Ich startete einen neuen Versuch, in dem ich dem Amerikaner möglichst neutral die Wiederankunft seines Vorgängers und die damit verbundenen Aufregungen schilderte. Und auch wenn er sich aktuell in einem deutlich mitgenommenen Zustand befinde, seien sich beide doch möglicherweise ähnlicher, als es auf den ersten Blick scheine. Daraus resultieren eine Reihe von Unsicherheiten hinsichtlich Indentität, Wartung, Pflege, Aufmerksamkeit und Ausfahrtmöglichkeiten. Von Unterkunft und dem sowohl standesgemäßen als auch zugesicherten Freiraum innerhalb der Lagerstätten ganz zu schweigen. Anschließend wollte ich noch kurz den wirtschaftlichen Impact anreißen, aber so weit kam ich gar nicht mehr.
Aus dem obersten Regalboden oben links hörte ich ein feindseliges Zischeln: "
Ist doch ganz einfach! Der Scheiß Ami muss weg. Wir Italiener haben die älteren Rechte!". Das war der vor Jahren ausgebaute und nun nur noch aus sentimentalen Gründen eingelagerte Colnago Steuersatz. Kugelförmig und eher unhübsch proportioniert wie er war, waren wohl die eigenen Verlustängste der Ursprung seiner voreiligen Fürsprache. Er witterte eine Duplizität der Ereignisse. Sofort durchschoss mich der Schmerz des schlechten Gewissens aus der Erinnerung. Hatte nicht ich ihn als erste Aktion gegen einen smoothen, schlanken und frischen Chris King ausgetauscht?
"Recht hat er!" und "Genau. Nur so geht das." und "Hört, Hört!" sowie ein "Ami Go Home!" aus den unterschiedlichen Ecken meines Montage- und Wartungszentrums. Ich hatte den Werkstattraum immer begriffen als sicheres Refugium vor dem Unbill der kalten und grausamen Welt draußen. Ein Rückzugsort vor den unverständigen Rad-Ignoranten. Ein Eldorado von Gleichgesinnten. Ruhezone nach Konflikten in der Familie. Und jetzt sowas!
Gleichzeitig mit diesem Rumoren setzten sich einzelnen Regalbereiche in Bewegung. Offensichtlich hatten die Radteile den Tag dazu genutzt, im Vorfeld gemeinsame Interessen auszuloten und Koalitionen zu bilden. Das alles in einem beeindruckendem Tempo. Ich sag ja immer: Man sollte Rennräder nie in ihrer Geschwindigkeit unterschätzen.
Generationen von 3T Schaftvorbauten formierten sich in einer Phalanx vor den Campa Ersatzteilkisten.
Der Ultra-Torque Schlüssel und Kassettenabzabzieher rutschen von ihrer Werkzeugwand und flankierten in einer fast agressiven Choreographie die Außenflügel. Erstaunlich schnell bewegte sich die Menge in Richtung der Rennräder, wo sie von Ugo und Ernesto offenbar schon erwartet wurden. Ich meinte sogar, einige von ihnen den Triumphmarsch aus Aida summen zu hören. Oder war's Carmen? Nein, Aida!
Eh ich mich versah, bildeten die Italiener eine Schutzwand um den (seiner Laufräder und seines Antriebs beraubten) bewegungsunfähigen und derangierten Paduano. Stilsicher und kulturbeflissen sind sie ja, dachte ich, die Italiener. Sogar der 72er Benetto in Tricolore Lackierung humpelte auf müden Schlauchreifen herbei, offensichtlich aber weniger, um als erfahrener Haudegen mitmischen zu wollen als vielmehr die aus seiner Sicht halbwüchsigen Jungspunde moralisch zu unterstützen.
Erst jetzt sah ich, dass die Formation kein Tryptichon darstellt, wie ich zuerst zu erkennen meinte, sondern - mangels Masse an Devotionalien - zwar nur reduziert, aber deutlich memorabel den Aufbau in der Kapelle Madonna del Ghisallo imitierte. Meine anfängliche Bewunderung schlug in Ehrfurcht um.
Fehlte nur noch, dass sie an die Madonna als Schutzherrin der Radfahrer beteten. Das würde ich ihnen jetzt auch noch zutrauen. Nur am Rande waberte mein Geist zu den theologischen Abhängigkeiten: Sind italienische Gebete an eine katholische Schutzheilige in einem durch und durch protestantisch bildungsbürgerlichen, deutschen Haushalt überhaupt wirksam?
Auf der anderen Seite ließ die Antwort nicht lange auf sich warten.
Zwei, drei Salsa-Teile sammelten sich und holten ein paar Ritchey Lenker zur Hilfe. Sogar ein Bontrager war dabei. Die Rolf Räder hatten es offensichtlich nicht rechtzeitig geschafft, sich aus den Laufradtaschen zu befreien. Klar, die sind ja auch von Campa
Der Woodchipper - ich hatte ihn als letztes ausgebaut und in der Zwischenzeit noch nicht wieder ordentlich verpackt - verhedderte sich in Resten von Schalt- und Bremszügen, kam dann frei, strauchelte kurz, gewann schließlich festen Boden unter den Füßen und konnte sich mit Hilfe des kräftigen Thomson Vorbaus aufrichten. Er positionierte sich in erster Reihe noch vor dem Lynskey, breitete seine gewaltigen Arme aus und tänzelte boxergleich vor den rot-weiß-grünen Linien auf und ab: "Na komm doch, du armseliger Rocky Verschnitt. Du Italian stallion. Abgehalftertes Spaghetti Geröhr! Ich zeig Dir, wo der Hammer hängt! Ich geb dir den Rest!". Lynskey wurde von Sekunde zu Sekunde größer und glänzte vor Stolz.
Soviel zum Thema "konfliktfrei", "repressionsfreier Diskurs", "Verhandlungen auf Augenhöhe" und "harmonisches Miteinander in der Herde". Das ist ja mal gründlich daneben gegangen.
Die beiden fälschlicherweise "Engländer" genannten Rollgabelschlüssel der Werkzeugwand verbündeten sich wider besseres Wissen rasch mit 753er Raleigh/Reynolds aus Ilkeston, aber die Briten wussten so gar nicht recht, wohin sie sich wenden sollten und waren viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Englische Kleinteile sind offenbar Mangelware und der auch bei mir weit verbreitete britische Innenlagergewinde-Standard BSA war wegen Unsichtbarkeit keine Hilfe.
Ein paar zur Reinigung bereitliegende
Shimano XT Komponenten erwachten, schüttelten grob ihren Dreck ab und wollten mitreden, waren aber indifferent hinsichtlich der entstehenden Lager und Konföderationen.
Namenlose China-Teile versuchten sich zu formieren, erstarrten aber letzendlich in Rat- und Tatenlosigkeit.
Ausgemusterte Laufräder witterten ihre Chance und riefen: "Genau! Jetzt werden hier mal andere Speichen aufgezogen"!
Der Starrgang-Stahlrenner erwachte von dem Krach aus seinem Schlummerdasein in hinterster Reihe und solidarisiert sich sofort: "Wer rastet, der rostet! Seht mich an!"
Die gesammelten Edelstahl- und Titanschrauben erwiderten: "Halt die Klappe. Du weiß gar nicht, worum es geht. Die beiden Jungs da können gar nicht rosten. Die sind aus ganz anderem Holz geschnitzt als du."
Das war offensichtlich das Stichwort für die bisher ruhig gebliebenene Holzvorräte in der Werkstatt, in diesem Augenblick der Entscheidung nicht tatenlos zu bleiben. Die Ahorndielen drehten sich stumm zur Seite und wiesen auf ihr Siegel der kanadische Herkunft und damit Nähe zum Amerikaner hin.
Der Nussbaum erwiderte unverzüglich, dass Dichte, Farbe und Maserung der US-Hölzer weit, ganz weit unter der europäischen, und das heißt natürlich weit unter der besten, der französischen Qualität liege. Netter Versuch vom Franzosen, Europaweit zu denken, aber letztlich fokussiert er doch wieder nur die eigenen Probleme im Land.
Ein Cinelli-Decalset konnte sich aus der Schublade befreien und will sich gerade pioniergleich auf das blanke Unterrohr des Amerikaners kleben. Dabei skandiert es immer wieder den meistgesprochenen Satz in der Werkstatt: "Das ist egal. Haupsache es sieht gut aus!"
Jetzt klingelt's auch bei den echten Altmetall-Resten. Für den Recyclinghof vorsortiert schöpfen sie neue Hoffnung und flehen: "Behalt uns! Aus uns kann man noch was Schönes bauen!"
Ein unglaubliches Durcheinander und babylonisches Sprachengewirr. Eigentlich freue ich mich auch ein bisschen: Endlich mal Leben in der Bude.
Aber die Werkstatt drohte zu bersten. Und ein bisschen Angst hatte ich schon.
Ich brauchte Hilfe. Unterstützung. Einen Schlichter.
Ich ging nach nebenan zum Weinregal und fand einen ganz hervorragenden 2006er Merlot aus dem Tessin.
Qua seiner eidgenössischen Provinienz war er zur Neutralität verpflichtet und für diesen Job wie gemacht. Ich setzte ihn als Vermittler ein und kehrte zurück.