren Gewicht auch wie ein moderner Rahmen fährt. Wenn man sich einen alten Rahmen wie meinen Battaglin kauft, muss man wissen, dass der natürlich nicht aus modernem Hochleistungsstahl gebaut ist und mal eben über ein Kilo mehr wiegt als ein neuer! Und bei meiner Größe (RH 60 cm) gibt es noch ein spezielles Problem: Die alten Rahmen bestanden allermeist aus "standard tubing", also Rohren mit den Maßen 1 Zoll / 1 Zoll / 1 1-8 Zoll, die für mich einfach zu weich waren. Heutige Rahmen werden, soweit ich sehe, fast ausschließlich aus "oversized" Rohren gefertigt, also mit 1 1-8 Zoll / 1 1-8 Zoll / 1 1-4 Zoll, was sie erheblich steifer und trittfester macht.
Wenn ich nun den Aufbau plane, wird es schwierig: schwarze Plastikteile und Ahead-Vorbauten passen nun mal nicht an einen eleganten gemufften Stahlrenner und da kommt man, wenn man wirklich vorurteilsfrei vergleicht und entscheidet, fast zwangsläufig zu
Shimano und der wunderschönen, der Record-C nachempfundenen Dura Ace. Gut - wer die flächigen Kettenblätter nicht mag, baut die hübschen Zephyrs an. Aber alles andere passt. Und die anderen Komponenten findet man ja mit ein bißchen Sucherei als Neuteile auch. Die monströsen STI's mit den hängenden Strippen verbieten sich an einem filigranen Stahlrahmen von selbst - da gehören nun wirklich nur Rahmenschalter oder bestenfalls indexierte Bar Ends ran, die sich sehr gut bedienen lassen, ohne die Hände vom Lenker zu nehmen - fast schon modern.
Am Ende steht dann eine Maschine, die den klassischen Merkmalen folgt. Die natürlich (wie in meinem Fall) den besonderen Charme des "echt alten" vermissen lässt, die sich aber andererseits auf der Trainingsstrecke hervorragend bewährt, die ich jahrein-jahraus viele Tausend Kilometer quälen kann und die nicht einmal Nachteile gegenüber dem modernen Zeug aufweist (mein De Rosa wiegt mit 60er RH 8.8 kg). Das halte ich für einen wahrhaft goldenen Schnitt.
Klar, dass man bei diesem schwierigen Eiertanz stilistisch auch mal danebengreift - ist ja auch nicht ganz einfach, da es die perfekte Lösung eben nicht gibt. Jeder Aufbau ist von Kompromissen begleitet, die man eingehen MUSS, weil der Markt es nicht anders bietet! Aber wenn man dann ein Foto hier ins Album stellt, werden einem das die vielen Kollegen schon verklickern und Gegenvorschläge machen, aus denen man weiterlernen kann. Auf das Standardgeplärre der betriebsblinden "CAMPA ODER STIRB"-Schwachköpfe muss man ja nicht eingehen. Es gibt genug stilsichere, erfahrene und vor allem tolerante Kameraden hier im Forum - selbstverständlich auch unter denen, die sich für Campa entschieden haben (da bin ich wiederum absolut vorurteilsfrei!) - die auf nicht-bösartige Art mit ihren Kenntnissen weiterhelfen. (Dafür übrigens auch ein herzliches Danke sehr!!!). Und ich gebe gerne zu: die älteren Campa-Gruppen sahen einzigartig aus! Bin ich ja selbst lange gefahren - nur mit dem neuen Zeug habe ich Probleme!
P.S. Wahrlich absolut und garnix gegen Eure bildhübschen Nagos - Bonanzero + Horst! Da waren die Rohre ja noch rund und hübsch, sozusagen in der prä-zerdetschigen Ära! Eine Farbe - Schriftzug drauf und gut iss. So wie's soll.
P.P.S. Man muss aber betonen: Modern gibt's auch in schön, wenn man gründlich sucht - z.B. das Scapin weiter oben in fillet gebrezeltem Stahl. Oder in Titan (Dein Moots ist einfach ein Gesamtkunstwerk, Martin!!!)