Ergänzung 7.11.2021:
Der Inhalt des folgenden Beitrages wurde an anderer Stelle noch mal neu aufbereitet und erweitert, insbesondere sind einige Anlagen dazugekommen, Marktübersichten, Vergleichstest etc.
https://www.rennrad-news.de/forum/t...donneure-info-sammelfaden.177271/post-5136248
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Tourengruppe Gütersloh, Reiseradgruppe Gütersloh
Wer schon mal das Buch "ReiseRäder SuperTourer" von Ulrich Herzog in der Hand hatte, wird unter den Übersetzungsdiagrammen unweigerlich auf ein Beispiel mit der Überschrift "Tourengruppe Gütersloh" treffen und sich u.U. fragen, wer oder was das war. Weil Herzog offensichtlich der Einzige war, der diese Bezeichnung genutzt hat, kommt man auch bei Google nix weiter (Edit 25.04.2019: mittlerweile wohl, man landet hier
). Die übliche Bezeichung war Reiseradgruppe Gütersloh oder Radreisegruppe Gütersloh.
Für mich war ein Zufallsfund in einer
Privat PDF unter den Literaturnachweisen "der Durchbruch" um weiter zu kommen. Der zweiteilige Artikel "So entstand unser Reiserad" (unten in der PDF als Anlage) aus den "Radfahren" Jul/Aug und Sept/Okt Ausgaben 1984 ist die bei weitem ergiebigste Quelle überhaupt. Vielen Dank an Hinrich Bonin für die Überlassung des Artikels.
Ab 1979: Die Gruppe oder Teile davon kommen zusammen (Quelle: Artikel Radfahren, Anlage)
1983: Auf der Amsterdamer Radmesse stellt Gazelle den ersten Reiseradrahmen, basierend auf den Vorschlägen der Gruppe vor, Quelle:
hier (auch wenn es ein Nachbarforum ist, unbedingt mal reinschauen, auch weil der Rahmen zu sehen ist, und anschaulich geschildert wird, wie man sich damals ein Reiserad organisiert hat)
1984: Im Gazelle Prospekt taucht erstmals das Randonneurfiets auf. Releativ eindeutig ist das Produkt den Vorgaben der Gütersloher Gruppe zuzuordnen: Wenn man die Artikel in der Anlage gelesen hat, wirkt die Gazelle-Beschreibung wie in die Finger diktiert.
Wörtliche Übersetzung der Beschreibung im Prospekt:
„Speziell von Gazelle gemacht für super-lange-Strecken-Radfahrer mit viel Gepäck. Handgemachter Rahmen aus Reynolds 531 Rohren. Leicht durch Mangan-Molybdän Legierung, aber auch wohltuend „steifer“ Radstand 103-105 cm. Dadurch ist der Randonneur komfortabler als ein Rennrad. Mit Crossbremsen montiert auf speziellen Sockeln am Rahmen und an der Gabel. Sehr stabile ESGE oder Jim Blackburn Gepäckträger, montiert auf festen Sockeln an Rahmen und Gabel. Massive Gabelkrone (Micro-Fusion) und seitlich verstärkte Gabelscheiden“
07/1984 und 09/1984: Der o.g. Artikel erscheint in der „Radfahren“
10/1984: Auf der IFMA werden verschiedene Reiseräder präsentiert, die aber tlw. noch nicht in Serie sind, Quelle: Tour 02/1985, Anlage
ab 11/1984: Diverse Leserbriefe von Rahmenbauern und Fahrradhändlern als Reaktion auf den Artikel in der „Radfahren“ (in der Anlage)
Ab 1985: Serienreiseräder nach Vorstellung der Gruppe werden angeboten (Quelle: Tour 02/1985, Anlage. Marktüberblick Reiseräder in aktivRadfahren, 2/1991, S. 38: "Rufen wir uns noch einmal in Erinnerung: Die ersten Serien-Reiseräder, die auf den Markt kamen, entsprachen, wenn auch nicht in allen Punkten, so doch in der Ausrichtung, dem Lastenheft, das die Gütersloher Reiseradgruppe in RADFAHREN vor etlichen Jahren aufgestellt hatte." geschrieben von Michael Bollschweiler, heute Chefredakteur von "Radmarkt")
03/1985: Das erste Reiseradseminar findet statt. 100 Teilnehmer. Die Gruppe ist im ADFC Gütersloh organisiert. Unter deren Dach erfolgt die Veranstaltung. Infomappen zum Seminar werden vom ADFC Bielefeld bundesweit verschickt, mindestens bis 1987. Offensichtlich wird die Gruppe durch Michael Drape vertreten (Quelle:
hier), der auch hin und wieder Artikel für die Zeitschrift „Radfahren“ schreibt.
Ab 1986: Reiseradseminare unter dem Dach des ADFC fanden auch andernorts in Deutschland statt, mindestens in Frankfurt und Aachen (Quelle: ergoogelt, weiß aber nicht mehr wie)
Serienreiseräder klassischer Bauart deutscher Couleur gab es nur kurz.
1998 findet sich in einer Marktübersicht der Zeitschrift Aktiv Radfahren unter hunderten verschiedener Räder nur noch ein einziges klassisches Reiserad (von Maschall Frameworks) (Norwid war allerdings nicht vertreten).
Noch erwähnenswert:
@DerBergschreck Andreas Hollmann ist einer, der an diversen Stellen Aussagen/Informationen zum Thema hinterlassen hat, Usenet, diverse Foren (einfach mal googeln) von dem habe ich auch irgendwo die Aussage gelesen, dass ein "Reiserad" genau das sei, was die Gütersloher beschrieben haben und eben nicht irgendein Rad mit dem man eine Reise macht. Artikel für Radfahren hat auch mindestens einen geschrieben.
Wer sich für das Thema interessiert, dem sei das obige Buch von Ulrich Herzog ans Herz gelegt, in der ersten bis dritten Auflage (03/86, 04/87, 04/89), ggf. auch in der 4. vollständig überarbeiteten Auflage von 1992. Wenn auch die Gütersloher Reiseradgruppe fast nirgends genannt wird, decken sich die Empfehlungen grundsätzlich. Die Infomappe des ADFC Gütersloh dürfte auf jeden Fall eine der Quellen für das Buch gewesen sein. Falls jemand diese Mappe noch hat: ich hätte Interesse daran.
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Edit vom 25.04.2019
Obigen Text habe ich um einige Daten ergänzt.
Zwischenzeitlich habe ich auch die Radfahren und Tour Zeitschriften aus der Zeit selbst. Die entsprechenden Artikel, außerdem Leserbriefe und Folgeartikel aus der Zeit, habe ich nochmal eingescannt. Das und zwei Artikel aus der Pro Velo, die
Olaf Schultz eingescannt hat, sind in der Anlage zusammengefasst.
Persönliches Fazit: Anscheinend war das Thema Reiserad bis Anfang der 80er in Deutschland überhaupt nicht angekommen. Ich kann das nicht wirklich beurteilen, aber denke doch, dass vorher bereits ausländische Hersteller wie z.B. Peugeot, Motobecane, Raleigh, Bridgestone u.v.a. halbwegs vernünftige Serienreiseräder gebaut haben und hochwertige Reiseräder auch wohl zum Standardrepertoire der Rahmenbauer aus denselben Ländern gehörten. Demgegenüber behauptet der deutsche Rahmenbauer Mittendorf noch, er hätte 1974 das
weltweit erste Reiserad entwickelt. Eine solche Aussage kann man nur in die Welt setzen, wenn man das wirklich glaubt, oder man davon ausgeht, dass der Empfängerkreis es nicht besser weiß. Das scheint also der allgemeine Kenntnisstand in Deutschland Anfang der 80er gewesen zu sein.
Offenbar völlig frei von ausländischen, insbesondere deutlich älteren frz. Entwicklungen (Pitard, Herse etc.), kann dann eine Gruppe von 5 Privatleuten das Reiserad in Deutschland „neu erfinden“. Die gehen zu einem holländischen Fahrradproduzenten, der ihre Vorgaben in die Tat umsetzt und setzen damit zumindest einen kurzfristigen Fahrradtrend in Deutschland. Bemerkenswert.
Dass das Ergebnis (der Gazelle Rahmen) dann verblüffend ähnlich zu Reiserädern aus anderen Ländern aus der Zeit ist, kann eigentlich nicht verwundern. Die grundsätzlichen Anforderungen an Reiseräder sind/waren schließlich überall gleich. Auffällig ist, dass die Gepäckverteilung (hinten hoch, vorne tief, max. kleine Tasche am Lenker, ergo fehlender Frontträger) genau den Empfehlungen von Jim Blackburn entspricht, dessen Träger hoch gelobt werden. Kann auch nur Zufall sein.
Vogel Randonneur - Daniel Rebour Scans - Guylaine Kataloge