Gestern:
"Ich nehme den Renner", sagte ich am Morgen zu Frau Leone. Als sie mich etwas schief anguckt, erkläre ich es ihr. Es ist zu warm für Spikes und ich bin zu bequem, um den Laufradsatz für nur einen Tag zu wechseln. Die nächsten Tage sollen nämlich wieder kalt werden. Und nach dem heutigen nassen Tag hätte ich dann wahrscheinlich wieder lieber Spikes am Rad. Das leuchtet ihr durchaus ein. "Fahr vorsichtig", sagt sie wie jeden Morgen, wenn ich mich auf den Weg mache.
Noch im Treppenhaus begegne ich Silvia. Sie kommt gerade aus dem ersten Stock die Treppe herunter. Da käme das schlechte Gewissen, meint sie zu mir, als sie mich erblickt. So von wegen Sport treiben. Ihr Hausarzt hat ihr noch im vergangenen Sommer stark ins Gewissen geredet und ihr aufgetragen, deutlich Gewicht zu verlieren. Dass für mich das Radfahren kein Sport ist, ist ihr ein wenig suspekt. Im Rahmen ihres Abnehmprojektes ist sie im Herbst einmal in der Woche mit dem Rad gemütlich hinten über die Felder gefahren. Eine halbe Stunde, wenn es hoch kommt. Das Radfahren kostet sie Überwindung. Und ich tue es einfach, ohne darüber nachzudenken. Das ist wahrscheinlich der entscheidende Unterschied. Los geht's!
Das Thermometer zeigt knapp über null. Feiner Regen von vorne. Ebenfalls von vorne kommt der nicht zu schwache Gegenwind. Okay, zugegeben: Genuß ist anders. Zumindest heute. Aber stünde ich jetzt plötzlich vor der Wahl, so würde ich trotzdem auf's Rad steigen. Genauso wie wenn Frau Leone mal wieder mit dem Auto bei mir bei der Arbeit vorbeischaut und sagt, wir könnten ja das Rad einfach in den Kofferraum legen und sie würde mich mit dem Auto mit nach Hause nehmen. Dann schießen mir erst wie wild Gedanken von links nach rechts und von rechts nach links durch den Kopf. Dann steht fest: Das geht nicht. Naja, natürlich ginge es irgendwie, aber wenn ich die Möglichkeit habe, mit dem Rad zu fahren, aber stattdessen im Bus und im Auto sitze, dann fühle ich mich dort nicht richtig aufgehoben. Und so eine One-Way-Fahrt fühlt sich irgendwie unvollkommen an. Vielleicht wisst Ihr, was ich damit meine.
Die Straße ist heute naß, aber schneefrei. Die dünne festgefahrene Schneeschicht von gestern ist über Nacht weggetaut. Also habe ich richtig spekuliert. Ich wähle die Genußstrecke über die kleinen Sträßchen mit wenig Verkehr. Langes Pedalieren ohne Anhalten zu müssen. Bald stellt sich in der dunkelgrauen Ungemütlichkeit um mich herum der meditative Zustand ein. Dann beobachte ich das Wolkenspiel oder entdecke in den Pfützen die Lichtspiegelungen und freue mich darüber. Die Lichtspiegelungen in den Tropfen auf meiner Brille dagegen nerven und sind lästig. Sie holen mich immer wieder in das feuchte Jetzt zurück.
Später lässt mich die Gewohnheit nach der langen seichten Steigung im Wald nach links abbiegen. Welch Überraschung! Hier schneidet sich auf einmal eine autobreite Fahrspur durch weiß und nassweiß. Auf der kleinen Anliegerstraße liegt Schnee. Die Straße wird wenig befahren, liegt im Schatten des Waldes und es wurde hier offensichtlich nicht geräumt. Da ist sie also wieder, die dünne Schneeschicht, die ich bereits im Gestern wähnte. Umdrehen und umfahren? Ach Quatsch! Vorsichtig teste ich an. Meine erste Fahrt mit dem Rennrad durch Schnee. Die dünnen
Reifen quetschen recht zuverlässig den nassen Schnee zur Seite. Klappt eigentlich ganz gut und wird nur auf einer kurzen Strecke sein, die ich dann mit deutlich reduzierter Geschwindigkeit fahren werde, denke ich mir. Ist ja auch eine Erfahrung wert.
Plötzlich ist sie da, die Asphaltkante am rechten Straßenrand. Unter der Schneeschicht hatte ich sie nicht erkennen können. Als ich merke, dass ich mit dem Hinterrad abgerutscht bin, versuche ich wieder in die Spur zu kommen. Und wieder mit beiden
Reifen zurück auf dem Asphaltbereich geht es auf einmal ganz schnell. Überrascht lande ich rasant seitlich auf Oberschenkel und Oberarm. Den Kopf kann ich abfangen. Ich bin mit beiden Füßen ausgeklickt. Das Rad ist nach rechts vorne weggerutscht. Das ging so schnell, dass ich den Augenblick, in dem mir die
Reifen weggerutscht sind, gar nicht bewusst wahrgenommen habe.
Gleich darauf stehe ich wieder. Hüfte, Schulter und Nacken sind in Ordnung. Auch das Rad hat bis auf ein etwas abgeschabtes
Lenkerband nichts abbekommen. Ich habe gerade meinen ersten echten Sturz mit dem Renner aus der Fahrt heraus erlebt. Wow! Auch das ist eine Erfahrung wert.
Fazit: Eigentlich spannend. Es hätte gar nicht besser laufen können, um das mal so zu erfahren. Sozusagen der ersten Sturz unter "Idealbedingungen". Langsame Fahrt, idealer Untergrund, bei dem ich gut eingepackt bin und wie geschmiert über den Boden gleitet. Keine Schürfungen. Und Rad, Jacke und Hose bleiben ohne Schaden. Und im Nachhinein bin ich erstaunt, dass mir der Sturz gar nicht so hoch vorgekommen ist. Irgendwie bin ich dankbar für diese Erfahrung auf der Schmierseifenteststrecke. Was bleibt? Ein Hämatom am Oberschenkel, das erst noch seine Farbpracht entwickeln wird. Mal sehen, ob ich Frau Leone, die immer in Sorge ist, dass mir etwas beim Radfahren passieren könnte, den blauen Fleck harmlos erklären kann.