Eigentlich lag es ja zum 100jährigen der Tour auf dem Nachttisch; die abzutragenden&aufzulesenden Stapel darüber haben mich aber erst jetzt dazu kommen lassen, diesen Klassiker einmal genauer zu durchmustern:
Albert Londres, Die Strafgefangenen der Landstraße. Reportagen von der Tour de France, Bielefeld: Covadonga Verlag 2011.
Londres ist einer der legendären Reporter des frühen 20. Jahrhunderts; seine steile Karriere ist spätestens nach einer aufsehenerregenden Reportage über das skandalöse Bombardement der Kathedrale von Reims (1914) nicht mehr aufzuhalten. Nach einer europaweiten Tätigkeit als Kriegsreporter berichtet er in der Folge aus der ganzen Welt: Über die neue UdSSR und französische Straflager in Guayana, Terrorismus auf dem Balkan und über Palästina, usw. usf. Und eben auch über die Tour de France 1924, die er in Berichten für 'Le Petit Parisien' begleitet hat.
Bei aller journalistischen Lakonik seines Stils, und auch wenn die schier unvorstellbaren Etappenlängen und -dauern ja wohlbekannt sind, überrascht doch der genaue analytische Blick, mit dem Londres die ganzen Zwiespältigkeiten der geplagten Pedaleure festhält: diese im Wortsinn verrückte Melange aus Selbstqual und Heroismus, Ruhmesversprechen und Ausrüstungsmängel, Beeinträchtigungen durch Funktionäre, Witterungsverhältnisse – und nicht zuletzt durch die Begleitkarawanen von Journalisten und Radsportfanatikern, die oft genug auch in den 1920er Jahren schon an ungünstigsten Stellen mit dem Rennablauf kollidiert sind… Londres widmet ihr das bekannte Wortspiel von der 'tour de souffrance'.
Eindeutige Empfehlung also für Londres' Reportagen, ebenfalls eigentlich für das schön gemachte Bändchen – allerdings nur sehr bedingt für die genannte deutsche Übersetzung. Wer des Französischen halbwegs mächtig ist, wird mit den Originalen des "Petit Parisien" auf jeden Fall mehr Spaß haben (die Zeitung ist übrigens in der famosen Digitalisate-Sammlung der Bibliothèque Nationale ohne weiteres zugänglich:
http://gallica.bnf.fr/searchInPerio...=cb34419111x/date&lang=DE&p=1&f_pub_year=1924). Der Übersetzer, der auch ein ein (pardon!) dümmliches Vorwort beigesteuert hat, glaubt Londres knappe, präzise Prosa zu einer Art obskurem Zeitungsjargon (bzw. das, was er dafür hält) aufschwemmen zu müssen, und das beeinträchtigt das Lesevergnügen von Anfang bis Ende. Ein willkürliches Beispiel nur, gleich vom Beginn der Reportage. Londres schreibt: »Puis ils burent un dernier coup ; cela fait, ils se levèrent et voulurent sortir, mais la foule les porta en triomphe.« Der Übersetzer macht daraus: »Dann genehmigte sich die feuchtfröhliche Tafelrunde noch einen letzten Umtrunk. Als die Gesellschaft danach aufstand und aufbrechen wollte, trug eine Menschentraube sie, unerwartet, im Triumphzug auf den Schultern.«
Ingesamt also eine leider vertane Chance: mit einem zumindest rad- und sportgeschichtlich informierten Vorwort/Kommentar und einer halbwegs adäquaten Übersetzung hätte Londres' Reportage auch in deutscher Sprache das Zeug sowohl zum journalistischen Klassiker als auch zum uneingeschränkten Faszinationsspender für Alteisenbesessene. So hilft eigentlich nur der Rückgriff aufs Original.