AW: Warum wird Doping als "das absolute Sporverbrechen" wahrgenommen?
Aha. Der Spitzensportler ist also ein Ausbund an Charakter, Willensstärke, Disziplin. Konsequenz und Überlegung, mit der er sich über lange Jahre im Geschäft etabliert. Dann aber plötzlich ein völlig willen- und hilfoses Opfer der Gesellschaft (vor allem der bösen bösen Medien), wenns ums Doping geht. Das paßt ja nicht so ganz hunderprozentig zusammen...
Doch das tut es. Der Leistungssportler ist ein Ausbund an Willensstärke, Disziplin, Konsequenz und Überlegung, wenn es um seinen Sport geht, wobei das auch noch sehr von der Disziplin abhängt. Ein Tennisspieler ist sicher mehr selbstständiger und selbstbestimmter Unternehmer als ein Ringer oder Gewichtheber, die ohne einen Verein mit entsprechendem Angebot gar nicht aktiv sein können.
Charakter ist beim Leistungsportler natürlich auch vorhanden, eben die angeborenen und in der Jugend angenommenen Züge, aber dort wo andere ihren Platz in der Gesellschaft finden, finden Leistungssportler ihn in ihrem Sport. Es findet also im Grunde genommen keine normale Sozialisation statt, bei der eine Charakterbildung nach gesellschaftlichen Maßstäben erfolgt. Wo auch, zwischen Trainingshalle und Physio? Die Freunde kommen ebenfalls aus dem Sportumfeld, sind die Trainingspartner, Trainer und/oder Eltern, weil der Sportler zeit- und interessenbedingt kaum Zeit mit nichtsportelnden Menschen verbringt, nicht in Discos geht oder kaum anderen Aktivitäten frönt.
Allerdings ist er kein Opfer seines Umfelds, eher eine Art Gejagter, der versucht das beste aus seiner Situation zu machen (das für ihn richtige).
Eine Rolle spielt dabei sicherlich auch der Hintergrund. Oft finanzieren Eltern eine Karriere "vor", mit der Hoffnung auf ein Return on Investment. Manche verschulden sich dafür sogar, Manager und Sponsoren haben Geld investiert und verlangen Erfolge. Der Erfolgsdruck auf den heranwachsenden Sportler kann sich also vielfältig motiviert gestalten.
Das Hauptding ist jedoch die wachsende Unsicherheit, die Frage "dopen meine Gegner oder nicht", wird zu einem ständig zwickendem Stachel unterm Pelz. Wenn das Umfeld, dem man vertraut, einem dann glaubhaft versichert, das die Gegner deshalb schneller, besser oder fitter sind, wird man noch unsicherer und beginnt abzuwägen: Nutzen vs. Risiko. Das Risiko erwischt zu werden, ist selbst im Radsport relativ klein, "wenn man es richtig macht". (laut Bernhard Kohl oder Thomas Frei)
Und der Sportler hat dabei eigentlich wieder nur sein Umfeld, das er zur Entscheidungsfindung hinzuziehen kann, manchmal noch nicht einmal seine Familie, weil dieses Thema keines sein darf. Dann lernt er sich mit dem Thema zu arrangieren. Die Sportler haben schon seit Jahren verharmlosende Namen für ihre Dopingpraktiken.
Und damit kommen wir zur nächsten Phase:
Auch wenn die dopingfördenden Strukturen im (Rad)sport eine nicht zu übersehende Tatsache sind - die letzte Entscheidung trifft immer der Sportler. Er hat entsprechend auch die Verantwortung für sein Verhalten zu tragen, da beißt die Maus kein Faden ab. Und dass man bei der Entscheidung immer auch eine Alternative hat, haben Leute wie Kimmage oder Bassons ja zur Genüge bewiesen.
Und damit hast du Recht. Auch ein Fignon, laut seinem Buch auch kein Kind von Traurigkeit, machte bei EPO Schluß. Aber es sind gemessen an dem anzunehmenden Dopingwahnsinn, der da draußen stattfindet, doch nur wenige, die diese Kurve kriegen und die richtige Entscheidung treffen. Andererseits stehen an jeder Ecke die Riccos und Kohls in den Startlöchern...