Mein Standpunkt ist ja immer, dass das "Moderne Rennrad" seit den 50/60ern (vielleicht auch schon seit den 40ern) "fertig" entwickelt ist. Seitdem ist alles wirklich Relevante fuer ernsthaftes Fahren vorhanden, die meisten Irrwege wurden gegangen, danach kamen nur noch kleine Verbesserungen.
Vielleicht etwas ueberspitzt, aber man beachte bitte, dass fuer keinen relevanten Baustein ein echter Prinzipwechsel stattgefunden hat. Das heutige Rennrad ist z.B. kein Liegerad mit Riementrieb, Nabenschaltung und hydraulischer Scheibenbremse.
Schaltung:
Mal ehrlich, ob 10 oder 33 Gaenge, das spielt im direkten Vergleich oder Wettkampf eine Rolle, erschliesst aber nicht wirklich neue Welten. Gerasterte Bremsschalthebel machen den attackierenden Rennfahrer oder mueden Randonneur gluecklich, aber man kommt ohne sie nicht viel schlechter vorwaerts. Ich empfinde dieses archaische und nahezu unveraenderte Prinzip einer Kettenschaltung mit Umwerfer vorn und kombiniertem Schaltwerk und Kettenspanner hinten an modernen Raedern immer ein bisschen so wie einen immer wieder neu angemalten Dinosaurier.
Bremsen:
Sind heute sicherlich deutlich besser, sind aber seit den 50/60ern auf jeden Fall ausreichend, auch fuer sportliches Fahren. Es steht erstmalig zur Debatte das Prinzip fuer den Profisport zu aendern - mit fuer mich zweifelhaftem Nutzen.
Gewicht:
Ein neues Material ist an sich noch kein Prinzipwechsel. Vielleicht bei Carbon aber schon, den anders als bei Alu ist der Konstruktions- und Herstellungsprozess gaenzlich anders, auch wenn die Form fast unveraendert blieb.
Auch wenn ein moderner Carbonrahmen mit Gabel nur etwa die Haelfte eines guten, alten Stahlrahmens wiegt - man schaue sich ein franz. Konstrukteursrad an, das es mit Licht und Blechen (ohne
Reifen, dafuer mit Pedalen) auf unter 7kg brachte. Moeglich war es schon, letztlich erscheint die Innovation beim Radgewicht groesser als sie ist, wenn man mal das gesamtgewicht betrachtet.
Ich meine, gemessen daran, wie wahnsinnig viel hier passiert ist, ist am Ende fuer den Fahrer relativ wenig rausgekommen.
Fahrdynamik/Geo/Komfort:
Alles Wesentliche war bekannt und gefunden und es gab damals schon Kontrukteure und Rahmenbauer, die Raeder bauten, die an Praezision, Performance und Rueckmeldung keinen Wunsch offen liessen. Moderne Raeder fahren sich meist ganz anders als alte. Das hat aber auch mit Laufraedern,
Reifen, anderer Ueberhoehung und natuerlich auch mit anderen Steifigkeiten zu tun. Ob dieses "Anders" auch in Summe besser ist kommt auch auf den Anwendungsfall an.
Laufraeder/
Reifen:
Bei Laufraedern und
Reifen sehe ich pers. die groessten Fortschritte. Speichenbrueche sind seltener geworden, es gibt eine viel groessere und breitere Auswahl an
Felgen in verschiedenen Formen und Materialien. Eine leicht profilierte Felge mit 36 DD Speichen ist selbst im Cross nahezu unzerstoerbar und trotzdem nicht sackschwer und uebel teuer und in Richtung leichter/aerodynamischer ist da viiiel Luft und es bleibt trotzdem haltbar.
Ebenso gibt es eine grosse Auswahl an performanten UND haltbaren
Reifen (da ging frueher fast nur "entweder/oder"). Genauso beeindruckend finde ich es, was mancher vergleichsweise schmale
Reifen heutzutage bei Naesse leistet. Sowas kannte ich frueher nicht (vielleicht gab's das ja trotzdem?!).
Sie sind immer noch rund, es ist immer noch (mit wenigen Ausnahmen) das Zugspeichenradprinzip und
Reifen sind aus Gummi und Gewebe und mit Luft gefuellt. Ob Tubolar oder Clincher oder Tubeless ....
Am Ende bleiben ein Haufen Verbesserungen im Detail (die man insgesamt auch merkt). Es schaltet schneller und einfacher, bremst besser und leichter auch das Aheadprinzip und eine Sattelklemmschelle finde ich gut. Das ist toll, aber fuer 50 oder mehr Jahre Weiterentwicklung eigentlich echt mager, oder? Haette Hilde mit dem neuen Rad bei PBP oder P-R wirklich
deutlich bessere Chancen?
Das Fahrrad selbst ist wirklich ein Fazinosum - ein Jahrhundertentwurf.
Eine komplexe Maschine (fuer ihren Entstehungszeitpunkt), die sich fast aller wichtigen, mechanischen Erfindungen bedient und seit vielen Jahrzehnten im Prinzip unveraendert im taeglichen Gebrauch von Jung und Alt befindlich ist. Da faellt mir spontan nicht viel Anderes dieser Art ein.
Am coolsten ist sicherlich immer noch der Antrieb. Offen, dreckig, grob, mit primitiven Mitteln reparierbar - wie direkt aus dem 19. Jahrhundert. Man stelle sich vor, jemand wolle heute ein Kuechengeraet mit so einem Antrieb anbieten. Am Arbeitsplatz wuerde so etwas sofort wegen Gefahr eingekaefigt. Aber am Rad pappen wir ein duennes Plastikschildchen (Kettenschutz) drueber und zeigen 4-Jaehrigen, wie man es benutzt ;-)